Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht (Vergabesenat) - 54 Verg 3/22

Tenor

1) Der Beschluss der Vergabekammer Schleswig-Holstein vom 24. Mai 2022, Az. VK-SH 01/22, wird aufgehoben.

2) Das Vergabeverfahren wird in den Stand vor die Aufforderung der Teilnehmer des nichtoffenen Verfahrens zur Abgabe von Angeboten zurückversetzt. Der Antragsgegner wird - bei Fortbestehen der Beschaffungsabsicht - verpflichtet, das Vergabeverfahren unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats fortzusetzen.

3) Der Antragsgegner trägt die Kosten des Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer sowie die Kosten des Verfahrens der sofortigen Beschwerde und des Verfahrens nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB (Aktenzeichen 54 Verg 2/22) vor dem Senat.

Der Antragsgegner trägt ferner die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in dem Verfahren der sofortigen Beschwerde vor dem Senat und dem Verfahren nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB (54 Verg 2/22) vor dem Senat.

Im Übrigen tragen die Parteien ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

4) Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten auf Seiten der Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig.

5) Der Streitwert für das Verfahren der sofortigen Beschwerde und das Verfahren nach § 172 Abs. 1 Satz 3 GWB (Az. 54 Verg 2/22) wird auf jeweils bis zu € 185.000,00 festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsgegner betreibt die I. Süd für die Kreise S., H. und O. für den Rettungsdienst, Brand- und Katastrophenschutz (nachfolgend bezeichnet mit: I. Süd). Der Antragsgegner schloss mit der Stadt K., der Betreiberin der I. Mitte (nachfolgend gezeichnet mit: I. Mitte), unter dem 30. Juni/6. Juli 2021 eine Absichtserklärung (Anlage ASt. 8 zum Nachprüfungsantrag), in der es unter anderem wie folgt heißt:

2

㤠1 Vorbemerkung

3

Gemäß § 17 Schleswig-Holsteinisches Rettungsdienstgesetz (SHRDG) und § 6 (6) SHRDG-DVO ist die Annahme von Hilfeersuchen immer zu gewährleisten und ein unterbrechungsfreier Betrieb der Rettungsleitstellen bei Standortverlusten oder Überlasten sicherzustellen. In der Folge der gesetzlichen Regelungen vereinbaren die Parteien eine Absicht der Zusammenarbeit in technischer und taktischer Hinsicht, um die gegenseitige Redundanz zu erreichen.

4

(1) Mit dieser Vereinbarung wird noch keine Verpflichtung zum Abschluss eines Kooperationsvertrages begründet. Vielmehr haben die Parteien bis zur Unterzeichnung des entsprechenden Vertrages das Recht, jederzeit ohne Angabe von Gründen von den weiteren Verhandlungen Abstand zu nehmen.

5

§ 2 Gegenstand

6

(1) Beide Parteien verfolgen das Ziel, bis zum 31.12.2022 eine Vereinbarung zu schließen, welche eine Kooperation technischer und taktischer Art zum Gegenstand hat (Hauptvertrag). Durch die Zusammenarbeit bei der Leitstellen soll eine Ausfallsicherheit im Sinne des § 6 (6) SHRDG-DVO garantiert werden können, die die Parteien jeweils für ihre Leitstellen eigenständig nicht erreichen können. Unter anderem ist geplant, die Technik zu vereinheitlichen und die Server zu vernetzen...

7

(2) Sie sind bereit, die für den Vertragsschluss erforderlichen Vorleistungen nach Treu und Glauben zu erbringen und zur Erreichung des Vertragsabschlusses partnerschaftlich zusammenarbeiten...

8

(3) Beide Parteien haben die Absicht, soweit möglich, gleiche Technik (Einsatzleitsystem, Telekommunikationsanlage) zu beschaffen bzw. vorzuhalten, um eine spätere Vernetzung zu ermöglichen.
...“

9

Die Stadt K. hat in der I. Mitte zum Ende des Jahres 2018 als Funk- und Notrufabfragesystem (nachfolgend bezeichnet mit: FNAS) das System MECC (Multimedia Emergency Control Center) der Antragstellerin in Betrieb genommen, die das System auch wartet. Das FNAS bildet in einer Leitstelle die Schnittstelle zwischen dem Anwender und den elektronischen Kommunikationsmitteln und damit zu allen Kommunikationswegen. Es besteht im Wesentlichen aus der Systemtechnik zur Anschaltung von Kommunikationswegen sowie der Technik am Arbeitsplatz zur Bedienung dieser Kommunikationswege (vgl. Arbeitspapier der AG Technik des Fachbeirats des Fachverbandes Leitstellen e.V., Version 3.0: Die Leitstellen der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben als Bestandteil der Kritischen Infrastruktur, S. 20). Die Beigeladene setzt als Software des von ihr angebotenen FNAS das Programm ASGARD ein. Das MECC der Beschwerdeführerin und das ASGARD der Beigeladenen können - jedenfalls ohne Programmierung einer Schnittstelle für den Austausch zwischen den Programmen - nicht im Sinne eines Datenaustausches miteinander vernetzt werden. Einzelheiten hierzu sind streitig.

10

Der Antragsgegner schrieb mit auf der TED-Webseite am xx.xx.xxxx veröffentlichter Bekanntmachung (xxx) den Lieferauftrag „Neubau I., hier Leitstellentechnik“ unter der Nummer xxx aus. Gegenstand der Ausschreibung ist nach II.1.4) die „Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken und Ausrüstung der Stabsstelle“ in B.. In II. 2.4) wird die Beschaffung u. a. beschrieben mit:

11

Der Kreis S. beabsichtigt für die Kreise S., H. und O. den Neubau einer Integrierten I. (I.). Ausgeschrieben wird die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken und die Ausrüstung der Stabstelle für die I. ...

12

Gegenstand der Ausschreibung ist die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme eines Funk- und Notrufabfragesystems in der bestehenden I. Süd mit einer Inbetriebnahme bis spätestens Januar 2023 (Bauabschnitt 1), die Lieferung, Installation, funktionale Anbindung und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken für die georedundante Redundanzleitstelle in der I. Mitte in K. in 2023 (Bauabschnitt 2) und für den Neubau der I. Süd sowie die Ausrüstung der Stabsstelle des Kreises S. ab Q4/23 bzw. Q1/24 (Bauabschnitt 3).“

13

Nach Ziffer II.2.5) ist der Preis das Zuschlagskriterium. Gemäß II.2.9) sollen höchstens fünf Bewerber zur Angebotsabgabe/Teilnahme aufgefordert werden. Nach IV.2.2) ist als Verfahrensart das nichtoffene Verfahren gewählt. Die Auftragsunterlagen - darunter die Hinweise zum Teilnahmeverfahren (Anlage Ag 01 zur Antragserwiderung) - standen elektronisch zur Verfügung.

14

Zu den Teilnahmeunterlagen gehört auch eine von den Bietern gegenüber dem Antragsgegner abzugebende Verschwiegenheitserklärung im Vergabeverfahren „Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken und Ausrüstung der Stabstelle“, welche die Antragstellerin unter dem 26. November 2021 unterzeichnete (Anlage AG 03 zum Schriftsatz des Antragsgegners vom 11. Mai 2022). Dort heißt es unter anderem:

15

„... Vorbemerkung

16

... Im Rahmen des Vergabeverfahrens werden dem Bieter Informationen, insbesondere Angebotstexte oder Standort Informationen, übermittelt, die vertraulich behandelt werden müssen... Die Geheimhaltung dieser Informationen gegenüber Dritten ist für den Auftraggeber von größter Bedeutung. Ferner ist für den Auftraggeber von größter Bedeutung, dass der Bieter die so erhaltenen Informationen ausschließlich zum Zweck der Teilnahme an dem Vergabeverfahren ... und ausschließlich in diesem Verfahren verwendet. Vor diesem Hintergrund und zum Schutz des Auftraggebers und des Vergabeverfahrens, für das der Geheimwettbewerb gesetzlich vorgeschrieben ist, gibt der Bieter zum Schutz der Vertraulichkeit folgendes selbstständige, konstitutive Schuldversprechen ab:
...

17

Vertraulichkeitsvereinbarung

18

Im Rahmen des oben genannten Vergabeverfahrens, sowie im Rahmen einer weiteren Zusammenarbeit zwischen dem Kreis S. ... und oben genanntem Empfänger wird der Kreis S. dem Empfänger Informationen zur Verfügung stellen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und nicht allgemein zugänglich sind (im folgenden „Vertrauliche Informationen“). Bezüglich dieser Informationen und eines potentiellen Engagements (im folgenden „Engagement“) werden folgende Vereinbarungen geschlossen:

19

1. Vertrauliche Informationen im Sinne dieser Vereinbarung sind:

20

(a) jede Information, die dem Empfänger

21

aa) vom Kreis S. oder in dessen Auftrag;

22

bb) von mit dem Auftraggeber zusammenarbeitenden Fachplaner(n) oder in deren Auftrag,

23

mitgeteilt wird, und zwar unabhängig davon, in welcher Weise sie mitgeteilt wird und unabhängig davon, in welcher Weise sie verkörpert bzw. gespeichert wird, sowie

(b) ...

24

2. Der Empfänger verpflichtet sich, die Vertraulichen Informationen vertraulich zu behandeln und nicht gegenüber Dritten offenzulegen oder ihnen anderweitig zugänglich zu machen. Der Empfänger wird die Vertraulichen Informationen auch nicht für andere Zwecke als für das Vergabeverfahren und ein potentielles Engagement verwenden.
...

25

6. Der Empfänger hat jede nicht autorisierte Weitergabe von Vertraulichen Informationen oder jede andere Verletzung der durch diesen Vertrag begründeten Pflichten durch Vertreter wie eigenes Verschulden zu vertreten (§ 278 BGB).

26

Im Falle einer nicht autorisierten Weitergabe von Vertraulichen Informationen durch den Empfänger oder einen autorisierten Vertreter ist dieser verpflichtet, den Auftraggeber den ihm daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“

27

Es bewarben sich innerhalb der am 3. Dezember 2021 endenden Bewerbungsfrist sechs Unternehmen mit Teilnahmeanträgen. Eine Bewerberin wollte ebenfalls das Funk- und Notrufabfragesystem MECC der Beschwerdeführerin einsetzen, wobei letztere nach dem Inhalt des Angebots nicht als Nachunternehmerin, sondern als reiner Systemlieferant auftreten sollte. Der Antragsgegner schloss diese Bieterin - sie hätte nach Auffassung des Antragsgegners die Beschwerdeführerin als Nachunternehmerin angeben und entsprechende Referenzen vorlegen müssen - und ein weiteres Unternehmen von der weiteren Teilnahme aus.

28

Es verblieben vier Unternehmen, die der Antragsgegner mit Schreiben vom 5. Januar 2022 zur Angabe eines Angebots bis zum 8. Februar 2022 aufgeforderte; dem Schreiben waren u.a. beigefügt die technische Leistungsbeschreibung für die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken und die Ausrüstung der Stabsstelle nebst Antworten zu Bieterfragen und das Leistungsverzeichnis (vgl. Anlage ASt 1 zum Nachprüfungsantrag).

29

Auf Seite 5 unten der Hinweise zum Teilnahmeverfahren (Anlage Ag 01) sowie auf Seite 10 der technischen Leistungsbeschreibung (im Anlagenkonvolut ASt 1 zum Nachprüfungsantrag vom 1. April 2022) heißt es:

30

„Zwischen der I. Süd und der I. Mitte besteht eine Absichtserklärung der Zusammenarbeit in technischer und taktischer Hinsicht. Zu diesem Zweck ist ein Datenaustausch zwischen den Systemtechniken (z. B. FNAS) beider Leitstellen vorgesehen."

31

Ziffer 1.2 der technischen Leistungsbeschreibung (Seiten 11 - 13) „Gegenstand der Ausschreibung“ lautet:

32

„Gegenstand der Ausschreibung ist die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme eines Funk- und Notrufabfragesystems in der bestehenden I. Süd mit einer Inbetriebnahme bis spätestens Januar 2023 (Bauabschnitt 1), die Lieferung, Installation, funktionale Anbindung und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken für den georedundanten Redundanzstandort in der I. Mitte in K. in 2023 (Bauabschnitt 2) und für den Neubau der I. Süd sowie die Ausrüstung der Stabsstelle des Kreises S. ab Q4/23 bzw Q1/24

33

(Bauabschnitt 3).

34

Die Ausschreibung umfasst die folgenden Gewerke:

35

Leitstellentechnik I. Süd:

36

-- IT-Konzept

...

37

-- Einsatzleittechnik

...

38

--- Funk- und Notrufabfragesystem

39

- Integration im IT-Konzept

40

- Arbeitsplatzausstattung

41

- Schnittstellen

42

- BOS-Digitalfunkanschaltung auf Basis des DF-Steckers

...

43

-- Infrastrukturmaßnahmen

44

- Ausrüstung Serverräume

...

45

-- Dienstleistungen

46

- Projektmanagement, Dokumentation, Schulungen

47

Technik für die Geo-Redundanzleitstelle:

48

-- IT-Konzept ...

49

-- Einsatzleittechnik...

50

-- Funk- und Notrufabfragesystem

51

- Integration im IT-Konzept

52

- Arbeitsplatzausstattung

53

- Schnittstellen

54

- BOS-Digitalfunkanschaltung der Redundanzleitstelle auf Basis des dort vorhandenen T-Systems DF-Steckers

...

55

Stabsstellen I. Süd:

...

56

Die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme der voran genannten Techniken sind in drei Bauabschnitte aufgeteilt.

57

1. Bauabschnitt

58

Erneuerung des Funk- und Notrufabfragesystems inkl. Anschaltung des BOS-Digitalfunks in der Bestandsleitstelle I. Süd ...

59

2. Bauabschnitt

60

Ausrüstung und Inbetriebnahme der Redundanzensystemtechnik in der I. Mitte ... sowie die funktionale Anbindung an die Systemtechnik der Partnerleitstelle I. Mitte.

61

3. Bauabschnitt

62

Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken sowie die Ausrüstung der Stabsstelle im Neubau der I. Süd ...“

63

Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung (Seite 19) lautet:

64

„Alle in der Leistungsbeschreibung bzw. im Leistungsverzeichnis aufgeführten technischen Beschreibungen verstehen sich als technische Mindestanforderungen. Werden Mindestanforderungen nicht erfüllt, führt das zum Ausschluss des Angebotes.“

65

Ziffer 5.1 der technischen Leistungsbeschreibung (Seite 35) „Verfügbarkeit“ lautet:

66

Der Bieter hat sein IT-Systemkonzept (Systemarchitektur, Redundanz) so auszulegen, dass ein hoch verfügbares System mit Erhaltung aller wichtigen Arbeitsabläufe, Dokumentationen und Steuerungen peripherer Einrichtungen mit einer jährlichen Verfügbarkeit von mind. 99,999 % zur Verfügung steht. Dafür sind die zentralen Systemkomponenten redundant und hoch verfügbar auf die vorhandenen Systemschränke in den beiden Serverräumen im Neubau der I. Süd und dem Technikraum der Partnerleitstelle aufzuteilen und mit den zwei zur Verfügung stehenden Stromversorgungen (USV-1 und USV-2) unterbrechungsfrei zu versorgen.“

67

In Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung „Bauabschnitt 2: Ausrüstung und Inbetriebnahme der Leitstellen Technik am Redundanzstandort“ heißt es unter anderem (Seite 55 f.):

68

„Im Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung ist eine Redundanzleitstelle vorzuhalten. Diese soll am Standort der Partnerleitstelle (I. Mitte in K.) in Form einer technischen Hardwareredundanz und einer vollständigen Vernetzung entstehen. Hierzu werden aktuell in einem separaten Projekt ein gemeinsames Einsatzleitsystem sowie weitere Leitstellensystemtechniken (z. B. Digitale Alarmierung) abgestimmt. Für die vollständige Vernetzung bzw. die Zusammenarbeit zwischen den Leitstellen I. Mitte und I. Süd sind folgende Anforderungsbeispiele definiert worden:

69

- Bei einer Evakuierung der I. Süd sollen in der Partnerleitstelle I. Mitte die gleichen Rollenprofile wie in der I. Süd vorhanden sein. Ebenso andersherum.

70

- Bei einer Zerstörung der I. Süd soll der Leitstellen Betrieb in der I. Mitte vollständig und ohne Datenverlust fortgeführt werden können.

71

- Die Bedienoberflächen im FNAS der I. Süd und I. Mitte sind funktional sowie optisch an allen Einsatzplätzen gleich vorzuhalten.

72

- Im Regelbetrieb muss der Disponent in der I. Süd die Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze der I. Mitte in seiner FNAS-Bedienoberfläche dargestellt bekommen. Ebenso andersherum.

73

- Notrufe sowie definierte Telefonleitungen der I. Süd, die innerhalb der ersten Zeitspanne nicht angenommen werden, sollen in der ersten Stufe mit einem „Drängelton" signalisiert werden und dann nach Ablauf eines zweiten Zeitintervalls, in die Partnerstelle I. Mitte zur Notrufannahme weitergeleitet werden (Überlauf).

74

Das gleiche Prinzip soll im Neubau I. Süd für die I. Mitte angesetzt werden.

...

75

Die neuen Leitstellentechniken der I. Süd werden über zwei noch zu beschaffende redundante Vernetzungen (vgl. IT-Konzept im Abschnitt 5 und Anhang 1 bis Anhang 4) zwischen der I. Süd und der I. Mitte verbunden. Diese Verbindungen sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung. Nach der Auftragsvergabe werden im Rahmen der Feinspezifikation diesbezügliche Anforderungen mit dem AN abgestimmt und die Verbindungen bauseits durch den AG beschafft.

76

Der Bieter hat das seinem Angebot zu Grunde liegende Systemkonzept für die Vernetzung der I. Süd mit der Partnerleitstelle I. Mitte in einer Anlage zu beschreiben.

77

Dem Auftraggeber ist bewusst, dass seitens der Partnerleitstelle I. Mitte und den dort vorhandenen Systempartnern Leistungsanteile für die Vernetzung zu erbringen sind. Diese Leistungsanteile für die Vernetzung auf Seiten der Partnerleitstelle sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung, jedoch sind alle erforderlichen Schnittstellenabstimmungen bis zur Realisierung der Vernetzung zu berücksichtigen.

78

10.1 Redundanztechnik in der Partnerleitstelle I. Mitte

79

Für alle Systemtechniken in der Partnerleitstelle I. Mitte sind die gleichen Komponenten wie in der I. Süd einzusetzen (s.a. Anhang 1 bis Anhang 4). Es gelten dieselben Anforderungen an Betriebsbewährung und Qualität.

80

Die BOS-Digitalfunk-Rückfallebene FRT wird in der Partnerleitstelle nicht nochmals aufgebaut. Im Rahmen dieses Verfahrens ist die Bedienung der FRTs am Standort I. Süd über das FNAS umzusetzen (im Sinne abgesetzter Einsatzleitplätze). Im Weiteren ist somit eine Bedienebene wie z.B. über die SEB VoIP-Fire Bedieneinrichtungen in der Partnerleitstelle nicht gefordert.

81

10.2 Rückfallebene Digitale Alarmierung der Partnerleitstelle

82

Die Bereitstellung der Digitalen Alarmierung für die Einsatzleitsätze der Partnerleitstelle in der I. Mitte im eingangs beschriebenen Anforderungsfall einer Nichtverfügbarkeit der Leitstellentechniken der I. Süd ist nicht Bestandteil dieser Ausschreibung. Dies erfolgt durch die fachverantwortlichen Mitarbeiter der Leitstelle im Rahmen eines separaten Projektes.

83

10.3 Infrastrukturmaßnahmen der Partnerleitstelle

84

In Bezug auf die vorhandene Infrastruktur in der Partnerleitstelle kann der Bieter in diesem Verfahren davon ausgehen, dass Stromversorgungseinrichtungen, Kabeltragsysteme und -trassen sowie klima- und lüftungstechnische Anforderung vorhanden sind oder ggf. bauseits beschafft werden.

85

Im Rahmen dieses Verfahrens hat der Bieter die vollständige Verkabelung seiner Systeme untereinander in den vorgesehenen LV-Positionen zu kalkulieren. Die Öffnung von vorhandenen Brandschottungen in der Partnerleitstelle bedarf der Abstimmung mit dem Nutzer der I. Mitte ...“

86

Die Leistungsverzeichnis(nachfolgend: LV)-Position 5 „Redundanztechnik in der Partnerleitstelle (BA2)“ findet sich auf den Seiten 64 ff. des Leistungsverzeichnisses (im Anlagenkonvolut ASt 1 zum Nachprüfungsantrag vom 1. April 2022). Einleitend heißt es dort:

87

„Zwischen der I. Süd und der I. Mitte ist ein Zusammenarbeitsvertrag hinsichtlich der Bildung eines Redundanzstandortes in der Partnerleitstelle geschlossen worden. Dabei sollen in beiden Leitstellen eine Hardwareredundanz für die jeweils andere Leitstelle abgebildet werden. Für die I. Süd ist das diesbezügliche IT-Konzept in den Anlagen 01 bis 03 abgebildet.

88

Im Rahmen dieses Verfahrens sollen im Bauabschnitt 2 in der Partnerleitstelle I. Mitte in K. das in den Anlagen abgebildete IT-Konzept (Hardwareredundanz zur I. Süd) und der Vernetzung für die Bedienung von vier Einsatzleitplätzen der I. Mitte entstehen. Für die für den Bauabschnitt 2 in den folgenden LV-Position geforderten Hardwarekomponenten gelten die gleichen Vorgaben und Mindestanforderungen der im Bauabschnitt 3 bereits benannten Komponenten.

89

Zwischen den beiden Standorten werden hoch verfügbare Verbindungen realisiert. Details zur konkreten Ausführung dieser Verbindungen liegen noch nicht vor. Im Neubau der I. Süd sollen nach gleichem Prinzip Einsatzplätze der I. Mitte abgebildet werden können. Hierfür sind die drei Arbeitsplätze im Raum 1.05 Schulung und Reserve vorgesehen…“

90

Die LV-Pos. 05.07 befasst sich mit „Redundanztechnik Dienstleistungen“ (Leistungsverzeichnis Seite 73 f.).

91

Auf die Bieterfrage 16 zur „Leistungsbeschreibung Kapitel 10“ (vgl. die Zusammenfassung der Bieterfragen zum Gewerk Leitstellentechnik I. Süd, Anlage BG02 zum Schriftsatz des Antragsgegners vom 16. Juni 2022):

92

Für die Umsetzung der Anforderung „im Regelbetrieb muss der Disponent in der I. Süd die Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze der I. Mitte in seiner FNAS-Bedienoberfläche dargestellt bekommen. Ebenso andersrum.“ benötigen wir die Schnittstellenbeschreibung des FNAS der I. Mitte. Alternativ könnte die gegenseitige Darstellung mit je einem FNAS Client erfolgen, wir bitten um Freigabe der Alternative.“

93

antwortete der Antragsgegner unter dem 25. Januar 2022:

94

„In der I. Süd ist gemäß den Darstellungen der Technischen Leistungsbeschreibung (TLB) im Abschnitt 6.5 ein Dashboard zur Systemauslastung zur Verfügung zu stellen. Einzelne Datenpunkte hieraus sind zur Darstellung in der Partnerleitstelle I. Mitte über die erforderliche Vernetzung (ALL-IP-Notruf und BOS-Digitalfunk gem. TLB Abschnitt 10) der Partnerleitstelle zu übergeben. Eine Schnittstellenbeschreibung liegt hierzu noch nicht vor. Detaillierte Abstimmungen zur Übergabe dieser Datenpunkte sind nach Auftragsvergabe im Rahmen der Feinspezifikation vorgesehen. Diesbezügliche Dienstleistungen sind in den LV-Position 05.07 entsprechend zu berücksichtigen. Die vorgeschlagene Alternative ist nicht gewünscht.“

95

Auf die Bieterfrage 18 (vgl. die Zusammenfassung der Bieterfragen zum Gewerk Leitstellentechnik I. Süd, Anlage BG02 zum Schriftsatz des Antragsgegners vom 16. Juni 2022)

96

„Ab dem Titel 05 beschreiben Sie die Komponenten der I. Mitte. Wie ist mit der Situation umzugehen, wenn in der I. Mitte keine Server, Diskarray, etc. benötigt werden, da die geforderten Anforderungen (gleiche Oberfläche, etc.) mit der bestehenden Soft- und Hardware zu realisieren ist? Oberflächen und Rollen wären dann an den vorhandenen Arbeitsplätzen der I. Mitte hinterlegt.

97

antwortete der Antragsgegner:

98

„Die ausgeschriebenen Leistungen sollen in einem Wettbewerb u. a. entsprechend den Vorgaben des GWB ... vergeben werden. Mit der ausgeschriebenen Systemkonfiguration können aus Sicht der ausschreibenden Stelle alle verbleibenden Bieter ein wettbewerbsfähiges Angebot erstellen. Das bestehende Systemkonzept in der I. Mitte ist über die in den Ausschreibungsunterlagen dargestellten Beschreibungen der ausschreibenden Stelle nicht bekannt und nicht Gegenstand dieser Ausschreibung. Dass dieser Ausschreibung zugrunde liegende Systemkonzept basiert auf neu zu beschaffenden Komponenten, ist insbesondere in den Anhängen 2 und 03 visualisiert dargestellt und in den zugehörigen Positionen im Leistungsverzeichnis entsprechend zu kalkulieren. Die Vorgaben der Ausschreibung sind zwingend umzusetzen.“

99

Auf die Bieteranfrage 43 zu BA2, ELS und FNAS Arbeitsplätze in der I. Mitte (K.), RB 10.1

100

„In welchen Positionen sind die Arbeitsplätze „im Sinne abgesetzte Einsatzleitplätze“ in den Räumen I. Mitte anzubieten und wie viele“

101

antwortete der Antragsgegner:

102

„Für die Partnerleitstelle I. Mitte sind keine Arbeitsplatzkomponenten (FNAS, ELS) zu berücksichtigen. Gemäß den Ausführungen im Abschnitt 10 ist die Bedienung von den vorhandenen Arbeitsplätzen der I. Mitte vorgesehen. Dafür sind die Systeme entsprechend den Ausführungen in Abschnitt 10 der technischen Leistungsbeschreibung zu vernetzen. Erforderliche Liefer- oder Dienstleistungen seitens des vorhandenen Systems in der I. Mitte sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung. Dienstleistungen, wie erforderliche Abstimmungsgespräche, sind in der LV-Position 05.07 zu berücksichtigen. Detailabstimmungen hierzu erfolgen im Rahmen der Feinspezifikation nach Auftragsvergabe.“

103

Drei Unternehmen gaben innerhalb der von dem Antragsgegner bis zum 16. Februar 2022 verlängerten Angebotsfrist Angebote ab. Der Antragsgegner klärte das Angebot der Beigeladenen, die das in Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung verlangte Vernetzungskonzept mit dem Angebot vorgelegt hatte, mit Fragen vom 9. März 2022 zu der Leistungsfähigkeit der Beigeladenen für die Vernetzung der FNAS nach den Vorgaben auf S. 55 f. der technischen Leistungsbeschreibung (Anforderungsbeispiele) auf, die die Beigeladene mit Schreiben vom 10. März 2022 (Anlage AG 02 zur Antragserwiderung) wie folgt beantwortete:

104

1. Zu den Rollenprofilen:

105

„,Ja, alle Anforderungen bezüglich der Rollenprofile werden im Projekt umgesetzt. Das Produkt des Kommunikationssystems in der I. Mitte (K.) ist uns bekannt. Die dazu notwendigen Abstimmungsgespräche sind in unserem Angebot berücksichtigt. Lizenzen sind dazu in unserer angebotenen Lösung nicht nötig. Alle Funktionen die das Rollen- und Rechtemanagement beinhalten, sind in der Standardsoftware bereits vollumfänglich enthalten.“

106

2. Zu der Fortführung des Leitstellenbetriebes im Falle der Zerstörung einer I.:

107

Ja, wir bestätigen dass der Datenbestand redundant an beiden Standorten vorgehalten wird. Die Datenbanken der Kommunikationssysteme der I. Mitte und I. Süd synchronisieren sich zyklisch. Alle dazu notwendigen Dienstleistungen sind im Angebot enthalten.“

108

3. Zu den Bedienoberflächen der I.:

109

„Die Bedienoberflächen werden in Zusammenarbeit mit der I. Süd und dem Hersteller des Systems der I. Mitte in der Feinspezifikation abgestimmt, so dass die Disponenten an jedem System bzw. Lokation arbeiten können. Wir bestätigen hiermit diese Anforderung umzusetzen.“

110

4. Zu der wechselseitigen Darstellung der Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze in der FNAS-Bedienoberfläche:

111

„Ja, die o. g. Anforderungen sind möglich und in unserem Angebot enthalten. Im Rahmen der Feinspezifikation wird dann in einem GUI Workshop (Bedienoberfläche) dies gemeinsam ausgestaltet. Siehe hierzu auch die Bieterfragen.“

112

5. Zum Überlauf:

113

„Ja, das ist möglich und wurde im Angebot berücksichtigt. Diese Funktion haben bereits wir seit Jahren umgesetzt und wird in einigen ASGARD Verbund-Leitstellen so genutzt.“

114

6. Zu medienübergreifenden Tätigkeiten beim Verlust der Leitstellentechniken in der I. Süd:

115

„Ja, wir bestätigen, dass in unserem Angebot die o.g. medienübergreifenden Tätigkeiten ausschreibungskonform geplant und angeboten wurden.“

116

7. Zur Berücksichtigung der zur Vernetzung mit der Partnerleitstelle geforderten Funktionalitäten und Dienstleistungen gemäß Leistungsverzeichnis, technische Leistungsbeschreibung und Anlagen im Angebot:

117

„Ja, wir bestätigen hiermit dass die geforderten Funktionalitäten und Dienstleistung zur Vernetzung mit der Partnerleitstelle I. Mitte in K. in unserem Angebot berücksichtigt sind.“

118

Mit Schreiben gemäß § 134 Abs. 1 GWB vom 23. März 2022 informierte der Antragsgegner die Antragstellerin darüber, den Auftrag der Beigeladenen erteilen zu wollen (vgl. Anlage Ast 5 zur sofortigen Beschwerde vom 3. Juni 2022). Die Antragstellerin rügte daraufhin gegenüber dem Antragsgegner mit Anwaltsschreiben vom 31. März 2022 Vergaberechtsverstöße:

119

Zur Angebotswertung bezweifele sie, dass das von der Beigeladenen abgegebenen Leistungsversprechen eingelöst werden könne und diese in der Lage sei, sämtliche geforderten Leistungen zu erbringen. Die Beigeladene sei nicht dazu in der Lage, die nach Ziffer 10 des Leistungsverzeichnisses geforderte Vernetzung der I. Süd mit der I. Mitte vorzunehmen. Von der I. Mitte werde ihr FNAS (MECC) eingesetzt. Die für die vollständige Vernetzung geforderte Übereinstimmung der Rollenprofile, funktionale und optische Identität der Bedienoberflächen im FNAS, die Darstellung der Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze der I. Mitte in der FNAS-Bedienoberfläche der I. Süd und den Notruf-Überlauf erfordere eine Kommunikation zwischen den beiden FNAS. Eine hierfür erforderliche Schnittstelle sei nicht vorhanden. Um sie herzustellen, bedürfe es bei dem Einsatz eines anderen FNAS als des ihrigen einer Offenlegung schnittstellenrelevanter Daten und Codes. Wegen einer solchen Offenlegung sei weder die I. Mitte noch der Landkreis S. an sie herangetreten. Sie sei nicht verpflichtet, an der Einrichtung einer solchen Schnittstelle mitzuwirken. Ein Unternehmen, das nicht das MECC einsetze, könne eine vollständige Vernetzung nicht erbringen. Das Angebot der Beigeladenen sei deshalb nach § 57 Abs. 1 Nummer 4 VgV auszuschließen. Die Abweichung eines Angebots von den Vergabeunterlagen liege auch dann vor, wenn sich im Rahmen der Aufklärung ergebe, dass der Bieter die Leistungen nicht oder nicht vollständig oder nur abweichend ausführen können. Das sei hier bei der Beigeladenen im Hinblick auf Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung der Fall. Dies gelte insbesondere für die gemäß Anforderung der Frage 16 im LV-Titel 5.07 des LV-Leitstellenstechnik zu kalkulierenden Dienstleistungen zur Herstellung der Schnittstelle.

120

Vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass bei Unterstellung einer möglichen vollständigen Vernetzung der FNAS über Verhandlungen mit der I. Mitte und ihr die Ausschreibung hätte erst veröffentlicht werden dürfen, wenn die technischen Voraussetzungen einer Vernetzung geklärt und auch rechtlich gesichert seien. Für die hiesige Ausschreibung fehlte es an der Ausschreibungs- bzw. Vergabereife. Ein Auftraggeber habe die technischen Spezifikationen vorab soweit zu klären, dass im Vergabeverfahren nicht von vornherein mit wesentlichen Änderungen der Leistungsbeschreibung zu rechnen sei. Die Ausschreibungsreife fehle, wenn sich der Zuschlag nur bei wesentlicher Änderung der Spezifikation erteilen lasse oder es nach Zuschlagserteilung einer wesentlichen Vertragsänderung nach § 132 GWB bedürfe. Enthalte eine Ausschreibung Spezifikationen, die vom Bieterkreis nicht erfüllbare Anforderungen enthalte, handele sich um einen Vergabefehler, der eine Aufhebung der Ausschreibung erfordere. Zulässig seien nur Präzisierungen und Vorgaben, die der öffentliche Auftraggeber vor Leistungserbringung noch beeinflussen und für die er die erforderlichen Voraussetzungen schaffen könne. Das sei hier nicht der Fall, weil es der Antragsgegner nicht in der Hand habe, die Voraussetzungen zu schaffen.

121

Der Antragsgegner wies die Rüge mit Schreiben vom 31. März 2022 (Anlage Ast. 7 zur sofortigen Beschwerde vom 3. Juni 2022) zurück. Die Antragstellerin hat daraufhin mit Schriftsatz vom 1. April 2022 bei der Vergabekammer Schleswig-Holstein die Einleitung eines Vergabenachprüfungsverfahrens beantragt und im Nachprüfungsverfahren im Wesentlichen ausgeführt:

122

Der Antragsgegner hätte aufgrund ihrer Rüge aufklären müssen, ob die Beigeladene - was nicht der Fall sei - dazu der Lage sei, die Schnittstelle zu dem FNAS der I. Mitte als Voraussetzung für die Vernetzung zu schaffen. Die vollständige Vernetzung der FNAS sei nach der am objektiven Bieterhorizont orientierten Auslegung von Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung geschuldet. Die Beigeladene habe in dem Schriftsatz vom 29. April 2022 eingeräumt, diese Vernetzung nicht selbst erstellen zu können; hierfür müsse die Antragstellerin eine neue Schnittstelle zum/vom Kommunikationssystem ASGARD entwickeln, in der alle erforderlichen Daten und Metadaten vorhanden seien. Für die Erfüllung der Anforderungen von Ziffer 10 sei es nicht ausreichend, dass der Auftragnehmer eine Schnittstellenbeschreibung für eine Schnittstelle zum FNAS der I. Mitte erhalte. Eine derartige Schnittstelle gebe es nicht, es existiere bundesweit kein Projekt, bei dem eine Schnittstelle zwischen zwei unterschiedlichen FNAS realisiert worden sei. Selbst wenn sie wesentliche Informationen für die Entwicklung einer solchen Schnittstelle - hierbei handele es sich um ihre Geschäftsgeheimnisse - zur Verfügung stellen würde, reichte dies zur Erfüllung der Anforderungen aus Ziffer 10 nicht aus. Nach den von ihr eingeholten Auskünften von Fachplanern fehle es an der für die verlangte vollständige Vernetzung der FNAS notwendigen technischen Kompatibilität zwischen zwei unterschiedlichen Systemen. Die Systeme MECC einerseits und ASGARD andererseits seien wegen unterschiedlicher Programmiersprachen, unterschiedlicher Strukturen und Funktionsweisen nicht kompatibel. Es müssten beidseits Software- und Entwicklungsleistungen erbracht und die erforderlichen Schnittstellen zu Fremdsystemen (Telefonanlage, digitale Alarmierung) ständig an Updates oder geänderte Aufgabenstellung angepasst werden. Dies sei nicht nur wegen des erheblichen Aufwandes unwirtschaftlich, sondern auch mit erheblichen Risiken für die Verfügbarkeit behaftet.

123

Neben ihr gebe es jedenfalls ein Unternehmen, das ihr MECC als Lizenznehmerin einsetzen könne und über die erforderlichen Kenntnisse verfüge, um die geforderte Kompatibilität und Vernetzung mit ihrem MECC der I. Mitte herzustellen. Ein weiteres Unternehmen verwirkliche gerade als Generalunternehmerin ein Projekt der Leitstellvernetzung, bei dem auch ihr MECC zum Einsatz komme. Dieses Unternehmen werde demnächst in der Lage sein, eine Vernetzung mit dem FNAS der I. Mitte vorzunehmen.

124

Die Vergabekammer hat am 14. April 2022 die Beiladung der Zuschlagsprätendentin beschlossen und der Antragstellerin sowie der Beigeladenen Akteneinsicht in teilgeschwärzter Form gewährt.

125

Die Beschwerdeführerin hat vor der Vergabekammer in der Hauptsache beantragt:

126

1. Die Wertung der Angebote in dem Vergabeverfahren Neubau I., Leitstellentechnik des Antragsgegners, werden unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer wiederholt.

127

2. H i I f s w e i s e: Das Vergabeverfahren wird bei fortbestehender Beschaffungsabsicht in den Stand vor Bereitstellung der Vergabeunterlagen zurückversetzt. Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Leistungsbeschreibung unter Berücksichtigung der Hinweise und Rechtsauffassung der Vergabekammer zu überarbeiten.

128

Der Antragsgegner hat vor der Vergabekammer in der Hauptsache beantragt:

129

1) Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.

130

Er ist dem Nachprüfungsantrag entgegen getreten.

131

Die Beigeladene hat vor der Vergabekammer in der Hauptsache beantragt,

132

1. den Nachprüfungsantrag als unzulässig und unbegründet zurückzuweisen,

133

Sie hat im Wesentlichen vorgetragen:

134

Der Nachprüfungsantrag sei nach § 160 Abs. 3 GWB unzulässig. Der Antrag sei auch unbegründet. Sie habe ein zuschlagsfähiges Angebot abgegeben und sei nicht auszuschließen; Vergabereife liege vor.

135

Die Schaffung einer Schnittstelle/Vernetzung zu dem FNAS der I. Mitte sei nicht Gegenstand des von ihr abzugebenden Angebots, da die Schaffung der Voraussetzungen für die Anbindung bei der I. Mitte vom Antragsgegner auf Seite 56 letzter Absatz der technischen Leistungsbeschreibung zugesagt werde. Die Bieter hätten hiernach davon ausgehen dürfen, dass die erforderlichen Voraussetzungen für die Vernetzung der I. Mitte und der I. Süd durch den Antragsgegner bzw. die Antragstellerin bereitgestellt würden, was auch durch die Antwort auf die Bieterfrage 16 bestätigt worden sei.

136

Technisch sei die Herstellung einer solchen Schnittstelle unproblematisch möglich. So könnte die Antragstellerin eine neue Schnittstelle zu ihrem ASGARD-Programm entwickeln, in der alle vorhandenen Daten und Metadaten vorhanden seien. Es könnte auch die vorhandene Schnittstelle zum Sinus NFVS zum Einsatzleitsystem genutzt werden, um die Anruf- und die Metadaten zu übermitteln. Da sie davon habe ausgehen dürfen, dass die erforderliche Schnittstelle zur Verfügung gestellt werde, dürfe sie davon ausgehen, die Anforderungen von Ziffer 10 der Leistungsbeschreibung umsetzen zu können und ein zuschlagsfähiges Angebot vorgelegt zu haben. Einer Offenlegung von Quellcodes des FNAS der Antragstellerin bedürfe es nicht. Vergabereife liege vor.

137

Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag der Beschwerdeführerin auf die mündliche Verhandlung vom 16. Mai 2022 mit den Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 25. Mai 2022 zugestelltem Beschluss vom 24. Mai 2022 zurückgewiesen, der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens sowie der für die Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen von Antragsgegner und Beigeladener auferlegt und die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners und der Beigeladenen für notwendig erklärt. Zur Begründung hat die Vergabekammer im Wesentlichen ausgeführt:

138

Der Nachprüfungsantrag sei unzulässig, die Antragstellerin mit ihrem Vorbringen nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB präkludiert, die gerügten Vergaberechtsverstöße erkennbar gewesen.

139

Hier komme es nicht darauf an, dass die Antragstellerin die beabsichtigte Zuschlagserteilung auf das Angebot der Beigeladenen rechtzeitig im Sinne von § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB gerügt habe. Die Antragstellerin stütze ihre Anträge auf eine ihrer Auffassung nach gegebene mangelnde Zuschlagsfähigkeit des Angebots der Beigeladenen, die sich aus den Vergabeunterlagen ergebe. Sämtliche Passagen, auf die sich die Antragstellerin zur Begründung der von ihr geltend gemachten Vergaberechtswidrigkeit stütze und aus denen sie eine Verpflichtung des späteren Auftragnehmers zur Errichtung der oben beschriebenen Schnittstelle ableite, seien Bestandteil der Vergabeunterlagen. Die Antragstellerin hätte bei deren Lektüre feststellen müssen, dass außer ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit kein anderes Unternehmen zur Erfüllung dieser Anforderung in der Lage gewesen sei und es dem streitgegenständlichen Vergabeverfahren an der „Ausschreibungsreife fehle". Eine Rüge hinsichtlich der Erfüllbarkeit der Leistungsanforderungen durch andere Unternehmen wäre keine „Rüge ins Blaue" gewesen. Die Antragstellerin stelle in ihrem Nachprüfungsantrag substantiiert dar, weshalb die Beigeladene ihrer Auffassung nach die Leistungsanforderungen nicht erfüllen könne und deren Angebot nicht den Zuschlag erhalten dürfe - nämlich weil nach ihrem eigenen Vortrag mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur die Beigeladene, sondern überhaupt kein anderes Unternehmen die Anforderungen erfüllen könne.

140

Ohne Erfolg mache die Antragstellerin geltend, der Umstand, dass ausschließlich sie selbst zur (vermeintlich) geforderten Errichtung der Schnittstelle und somit zur Erfüllung der Leistungsanforderungen in der Lage sei beziehungsweise dass dem Vergabeverfahren die Ausschreibungsreife fehle, erfordere „eine rechtliche Würdigung, die vergaberechtliches Fachwissen voraussetzt", das „bei einem fachkundigen Bieter wie der Antragstellerin nicht vorhanden ist". Denn die vermeintliche Unmöglichkeit der Angebotsabgabe durch andere Unternehmen betreffe einen technischen Sachverhalt und erfordere kein vergaberechtliches Fachwissen. Die Antragstellerin sei wie jedes Unternehmen, das sich an einem EU-weiten Vergabeverfahren beteilige, rechtlich verpflichtet, die Vergabeunterlagen sorgfältig zu lesen; sie müsse sich im Rahmen der Erstellung ihres Angebots auch denknotwendig mit den Vergabeunterlagen auseinandergesetzt haben. Es erscheine als lebensfremd anzunehmen, die Antragstellerin könnte ihr Angebot erstellt haben, ohne darauf aufmerksam geworden zu sein, dass - ihrem Vortrag zufolge - kein anderes Unternehmen die (vermeintlich) geforderte Vernetzung zwischen der I. Mitte und der I. Süd realisieren könne, zumal sie der Bestandsauftragnehmer der Partnerleitstelle in K. sei.

141

Hiergegen wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrer sofortigen Beschwerde und im Wesentlichen dem folgenden Vorbringen:

142

I. Eine Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 Nr. 3 GWB liege nicht vor. Eine Verpflichtung zur Rüge einer mangelhaften Leistungsbeschreibung habe nicht bestanden. In einem Vergabenachprüfungsverfahren stellten Unternehmen Sachverhalte zur Prüfung, die Vergaberechtsverstöße beträfen, die die Rechtsstellung des jeweiligen Unternehmens in einem Vergabeverfahren verschlechterten. Wesensmerkmal eines rügefähigen Rechtsverstoßes sei dessen Auswirkung auf die Zuschlagschancen des Antragstellers, andernfalls würde es an der Antragsbefugnis fehlen. Es gebe keine Verpflichtung für Teilnehmer an Vergabeverfahren, eine Leistungsbeschreibung auf Unvollständigkeit und Fehler zu überprüfen und den Auftraggeber darauf hinzuweisen. Ein Bieter habe eine Leistungsbeschreibung nur daraufhin zu überprüfen, ob ihm eine Angebotserstellung ermöglicht werde. Sie könne die technische Leistungsbeschreibung, insbesondere die vollständige Vernetzung erfüllen, sie habe eine mit dem FNAS in K. kompatible Technik angeboten.

143

Es habe daher für sie keine Notwendigkeit bestanden, den Inhalt der Leistungsbeschreibung oder die Wahl der Verfahrensart zu rügen, zumal es einen Lizenznehmer gebe, die die im Teilnahmewettbewerb geforderten Referenzen vorlegen und ein MECC anbieten könnten. Ihre Lizenznehmerin, die ein entsprechendes Projekt bereits umgesetzt habe, verfüge über entsprechende Rechte und sei in technischer Hinsicht in der Lage, ein solches System zu installieren und mit dem System der I. Mitte zu verknüpfen. Ihr sei nicht bekannt, ob ihre Lizenznehmerin einen Teilnahmeantrag gestellt habe.

144

Sie habe deshalb davon ausgehen dürfen, sich in einem Wettbewerb mit einem Unternehmen zu befinden, aber nicht davon ausgegangen, sich im Wettbewerb mit Unternehmen zu befinden, die andere Systeme anböten. Hätte sie dies gewusst, hätte sie ihr Angebot wirtschaftlich nochmals optimiert. Hiernach habe weder in der Wahl der Verfahrensart noch in der Abfassung der technischen Leistungsbeschreibung bezogen auf die Anforderung an die Vernetzung ein Vergabeverstoß vorgelegen, der geeignet gewesen wäre, sie in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB zu verletzen.

145

Für sie sei ein Vergabeverstoß des Antragsgegners durch eine unzureichende Klärung der Umsetzbarkeit des Beschaffungsvorganges im Hinblick auf die beabsichtigte vollständige Vernetzung mit der Redundanzleitstelle, die mangelnde Ausschreibungsreife nicht erkennbar gewesen. Sie sei bei Erstellung des Angebots davon ausgegangen, dass ein für die Vernetzung mit der I. Mitte kompatibles System anzubieten sei. Ihr sei nicht bekannt gewesen, ob und in welchem Umfang der Antragsgegner Markterkundungen hinsichtlich der Kompatibilitätsanforderung durchgeführt habe, auch der Inhalt der Absichtserklärung mit der Stadt K. sei ihr nicht bekannt gewesen. Sie habe mithin bereits nicht die erforderliche Tatsachenkenntnis gehabt. Jedenfalls hätte sie in rechtlicher Hinsicht nicht erkennen können, dass eine fehlende Ausschreibungs- oder Vergabereife vorgelegen habe. Erkennbar seien solche Vergabeverstöße, die sich auf eine allgemeine Überzeugung der Vergabepraxis gründeten und bei einer Durchsicht der Vergabeunterlagen als auftragsbezogene Regelverstöße laienhaft ohne Anwendung juristischen Sachverstands ins Auge fielen. Die Begriffe „Vergabereife“ oder „Ausschreibungsreife“ fänden sich weder im vierten Teil des GWB noch in der VgV und seien hinsichtlich ihrer Anforderungen auch in der Rechtsprechung umstritten. Zwar sei allen am Markt tätigen größeren Unternehmen bekannt, dass es eine solche Vernetzung unterschiedlicher Systeme bisher noch nicht gegeben habe. Für sie, die keine Kenntnis zu Identität und Zahl der Bieter gehabt habe, wäre es - unterstellt sie hätte die Rechtskenntnis, die Problematik rechtlich einordnen zu können - eine Rüge ins Blaue hinein gewesen, den Ausschluss von Bietern zu fordern, die kein MECC anböten. Die bloße Vermutung, dass solche Angebote abgegeben und nicht ausgeschlossen würden, löse eine Rügeobliegenheit nicht aus; Bieter müssten nicht auf Vorrat rügen, dürften die Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers abwarten. Im Übrigen sei ihr erst durch die Akteneinsicht im Nachprüfungsverfahren bekannt geworden, dass der Antragsgegner die technischen Voraussetzungen für die für einen Redundanzbetrieb erforderliche Vernetzung nicht untersucht und die durch die drei Fachplaner aufgezeigten technischen und wirtschaftlichen Probleme nicht erkannt habe.

146

II. Der Nachprüfungsantrag sei begründet. Nach dem objektiven Empfängerhorizont eines fachkundigen Bieters sei der zukünftige Auftragnehmer verpflichtet, die Kompatibilität mit dem FNAS der I. Mitte eingesetzten FNAS herzustellen und für das eigene FNAS die geforderten Funktionen auch bei der Nutzung der Telefonanlage und weiterer Ressourcen der I. Mitte in K. sicherzustellen. Entsprechende Leistungen habe die Beigeladene nicht angeboten. Ihr Angebot sei deshalb auszuschließen. Wäre das Verständnis der Leistungsbeschreibung nicht eindeutig und könnte deshalb das Angebot der Beigeladenen nicht ausgeschlossen werden, läge zum einen eine intransparente Leistungsbeschreibung vor. Zum anderen würde es aufgrund der ungeklärten Voraussetzung (aus Sicht des Beschwerdeführers) bzw. der technischen Unmöglichkeit bei einem fortgesetzten Einsatz des MECC in der I. Mitte (Auffassung der Beschwerdeführerin) an der notwendigen Vergabe- bzw. Ausschreibungsreife fehlen. Im Einzelnen:

147

Das Angebot der Beigeladenen sei nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV in Verbindung mit Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung zwingend auszuschließen; es weiche von den Vorgaben der Leistungsbeschreibung ab. Nach 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung seien alle in der Leistungsbeschreibung bzw. dem Leistungsverzeichnis aufgeführten technischen Beschreibungen als technische Mindestanforderungen zu verstehen. Würden Mindestanforderungen nicht erfüllt, führe dies zum Ausschluss des Angebotes. Aus Ziffer 1.2 der technischen Leistungsbeschreibung ergebe sich, dass Gegenstand der Ausschreibung und damit auch des Vertrages die Lieferung, Installation, funktionale Anbindung und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken für den georedundanten Redundanzstandort in der I. K. in 2023 (Bauabschnitt 2) und für den Neubau der I. Süd seien. Hiernach gehörten die Schnittstellen der FNAS zueinander und die Schnittstellen der FNAS mit dem ELS (Einsatzleitsystem), mithin die vollständige Vernetzung der FNAS der I. Süd und I. Mitte, zum Leistungsumfang des Auftrages. Die in Ziffer 10 beispielhaft genannten Anforderungen seien von dem Bieter zwingend umzusetzen, wie der jeweiligen Formulierung „soll“ entnommen werden könne. Das folge auch - „erforderliche Vernetzung“ - aus der Beantwortung von Bieterfrage 16. Um die geschuldete Leistung, eine Vernetzung der FNAS entsprechend den Anforderungsbeispielen nach Ziffer 10 erbringen zu können, bedürfe es für die I. Süd des Einsatzes eines mit dem MECC der I. Mitte kompatiblen Systems. Ein kompatibles Fremdsystem gebe es nicht, weshalb es des Einsatzes eines MECC bedürfe.

148

Die Beigeladene habe in ihrer Antragserwiderung vom 29. April 2022 eingeräumt, hierzu nicht in der Lage zu sein, indem sie erklärt habe, dass es jedenfalls der Herstellung einer Schnittstelle zwischen den beiden FNAS bedürfe und eine solche Schnittstelle programmiert werden müsse. Nach dem Verständnis der Beigeladenen sei dies jedoch nicht Aufgabe des künftigen Auftragnehmers; Antragsgegner und Vergabekammer hätten sich ebenfalls auf diesen Standpunkt gestellt.

149

Dies sei unzutreffend. Die in Ziffer 10 angesprochenen noch zu beschaffenen redundanten Vernetzungen der neuen Leitstellentechniken, die nicht Bestandteil der Ausschreibung seien, beträfen nicht die Vernetzung der FNAS, sondern die vollständige Vernetzung des landesweit einheitlichen neuen Einsatzleitsystems (ELS) und weitere Leitstellentechniken (digitale Alarmierung). Diese in einem separaten Projekt zu verwirklichenden Anforderungen seien völlig unabhängig von der in Ziffer 10 ausdrücklich für das Funk- und Notrufabfragesystem geforderten Vernetzung. Diese Verbindungen beträfen die physikalischen Verbindungen, also Kabel, Leitungen und Anschlüsse, was aus den in Bezug genommenen Anlagen 1 - 4 des IT-Konzepts folge.

150

Auch spreche die Antwort auf die Bieterfrage 43 zu der Frage der anzubietenden Arbeitsplätze im Sinne abgesetzter Einsatzarbeitsplätze in den Räumen der I. Mitte nicht gegen die Annahme einer vollständigen Vernetzung als Leistungssoll. Sie nehme Bezug auf den 2. Absatz von Ziffer 10.1 der technischen Leistungsbeschreibung und betreffe die BOS-Digitalfunkrückfallebene FRT. Die Antwort, dass in den Räumen der I. Mitte keine Einsatzleitplätze einzurichten seien, beruhe darauf, dass die Aufgaben der I. Süd von den Arbeitsplätzen der I. Mitte wahrgenommen werden solle, weshalb es ja gerade der vollständigen Vernetzung auf der Ebene der FNAS bedürfe. Der Umstand, dass im 3. Bauabschnitt in der I. Süd drei Einsatzplätze für die I. Mitte eingerichtet werden sollen, beruhe darauf, dass die I. Süd über weniger Arbeitsplätze als die I. Mitte verfügte.

151

Das Funk- und Notrufabfragesystem habe nicht nur die Aufgabe einer „Telefonanlage“, eingehende Notrufe an die Leitstellendisponenten weiterzuleiten. Über das Funk-Notrufabfragesystem erfolge die gesamte sprachliche Kommunikation der Einsatzleitstelle mit den Anrufern einerseits und den Einsatzkräften andererseits. In den FNAS werde diese Kommunikation dokumentiere (Telefonat, Aufzeichnung der Anruf usw.). Das FNAS vereine die Gewerke Telefonie (Anbindung von diversen Leitungen wie 112, 19222, Amt, TK-Kopplungen, etc.), Funktechnik, beweissichere Langzeitdokumentationsanlage inkl. Kurzzeitdokumentation, Haustechniksteuerung, Wachalarm. Es manage sämtliche Sprachwege und dokumentiert diese. Eine Drahtanbindung an den Digitalfunk sei nur durch zertifizierte Geräte erlaubt. Das FNAS habe eine eigene vom Einsatzleitsystem unterschiedliche Bedienoberfläche. Auf dieser Bedienoberfläche würden u. a. die Belegung und die Auslastung der Arbeitsplätze der Leitstellen dargestellt. Zur Vermeidung von Fehlern und von Zeitverlusten sei eine der wesentlichen Vorgaben der Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung, dass die Bedienoberflächen beider FNAS funktional und optisch an allen Einsatzleitplätzen gleich vorzuhalten seien. Diese Anforderung der funktional gleichen Bedienung verlange Eingriffe und die Anpassung der Quellcodes der FNAS-Software, wenn diese funktionale Anforderung unterschiedlicher Systeme erfüllt werden solle. Die fehlerfreie Anwendung setze eine intensive Schulung voraus. In der Ausschreibung sei für die Bedienung des FNAS ein hoher Umfang an Schulungen (alleine 16 Tage für den Bauabschnitt 1) vorgesehen, damit sich die Disponenten gut einarbeiten könnten. Ein Wechsel zu einem anderen FNAS, besonders in einer kritischen Lage (Massenanfall von Verletzten) würde kein Leitstellenleiter zulassen, da die benötigten Routinen nicht vorhanden seien und auch nicht erprobt werden könnten.

152

Weitere Voraussetzung für die Vernetzung der FNAS unterhalb der Bedienoberfläche sei der „Überlauf“ von Notrufen. Es solle sichergestellt werden, dass eine Leitstelle anderen bei der Abarbeitung der Notrufe aushelfe, wenn diese aus Kompatibilitätsgründen oder technischen Schwierigkeiten nicht in der Lage sei, einen Notruf aus ihrem Einsatzgebiet zu bearbeiten. Auch die Realisierung eines solchen Überlaufs bedürfe einer physikalischen und funktionalen Vernetzung, zu der die Hersteller unterschiedlicher FNAS-Systemen ihre technischen Lösungen und Rechte (als Unternehmensgeheimnisse) gegenüber dem anderen Hersteller offenlegen müssten, um zu einer gemeinsamen technischen Lösung zu kommen.

153

Eine universelle Schnittstelle, die einen solchen Datenaustausch, der sowohl Metadaten (Text) als auch digitale Sprachdaten umfasse, gebe es nicht, wie etwa der Stellungnahme der C. mbH vom 26. April 2022 (S. 2, Anlage Ast. 9) entnommen werden könne. Bei dem ihr von dem Landkreis V. erteilten Auftrag handele es sich nicht um eine Vernetzung von FNAS im Sinne der hiesigen Leistungsbeschreibung, insbesondere der Anforderungen nach Ziffer 10 der Leistungsbeschreibung. Der Auftrag an sie betreffe nur die Vernetzung von Telekommunikationsanlagen, also Telefonanlagen - ihre Mitwirkung auf der Seite des Landkreises V., während auf Seiten des Landkreises D. das dort die Telefonanlage supportende Unternehmen mitzuwirken habe - und nicht die Vernetzung von FNAS. Es gehe ausschließlich um die Weiterleitung von Anrufen von einer Anlage an die andere. Die Leistung entspreche dem im letzten Spiegelstrich von Ziffer 10 angesprochenen Unterpunkt „Weiterleitung von Notrufen mit Drängelton“. Es gehe weder um funktional und optisch identische Bedienflächen noch um Dokumentation oder Schnittstellen zu anderen technischen Anlagen der Leitstelle.

154

Die Ausführungen auf S. 56 der technischen Leistungsbeschreibung bezogen auf andere Leitstellentechniken, Digitalfunk Gateways und Remote-Devices beträfen nicht die Anforderungen an die vollständige Vernetzung. Auch die auf S. 56 unten erwähnten „noch zu beschaffende redundante Vernetzungen“ beträfen nicht die funktionalen Anforderungen an die Vernetzung. Die redundanten Vernetzungen seien im IT-Konzept in Abschnitt 5 beschrieben und in den Anhängen 1 bis 4 dargestellt. Es gehe hier um die Technik, Hardware und IT-Umgebungen auf unterschiedlichen Ebenen, insbesondere Server.

155

Der von dem Beschwerdegegner und der Beigeladenen als Beleg dafür, dass allenfalls eine Mitwirkung an einer Vernetzung in Form einer Dienstleistung geschuldet werde, herangezogene Absatz (Seite 56 unten) relativiere die Anforderungen an die vollständige Vernetzung, insbesondere durch Herstellung einer funktional sowie optisch an allen Einsatzplätzen gleich vorzuhaltenden Bedienoberfläche in der I. Süd und der I. Mitte nicht. Dieser Absatz besage lediglich, dass es für die Vernetzung auch des zu errichtenden FNAS einer Abstimmung mit der „Partnerleitstelle“ bedürfe, insbesondere die Details der Schnittstellen betreffend. Nicht ausgeschlossen vom Leistungsumfang würden die notwendigen Leistungen zur Programmierung einer solchen Schnittstelle das eigene System betreffend bzw. die Herstellung einer Kompatibilität des eigenen Systems, insbesondere der eigenen Software zur Nutzung einer von einem Dritten programmierten Schnittstelle. Durch diesen Absatz werde lediglich klargestellt, dass der Auftragnehmer nicht zusätzlich noch für die Änderung von Techniken in der Partnerleitstelle I. Mitte in K. verantwortlich sei, wobei es sich um eine Selbstverständlichkeit handele.

156

Unzutreffend habe die Vergabekammer die Auffassung vertreten, dass der Wortlaut der Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung nicht dahingehend zu verstehen sei, dass sich die I. Süd an die bereits bestehenden Begebenheiten der I. Mitte anpassen müsse; dort werde nur geregelt, dass an beiden Standorten gleiche Bedingungen herrschen müssten. Auf Ziffer 10.1 die Redundanztechnik in der Partnerleitstelle betreffend könne sich die Vergabekammer mit Recht nicht beziehen, denn dort gehe es nicht um die softwareseitigen Voraussetzungen für die Vernetzung, sondern um Technik.

157

Wenn sich die technische Leistungsbeschreibung objektiv auch dahingehend interpretieren ließe, dass von dem zukünftigen Auftragnehmer tatsächlich nur eine Bereitstellung seines Funk- und Notrufabfragesystems im Informationsaustausch mit der I. Mitte und eine Mitwirkung an einer Nutzung noch von der I. Mitte oder wem auch immer zu entwickelnden Schnittstelle zum MECC in der I. Mitte geschuldet sei, wäre die Ausschreibung in einer Weise mehrdeutig, dass auf ihrer Grundlage keine vergleichbaren Angebote abgegeben werden könnten. Mit dem Wissen, dass nach dem Vertrag von dem Auftragnehmer keine Verpflichtung eingegangen werde, das eigene FNAS mit dem vorhandenen oder einem neuen System der I. Mitte kompatibel zu machen, hätte die Beschwerdeführerin ihr Angebot anders kalkuliert. Einerseits hätte sie davon ausgehen müssen, dass sich die Beigeladene und andere Unternehmen mit Zuschlagschance auf den Auftrag hätten bewerben können. Dies hätte zu einer Preisoptimierung geführt. Andererseits hätte sie ihre eigene Schnittstellenkonzeption auch dahingehend optimieren können, dass von ihr kalkulierte Leistungen nicht für den Beschwerdegegner, sondern als Servicepartner der Stadt K. erbracht werden würden. Auf Grundlage einer solchen intransparenten Leistungsbeschaffung könne ein Zuschlag nicht erteilt werden. Das Vergabeverfahren müsste in den Stand vor Übermittlung der Vergabeunterlagen an die ausgewählten Teilnehmer zurückversetzt werden.

158

Die Stadt K. habe in ihrem Schreiben vom 6. Juni 2022 (Anlage BF 2 zum Schriftsatz vom 9. Juni 2022) bestätigt, dass zwischen ihr und dem Antragsgegner bereits festgelegt worden sei, welche technischen Voraussetzungen von den Leitstellen für eine vollständige Vernetzung der FNAS geschaffen werden müssten. In dem Schreiben heiße es u.a.:

159

„Es gab verschiedene Abstimmung mit dem Kreis S., um das Ziel einer vollumfänglichen Vernetzung und Redundanz der beiden Leitstellen in Bezug auf das Funk- und Notrufabfragesystem zu erreichen. Dies soll u.a. die Vorhaltung gleicher Bedienoberflächen und Funktionsumfänge in der Bedienung umfassen ... Die redundante Vernetzung soll auf der Grundlage des in K. eingesetzten MECC erfolgen, und für alle technischen, operativen und bedienerbezogenen Funktionen gelten. Neben dem „Überlauf“ von Anrufen soll in letzter Eskalationsstufe der vollumfängliche Betrieb einer der beiden Leitstellen am Standort der Partnerleitstellen ohne umfangreiche technische Maßnahmen und gesonderte Disponentenschulungen möglich sein. Aufgrund der auszuführenden Tätigkeiten (Disponierung von Notrufen) sind Routinen in den Handlungsfeldern der Disponenten unumgänglich. Aus diesem Grunde ist eine identische Bedienung der Systeme von hoher Wichtigkeit...

160

... Die Stadt K. hat den MECC (Sinus NT) 2018 mit einer Vertrags- bzw. Abschreibungslaufzeit von 10 Jahren beschafft. Eine vorgezogene Neubeschaffung bzw. der Wechsel auf ein anderes System ist nach heutigem Stand wieder strategisch noch haushälterisch geplant ...“

161

Im Übrigen mangele es an der erforderlichen Ausschreibungsreife. Diese sei nur gegeben, wenn die Vergabeunterlagen dahin auszulegen seien, dass eine vollständige Vernetzung der FNAS vom künftigen Auftragnehmer gefordert werde. Einen solchen Auftrag erfüllen könnten nur Bieter, die auch das MECC angeboten haben und in der Lage seien, dieses MECC mit dem MECC in K. zu vernetzen. Das Angebot der Beigeladenen, die das FNAS ASGARD angeboten hat, wäre auszuschließen. Werde keine vollständige Vernetzung der FNAS verlangt, würde es an der erforderlichen Ausschreibungsreife fehlen. Die Vergabekammer vertrete zu Unrecht die Auffassung, dass zwischen Auftragsvergabe an die Beigeladene und dem Beginn des Bauabschnitts 2 noch genügend Zeit zur Verfügung stünde, um mit der Stadt K. die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Vernetzung zu klären. Die Vergabekammer verkenne auch, dass der an die Beigeladene vergebene Auftrag geändert werden müsste. Der Auftragsumfang müsste erweitert werden. Dies wäre vergaberechtlich unzulässig, § 132 Abs. 1 und 2 GWB. Der Auftrag müsste gemäß § 133 GWB gekündigt und neu ausgeschrieben werden.

162

Ihr Angebot sei nicht auszuschließen. Ihr Ausschluss könne nicht mit einem Verstoß gegen die Verschwiegenheitsverpflichtung begründet werden. Sie habe gegen diese nicht verstoßen, da sie die Weitergabe von Informationen zum Zweck der Teilnahme an dem Vergabeverfahren nicht verbiete. Die Vereinbarung sei überdies unwirksam. Ein derartiges Verbot sei auch am Maßstab von Art. 53 Abs. 1 u. Abs. 1 Satz 1 RL 2014/24/ EU vergaberechtswidrig, die vollständigen Vergabeunterlagen seien auch in einem zweistufigen Vergabeverfahren bekannt zu machen.

163

Die Antragstellerin beantragt:

164

(1) Der Beschluss der Vergabekammer Schleswig-Holstein vom 24.05.2022, Az. VK-SH 01/22 wird abgeändert.

165

(2) Die Wertung der Angebote in dem Vergabeverfahren wird unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Vergabesenats wiederholt.

166

(3) Hilfsweise: Das Vergabeverfahren wird bei vorstehender Beschaffungsabsicht in den Stand vor Bereitstellung der Vergabeunterlagen zurückversetzt. Der Beschwerdegegner wird verpflichtet, die Leistungsbeschreibung unter Berücksichtigung der Hinweise der Rechtsauffassung des Vergabesenats zu überarbeiten.

167

(4) Der Beschwerdegegner trägt die Kosten des Vergabeverfahrens und des Verfahrens der sofortigen Beschwerde. Es wird festgestellt, dass die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten auf Seiten der Beschwerdeführerin im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig ist.

168

Der Antragsgegner beantragt,

169

1. die sofortige Beschwerde vom 03.06.2022 als unbegründet zurückzuweisen,

170

2. der Beschwerdeführerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer aufzuerlegen,

171

3. festzustellen, dass die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdegegners zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung vor der Vergabekammer und dem Vergabesenat notwendig war,

172

4. der Beschwerdeführerin aufzuerlegen, dass sie alle zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdegegners im Beschwerdeverfahren und in dem Verfahren vor der Vergabekammer zu tragen hat und ihre eigenen Kosten selbst trägt.

173

Der Antragsgegner tritt dem Beschwerdevorbringen entgegen und führt im Wesentlichen aus:

174

Die Antragstellerin sei bei Einreichung ihres Angebots nicht davon ausgegangen, dass sie sich in einem Wettbewerb befinde, denn sie behaupte in ihrem Rügeschreiben vom 30. März 2022, dass ohne ihre Mitwirkung die erforderliche Schnittstelle zur vollständigen Vernetzung der FNAS nicht hergestellt werden könne. Sie sei mit ihrem Vorbringen daher nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert.

175

Die Beigeladene sei nicht auszuschließen, Vergabereife liege vor. Es sei nicht Bestandteil der Angebotserstellung gewesen, eine finale oder gar „vollständige“ Vernetzung anzubieten. Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung beschreibe lediglich „Anforderungsbeispiele“ für eine zukünftige, nicht verfahrensgegenständliche Vernetzung. Gefordert sei nur eine Berücksichtigung der Schnittstellenabstimmung, nicht die Schnittstellen selbst (vgl. S. 56 der technischen Leistungsbeschreibung), was durch die Ausführungen auf Seite 55 der technischen Leistungsbeschreibung und die Beantwortung der Bieterfrage 16 noch einmal verdeutlicht worden sei. Die Aufklärung des Antragsgegners bei der Beigeladenen habe ergeben, dass die Leistungsanforderungen zur Vernetzung durch diese realisierbar seien.

176

Die Vernetzung sei nicht unmöglich, insbesondere seien die Systeme MECC und ASGARD nicht inkompatibel. Die Beigeladene habe bestätigt, dass alle Anforderungsbeispiele der technischen Leistungsbeschreibung (Abschnitt 10, Seite 55) gemeinsam technisch realisiert werden könnten. Auch die übrigen Bieter hätten die Aufgabenstellung so erkannt und verstanden. Die Erstellung von gleichen Bedienoberflächen, die gleiche Anordnung von Buttons zur Annahme des Notrufes, die Anordnungsbelegung von Kurzwahltasten oder der Bedienung des Digitalfunks sei in allen am Markt verfügbaren FNAS-Systemen möglich.

177

Vergabereife liege vor, jedenfalls wären die Voraussetzungen des § 132 GWB zu bejahen.

178

Das Angebot der Antragstellerin sei wegen Änderung der Vergabeunterlagen nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV auszuschließen. Die Antragstellerin habe entgegen der von ihr übernommenen Verschwiegenheitsverpflichtung Daten an Dritte weitergeleitet. Dem Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 20. April 2022 und den dazu gehörigen Anlagen könne entnommen werden, dass diese unbefugt entgegen der abgegebenen Verschwiegenheitserklärung Informationen an am Vergabeverfahren nicht beteiligte Dritte weitergeleitet habe. Das gelte insbesondere für die Angaben in der E-Mail des Herrn He. von der C. mbH (Anlage AST 9); dort seien Teile der technischen Leistungsbeschreibung, mithin vertrauliche Informationen, enthalten. Durch die Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung liege kein zuschlagsfähiges Angebot der Antragstellerin mehr vor, weil das Angebot infolge der Weitergabe von vertraulichen Unterlagen an zwei nicht am Verfahren beteiligte Planungsbüros von den Vertraulichkeitsvorgaben abweiche. Dieses Verhalten berechtigte ferner zum Ausschluss der Antragstellerin wegen nicht zweifelsfreier Erklärungen nach § 57 Abs. 1 Nr. 5 VgV. Die Antragstellerin sei auch nach § 124 Abs. 1 Nr. 9 c GWB vom Verfahren auszuschließen, weil sie - durch Abgabe der später verletzten Verschwiegenheitserklärung - irreführende Informationen übermittelt habe, die die Vergabeentscheidung des Auftraggebers beeinflussen könnten. Die Antragstellerin sei auch nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB auszuschließen, da sie - durch die Weiterleitung von geheimhaltungsbedürftigen Angaben - eine schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit begangen habe und ihre Integrität deshalb in Frage zu stellen sei. Ferner sei die Antragstellerin nach § 124 GWB auszuschließen wegen wettbewerbswidriger Absprachen und einer Verletzung des Geheimwettbewerbes im Hinblick auf ihre Zusammenarbeit mit dem von der Antragsgegnerin ausgeschlossenen Bieter, der ebenfalls ein MECC der Antragstellerin angeboten hätte.

179

Die Beigeladene beantragt,

180

die sofortige Beschwerde der Antragstellerin als unbegründet zurückzuweisen.

181

Die Beigeladene tritt den Angriffen der sofortigen Beschwerde gegen die Entscheidung der Vergabekammer entgegen. Der Nachprüfungsantrag sei unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Insbesondere sei eine Vernetzung des MECC der Antragstellerin mit anderen Kommunikationssystemen technisch möglich, wie sich aus der kürzlich von dem Landkreis V. der Antragstellerin beauftragten Vernetzung der TK-Anlagen MECC in V. und EmC2 in D. zeige (vergleiche UVgO Bekanntmachung vom 7. Juni 2022, Anlage Bg1, Bl. 161 f. der Akte 54 Verg 2/22).

182

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten im Beschwerdeverfahren wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Der Senat hat die Sache am 8. September 2022 (Protokoll Bl. 138 f. der Akte) unter Anhörung der Parteien - für den Antragsgegner dessen Planer P. - verhandelt. Der Inhalt des nicht nachgelassenen Schriftsatzes des Antragsgegners vom 13. September 2022 bot keine Veranlassung dazu, entsprechend § 156 ZPO erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten.

II.

183

Die zulässige sofortige Beschwerde der Antragstellerin vom 3. Juni 2022 gegen den Beschluss der Vergabekammer Schleswig-Holstein vom 24. Mai 2022 ist begründet.

184

Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist nach § 172 Abs. 1 - 3 GWB zulässig, sie ist insbesondere innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses bei dem Vergabesenat erhoben, rechtzeitig begründet und durch einen Rechtsanwalt unterzeichnet worden. Die sofortige Beschwerde ist begründet, denn der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig (A) und begründet (B).

185

A. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig. Der Rechtsweg zu den Nachprüfungsinstanzen nach den §§ 102 ff. GWB ist eröffnet. Der Wert für den ausgeschriebenen Lieferauftrag liegt über dem in dem Jahr 2021 geltenden Schwellenwert von € 214.000,00 nach § 106 Abs. 1, 2 GWB in Verbindung Art. 4 c der Richtlinie 2014/24/EU in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung. Es handelt sich um die Vergabe eines Auftrages durch einen öffentlichen Auftraggeber gemäß § 99 Nr. 1 GWB, eine Gebietskörperschaft.

186

Insbesondere liegt die Antragsbefugnis der Antragstellerin nach § 160 Abs. 2 GWB vor (1). Die Rügen sind nicht nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert (2).

187

1) Die Antragstellerin ist antragsbefugt. Nach § 160 Abs. 2 GWB hat der Antragsteller bei der Stellung des Nachprüfungsantrages darzulegen, dass er in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften verletzt ist und ihm dadurch ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht. Erforderlich ist, dass ein Unternehmen mit Interesse am Auftrag eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB schlüssig aufzeigt (BGH, Beschluss vom 31. Januar 2017 - X ZB 10/16, Rn. 12). Das ist hier bei der Antragstellerin, die zweitbeste Bieterin ist und den Ausschluss der Beigeladenen als Zuschlagsprätendentin, jedenfalls eine Rückversetzung des Verfahrens vor die Aufforderung zur Angebotsabgabe erstrebt, der Fall.

188

Die Antragsbefugnis der Antragstellerin kann auch im Hinblick auf die von der Antragstellerin in zweiter Linie geltend gemachte Verletzung des Transparenzgrundsatzes nicht verneint werden. Denn auch insoweit hat die Antragstellerin ihr einen drohenden Schaden schlüssig dargelegt mit dem Vorbringen, sie hätte - wäre von dem Antragsgegner mit der Ausschreibung entgegen ihrem Verständnis eine Vernetzung der FNAS nicht verlangt worden - ein wirtschaftlicheres Angebot unterbreitet. Tatsächlich liegt das Angebot der Antragstellerin in der Summe zum Titel 05.07 „Redundanztechnik Dienstleistungen“ preislich höher als das Angebot der Beigeladenen.

189

Ein der Antragstellerin nach § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB drohender Schaden kann auch nicht mit der Begründung verneinen werden, dass die Antragstellerin angesichts der Weitergabe von Einzelheiten der technischen Leistungsbeschreibung und des Leistungsverzeichnisses zum FNAS an von ihr mit der Fertigung von Stellungnahmen für das Nachprüfungsverfahren beauftragte Beratungsunternehmen wegen einer Verletzung ihrer Pflicht zur Vertraulichkeit aus der von ihr unter dem 26. November 2021 unterzeichneten Verschwiegenheitserklärung (Anlage AG 03; dort Ziffer 2 f.:„... Vertraulichen Informationen vertraulich zu behandeln und nicht gegenüber Dritten offenzulegen oder ihnen anderweitig zugänglich zu machen ...“) oder aus sonstigen Gründen von dem Antragsgegner nach § 124 GWB aus dem Vergabeverfahren auszuschließen oder ihr Angebot nach § 57 Nr. 4 VgV wegen eines unzulässigen Abweichens von Vergabeunterlagen von der Wertung auszuschließen ist.

190

Die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Antragstellerin nach § 124 GWB bzw. ihres Angebots von der Wertung nach § 57 Nr. 4 VgV liegen nicht vor. Insbesondere gilt dies im Hinblick auf die Weitergabe von Informationen aus dem Vergabeverfahren durch die Antragstellerin an die Ingenieurbüros, deren Stellungnahmen zur Vernetzbarkeit der FNAS die Antragstellerin im Vergabeverfahren vorgelegt hat.

191

Die Verschwiegenheitserklärung konnte entsprechende Verpflichtungen der Bieter nicht begründen. Denn die dort enthaltenen Vertraulichkeitsvereinbarung ist nach § 307 Abs. 1, 2 Nr. 2 BGB unwirksam. Der Senat ist auch im Vergabenachprüfungsverfahren gehalten, die Wirksamkeit der Verschwiegenheitsvereinbarung am Maßstab von § 307 BGB zu prüfen. Denn die Wirksamkeit der Klausel ist eine zivilrechtliche Vorfrage für die vergaberechtliche Prüfung eines Ausschlusses der Antragstellerin nach § 124 GWB. Die in der von der Antragstellerin am 26. November 2021 unterzeichneten Verschwiegenheitserklärung (Anlage AG 03) in den Ziffern 2 ff. vereinbarte Geheimhaltungsverpflichtung der Bieter ist nach § 307 Abs. 1, 2 Nr. 2 BGB wegen unangemessener, gegen Treu und Glauben verstoßender Benachteiligung der Bieter unwirksam, denn sie schränkt wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des abzuschließenden Vertrages ergeben, so ein, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. Sowohl bei der Vertraulichkeitsvereinbarung als auch bei Ziffer 14.7 der technischen Leistungsbeschreibung handelt es sich um von dem Antragsgegner gestellten allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB, mithin um für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen. Entgegen der von dem Antragsgegner vertretenen Auffassung handelt es sich bei der von der Antragstellerin unter dem 26. November 2021 unterzeichneten Vertraulichkeitsvereinbarung nicht um eine reine Vergabebedingung, die nicht der AGB-Kontrolle unterliegt. Denn die Verschwiegenheitserklärung ist eine vertragliche Vereinbarung der Parteien, nämlich als selbständiges konstitutive Schuldversprechen gefasst, in dem sich der Bieter nach deren Ziffer 6 gegenüber dem Auftraggeber bei einer Verletzung der Vertraulichkeitsverpflichtung zum Schadensersatz verpflichtet.

192

Bei der nach § 305 c Abs. 2 BGB gebotenen Auslegung der Bestimmungen zu Lasten des Verwenders ist davon auszugehen, dass diese die Weitergabe von Informationen aus dem Vergabeverfahren durch die Bieter auch untersagen, wenn diese Weitergabe für die Bieter zur Teilnahme am Verfahren, etwa an Lieferanten und Nachunternehmer, erforderlich oder die Weitergabe an zur beruflichen Verschwiegenheit verpflichtete Berater, etwa Rechtsanwälte, zur Wahrung der Interessen der Bieter geboten ist. Das ist unangemessen. So sieht sogar § 6 Abs. 3 Satz 2 VSvgV für vertrauliche Informationen im Anwendungsbereich der Vergabe von verteidigungs- oder sicherheitsspezifischen öffentlichen Aufträgen nach den §§ 1 VSVgV in Verbindung mit § 104 Abs. 1 GWB, der hier nicht eröffnet ist, vor, dass Bewerber, Bieter und Auftragnehmer für die Unterauftragsvergabe als vertraulich eingestufte Informationen an Dritte weitergeben dürfen.

193

Die Antragstellerin war nicht gehalten, die zivilrechtliche Unwirksamkeit der Vertraulichkeitsvereinbarung nach § 160 Abs. 3 GWB zu rügen, um sich hierauf im Verfahren berufen zu dürfen. Denn hierbei handelt es sich nicht um eine der Rügeobliegenheit unterliegende Vergabevorschrift im Sinne des § 160 Abs. 3 GWB, 97 Abs. 6 GWB.

194

Im Übrigen wäre - wenn entgegen der Auffassung des Senats von wirksamen Geheimhaltungsbestimmungen auszugehen wäre - ein Ausschluss der Antragstellerin aus dem Vergabeverfahren nach § 124 GWB wegen der Weitergabe von Einzelheiten von Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis zum FNAS an ihre technischen Berater zur Fertigung von Stellungnahmen zur die Wahrung ihrer Rechte im Nachprüfungs- und Beschwerdeverfahren im Rahmen des hierbei auszuübenden Ermessens nicht geboten. Eine Ermessensreduzierung auf Null läge insoweit nicht vor. Es ist bereits nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich, dass es sich bei den von der Antragstellerin an die sie im Nachprüfungsverfahren beratenden Ingenieure weitergegebenen Informationen aus der technischen Leistungsbeschreibung (Ziffer 10) und des Leistungsverzeichnisses zum FNAS um tatsächlich geheimhaltungsbedürftige Umstände handelt, deren Kenntnis etwa Cyberangriffe auf die Leitstelle begünstigen kann. Im Ausgangspunkt handelt es sich bei Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis um den Marktteilnehmern öffentlich bekannt zu machende Angaben, § 41 Abs. 1 VgV. Einzelheiten zu der Ausstattung I. und den dortigen Prozessen findet sich in Sachsen etwa in dem Rahmenlastenheft der Anlage 3 zu § 18 Abs. 4 der sächsischen Landesrettungsdienstplanverordnung (SächsLRettDPVO). Vielerorts wird - wie sich Auftragsbekanntmachungen in TED entnehmen lässt - die Ausstattung von I. im offenen Verfahren mit freiem Zugang zu Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis ausgeschrieben (vgl. etwa: TED: Deutschland-Freudenstadt: Informationssysteme und Server 2022/S 100-276680 - Beschaffung der IT-Infrastruktur für die Integrierte Leitstelle Freudenstadt sowie Deutschland-Weißenburg: Informationssysteme und Server für die ILS Mittelfranken-Süd, 2021/S 209-546626).

195

Soweit der Antragsgegner einen Ausschluss der Antragstellerin nach § 124 GWB nunmehr auch wegen „wettbewerbswidriger Absprachen, Verletzung des Geheimwettbewerbs“ mit dem „Drittunternehmen“, das ebenfalls ein MECC der Antragstellerin angeboten hatte und von dem Antragsgegner aus dem Verfahren ausgeschlossen worden ist, geltend macht, wäre dieser auch dann nicht veranlasst, wenn im Verhältnis zwischen dem Drittunternehmen und der Antragstellerin hinsichtlich des FNAS MECC im Rahmen des Angebotes des ausgeschlossenen Drittunternehmens ein Nachunternehmerverhältnis vorgelegen hätte. Nach zutreffender und vom Senat geteilter Auffassung liegt ein Verstoß gegen den Geheimwettbewerb im Sinne von § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB in der Regel nicht vor, wenn sich ein Unternehmen als Einzelbieter und als Nachunternehmer eines konkurrierenden Bieters am Vergabeverfahren beteiligt, nachdem sich der Einsatz als Nachunternehmer regelmäßig auf eine Teilleistung bezieht und keine Kenntnis von dem Angebot des Hauptauftragnehmers vermittelt (vgl. Opitz in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 124, Rn. 72). Anhaltspunkte für eine hiervon abweichende Sachlage bestehen nicht.

196

2) Der Antrag ist nicht nach § 160 Abs. 3 GWB unzulässig; die Antragstellerin ist mit ihren Rügen nicht präkludiert. Nach § 160 Abs. 3 GWB ist der Antrag u.a. dann unzulässig, soweit 1. der Antragsteller den geltend gemachten Verstoß gegen Vergabevorschriften vor Einreichen des Nachprüfungsantrags erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt hat, 2. Verstöße gegen Vergabevorschriften, die aufgrund der Bekanntmachung erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden, 3. Verstöße gegen Vergabevorschriften, die erst in den Vergabeunterlagen erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden.

197

Der Rügeobliegenheit unterliegen die vom Auftraggeber im Vergabeverfahren getroffenen Entscheidungen und diejenigen Zwischenentscheidungen, die relevante Festlegungen für später zu treffende Entscheidungen des Auftraggebers enthalten, etwa die Wahl der Vergabeverfahrensart und die Aufstellung von Vergabebedingungen und/oder die Unterlassung der Bekanntgabe notwendiger Kriterien in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen – immer vorausgesetzt, dass in solchen Entscheidungen der jeweilige (im späteren Nachprüfungsantrag geltend gemachte) Vergaberechtsverstoß zum Ausdruck kommt (vgl. Jaeger in: Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, 4. Auflage 2022, § 160 GWB, Rn. 55).

198

Ob (geltend gemachte) Vergabeverstöße nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert sind, ist für jede erhobene Rüge eines Vergabeverstoßes gesondert zu prüfen (OLG Celle, Beschluss vom 31. Juli 2008 - 13 Verg 3/08, juris Rn. 23; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Oktober 2015 - VII-Verg 28/14, juris Rn. 24; Senat, Beschluss vom 22. Januar 2019 – 54 Verg 3/18, juris Rn. 69).

199

Die Erkennbarkeit ist dabei auf die einen Rechtsverstoß begründenden Tatsachen und deren rechtliche Bewertung als Vergaberechtsverstoß zu beziehen. Die Erkennbarkeit des Verstoßes gegen Vergabevorschriften bezieht sich dabei nicht ausschließlich auf die den Vergabeverstoß begründenden Tatsachen, sondern zudem auf deren rechtliche Bewertung als Vergaberechtsverstöße. Demnach muss auch ein juristischer Laie erkennen können, dass vergaberechtliche Bestimmungen verletzt wurden. Eine Rügepräklusion ist nur möglich bei offensichtlichen Verstößen, die einem verständigen Bieter bei der Vorbereitung seines Angebots bzw. seiner Bewerbung hätten auffallen müssen. Es ist jedoch unerheblich, ob der Antragsteller den Fehler tatsächlich erkannt hat (vgl. Horn/Hofmann in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 160 GWB, Rn. 50). Maßgeblich ist, ob der Verstoß gegen Vergabevorschriften aufgrund der Bekanntmachung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht dem durchschnittlich fachkundigen Bieter bei üblicher Sorgfalt erkennbar war und die Nichtfeststellung dieses Verstoßes insoweit vorwerfbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 12. März 2015 - C-538/13 „eVigilo“, Rn. 55, 58 = EuZW 2015, 391, 394).

200

Die Rügeobliegenheit des § 160 Abs. 3 GWB ist nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB, u.a. einer Verletzung in Rechten des Antragstellers durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften nach § 97 Abs. 6 GWB, als weiterer Zulässigkeitsvoraussetzung zu betrachten. Es wäre nicht sinnvoll, eine Rüge in Bezug auf solche Vergabefehler zu verlangen, aus denen sich für den Antragsteller kein Nachteil im Sinne von § 160 Abs. 2 GWB ergibt, da die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags dann spätestens an der Antragsbefugnis scheitern würde. Eine Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 GWB besteht daher nur hinsichtlich solcher Verstöße gegen Vergabevorschriften, aus denen eine Verschlechterung der Zuschlagschance des Antragstellers resultiert. Infolge einer Gesamtschau mit der Regelung zur Antragsbefugnis ergibt sich danach eine Einschränkung der Rügeobliegenheit. (vgl. Horn/Hofman, in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 160 GWB, Rn. 66).

201

Diese Voraussetzungen für die Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 GWB liegen für die von der Antragstellerin mit dem Nachprüfungsantrag geltend gemachten Rügen nicht vor. Im Einzelnen:

202

a) Nicht nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert ist zunächst die Rüge der Antragstellerin, das Angebot der Beigeladenen hätte nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV ausgeschlossen werden müssen, weil es von den Vorgaben der Leistungsbeschreibung abweiche, die bei deren gebotener Auslegung eine Hardwareredundanz und eine vollständige Vernetzung der FNAS verlange; die Beigeladene habe dies nicht angeboten und könne dies nicht leisten.

203

Der Antragstellerin war vor der Mitteilung des Antragsgegners nach § 134 Abs. 1 GWB vom 23. März 2022, auf die innerhalb der Frist des § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB ihre Rüge erfolgte, nicht positiv bekannt und auch nicht im Sinne von § 160 Abs. 3 Nr. 2 und 3 GWB erkennbar, dass der Auftrag an ein Unternehmen erteilt werden sollte, dass als FNAS nicht das MECC der Antragstellerin einsetzen konnte. Auf der Grundlage der gut vertretbaren Auslegung der Vergabeunterlagen durch die Antragstellerin, dass der Auftrag eine vollständige Vernetzung der FNAS der I. Süd und I. Mitte beinhalte (siehe unten B.2.a) und angesichts ihres in der I. Mitte eingesetzten Programms MECC die für den Zuschlag vorgesehene Beigeladene wegen einer Änderung des Angebots auszuschließen sei, kann eine Präklusion ihrer entsprechenden Rüge nach § 160 Abs. 3 GWB nicht angenommen werden. Die Auslegung einer im Leistungssoll stehenden Vernetzung der FNAS durch die Antragstellerin ist durchaus vertretbar; positive Kenntnis von einem gegenteiligen Willen des Antragsgegners hatte die Antragstellerin nicht; eine anderweitig gebotene Auslegung der Leistungsbeschreibung war für die Antragstellerin auch nicht im Sinne von § 160 Abs. 3 GWB erkennbar.

204

Der Antragstellerin war nicht bekannt, ob sich neben ihr weitere, und ggf. welche Unternehmen an dem Vergabeverfahren beteiligten. Die Beteiligung jedenfalls eines weiteren Unternehmens, dass ein MECC einsetzen und damit eine vollständige Vernetzung der FNAS leisten konnte, war möglich. Denkbar wäre im Übrigen auch, dass sich nach Bekanntgabe der technischen Leistungsbeschreibung (überhaupt) kein weiteres Unternehmen beworben hätte. Die Antragstellerin hat unwiderlegt vorgetragen, dass jedenfalls ein weiteres Unternehmen existiert, das zum Einsatz ihres MECC lizensiert ist. Der Vergabeakte kann entnommen werden, dass sich dieses Unternehmen in dem Teilnahmeverfahren (erster Stufe) unter Angebot des MECC tatsächlich beworben hatte. Im Übrigen obläge es der Antragstellerin nach § 160 Abs. 3 GWB auch dann nicht, eine Leistungsbeschreibung zu beanstanden, wenn diese in dem Teilbereich des FNAS nur von ihr erfüllt werden könnte. Abgesehen davon, dass eine produktspezifische Leistungsbeschreibung unter den engen Voraussetzungen von § 31 Abs. 6 Satz 1 letzter Halbsatz VgV zulässig sein kann, würde ein etwaiger Vergaberechtsverstoß hierdurch nicht - wie für eine Rüge nach § 160 Abs. 3 GWB im Zusammenwirken mit der Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB erforderlich, Bieterrechte der Antragstellerin verletzten, die zur Erbringung der Vernetzung der FNAS ohne weiteres in der Lage ist. Auch die Beschränkung der Zahl der Bieter auf fünf in Ziffer II.2.9) der Auftragsbekanntmachung vom 5. November 2021 führt für die Bieter nicht zu einem erkennbar gegen das Verständnis der ihr in der zweiten Verfahrensstufe unter dem 5. Januar 2022 zur Verfügung gestellten Vergabeunterlagen technische Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis durch die Antragstellerin, dass mehr als fünf Bieter die Leistungsanforderungen der Ausschreibung erfüllen könnten und nach den Vergabeunterlagen ein entsprechender Wettbewerb zu erwarten sei. So kann die Beschränkung routinemäßig ohne Bezug zu Einzelheiten des Leistungsgegenstandes vorgenommen und/oder können die Einzelheiten der Leistungsbeschreibung und des technischen Leistungsverzeichnisses auch erst nach der Auftragsbekanntmachung festgelegt worden sein.

205

Der Antragstellerin oblag im Rahmen der Verfahrensförderungspflicht nach § 167 Abs. 2 Satz 1 GWB und nach den §§ 241 Abs. 2, 311 Abs.2 Nr. 1 BGB nicht eine Nachfrage- und Hinweispflicht zu ihrer Auslegung der Vergabeunterlagen, auftragsgegenständlich sei auch die softwareseitige Vernetzung der FNAS der I. Süd und der I. Mitte. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Antragsgegner in II.2.9. der Auftragsbekanntmachung angekündigt hatte, höchstens fünf Bewerber zur Angebotsabgabe auffordern zu wollen und das FNAS MECC in der technischen Leistungsbeschreibung nicht erwähnt hatte.

206

Die Mitwirkungspflichten des § 167 Abs. 2 GWB betreffen das Verhalten der Beteiligten vor der Vergabekammer im Nachprüfungsverfahren, nicht jedoch ihr Verhalten im Verfahren gegenüber der Vergabestelle. Auch wenn das Risiko einer Unklarheit der Vergabeunterlagen grundsätzlich bei dem Auftraggeber liegt, können sich allerdings aus dem mit der Anforderung der Vergabeunterlagen nach den §§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB entstandenen vorvertraglichen Schuldverhältnis Nachfrage- und Hinweispflichten der Bieter bei einer erkennbar unklaren oder lückenhaften Leistungsbeschreibung ergeben (vgl. Lampert in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 121 GWB, Rn. 85 ff. mwN). Eine derartige Verpflichtung der Antragstellerin bestand angesichts der gut vertretbaren Auslegung der Vergabeunterlagen dahingehend durch die Antragstellerin, die Schaffung der Voraussetzungen für eine auch softwareseitige Vernetzung der FNAS sei auftragsgegenständlich, nicht (vgl. hierzu unten B.2.a).

207

b) Auch die weiteren von der Antragstellerin vorsorglich für den Fall, dass wider Erwarten entgegen ihrer Auslegung der Leistungsbeschreibung nicht von einer zum Leistungssoll der Vergabe gehörenden Vernetzung der FNAS auszugehen sei, erhobenen Rügen der Intransparenz der Vergabeunterlagen zu einer geschuldeten Vernetzung der FNAS und einer vorliegenden mangelnden Vergabereife zur Frage der Vernetzung der FNAS sind nicht nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert. Eine Intransparenz der Vergabeunterlagen oder eine mangelnde Vergabereife hat die Antragstellerin weder nach § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB positiv erkannt, noch waren für sie derartige Verstöße gegen ihre Bieterrechte nach § 97 Abs. 6 GWB gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 2 und 3 GWB erkennbar. Wie vorstehend unter a) ausgeführt war für die Antragstellerin eine Unzutreffendheit ihrer Auslegung der Leistungsbeschreibung zu einer geschuldeten Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte nicht im Sinne von § 160 Abs. 3 Nr. 2 und 3 GWB erkennbar; Hinweis- oder Nachfragepflichten der Antragstellerin bestanden auch im Hinblick auf eine Verletzung des Transparenzgebotes nicht.

208

B. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin hat Erfolg und führt wegen einer Verletzung des die Rechte der Antragstellerin als Bieterin schützenden Transparenzgebotes unter Aufhebung der Entscheidung der Vergabekammer vom 24. Mai 2022 zur Rückversetzung des Vergabeverfahrens vor den Zeitpunkt der Aufforderung der Bieter zur Abgabe von Angeboten.

209

Ein Nachprüfungsantrag ist nach § 168 Abs. 1 Satz 1 GWB begründet, wenn der Antragsteller in seinen Rechten verletzt ist. Das ist der Fall, wenn nach § 97 Abs. 6 GWB bieterschützende Vorschriften zum Vergabeverfahren von dem Antragsgegner nicht eingehalten worden sind. Die Rechtsverletzung der Antragstellerin ist eine Verletzung in Vergabeverfahrensrechten (vgl. Dreher in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2021, § 168 GWB, Rn. 18 ff.). Diese Voraussetzungen liegen vor, der Antragsgegner hat den bieterschützenden Transparenzgrundsatz verletzt.

210

Innerhalb des sich aus der Beschwerdeschrift ergebenden Rahmens hat der Vergabesenat nach § 178 GWB dieselben Entscheidungsmöglichkeiten wie die Vergabekammer. Er ist nicht eng an die gestellten Anträge gebunden, sondern kann mit geeigneten Vorgaben auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einwirken. Dem steht die fehlende Verweisung in § 178 GWB auf § 168 Abs. 1 S. 2 GWB nicht entgegen, denn dem Beschwerdegericht können nicht weniger Befugnisse zustehen als dem erstinstanzlichen Entscheidungsträger Vergabekammer. Im Rahmen der erhobenen Rüge prüft der Senat umfassend die Vergaberechtsverstöße. Er ergreift diejenigen Maßnahmen – im Rahmen der erhobenen Rüge(n), aber ohne Bindung an die Anträge –, welche er für geboten hält, um eine begründet geltend gemachte Rechtsverletzung des Antragstellers zu beseitigen und ein rechtskonformes Vorgehen des öffentlichen Auftraggebers bei der im Streit stehenden Beschaffung sicherzustellen. Möglich ist die Anordnung von Maßnahmen, die weniger gravierend in das Vergabeverfahren eingreifen, als dies der Antragsteller anstrebt. Zur Einwirkung auf die Rechtsmäßigkeit des Vergabeverfahrens sind aber auch weitergehende – für den Antragsteller ggf auch nachteilige – Vorgaben möglich (vgl. Vavra/Willner in Burgi/Dreher/Opitz Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 178 GWB, Rn. 7 mwN).

211

Ein von der Antragstellerin erstrebter Ausschluss des Angebots der Beigeladenen nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV in Verbindung mit Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung und eine Neuwertung der im Übrigen vorgelegten Angebote durch den Antragsgegner ist hiernach nicht veranlasst. Nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV werden von der Wertung ausgeschlossen Angebote von Unternehmen, bei denen Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen vorgenommen wurden.

212

Es kann nicht festgestellt werden, dass mit dem Angebot der Beigeladenen eine derartige Änderung oder Ergänzung an den Vergabeunterlagen vorgenommen wurde. Zwar hat die Beigeladene ausdrücklich erklärt hat, die Schaffung einer Schnittstelle/Vernetzung zu dem FNAS der I. Mitte sei nicht Gegenstand ihres Angebots.

213

Eine Änderung/Ergänzung hierdurch an den Vergabeunterlagen liegt nicht vor. Denn den Vergabeunterlagen kann nach den §§ 133, 157 BGB weder mit der gebotenen Klarheit entnommen werden, dass eine Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte zum Leistungssoll des Auftrages gehört, noch das dies nicht der Fall ist. Die Vergabeunterlagen sind insoweit intransparent. Deshalb ist eine Rückversetzung des Verfahrens in das Stadium vor die Aufforderung an die nach dem Teilnahmeverfahren verbliebenen Bieter zur Abgabe von Angeboten wegen eines Verstoßes des Antragsgegners gegen den Transparenzgrundsatz geboten. Im Einzelnen:

214

1) Nach § 97 Abs. 1 GWB werden öffentliche Aufträge und Konzessionen im Wettbewerb und im Wege transparenter Verfahren vergeben; dabei werden die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und der Verhältnismäßigkeit gewahrt. Der Transparenzgrundsatz ist bieterschützend im Sinne von § 97 Abs. 6 GWB und wird durch vergabeverfahrensrechtliche Regelungen, wie etwa die Ausschreibungspflicht und die gebotene Information der Bieter über die bevorstehende Zuschlagsentscheidung (vgl. § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB) konkretisiert (Ziekow in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, Kommentar, 4. Aufl. 2020, § 97, Rn. 39, 43 ff.).

215

Die Vergabestellen trifft hiernach die Pflicht, die Vergabeunterlagen klar und eindeutig zu formulieren und Widersprüchlichkeiten zu vermeiden (vgl. BGH, Urteil vom 3. April 2012 - X ZR 130/10, Rn. 9). Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens müssen klar, präzise, eindeutig und erschöpfend formuliert werden, so dass zum einen alle mit der üblichen Sorgfalt handelnden Unternehmen die genaue Bedeutung dieser Bedingungen und Modalitäten verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können und zum anderen der Auftraggeber tatsächlich überprüfen kann, ob die Teilnahmeanträge oder Angebote die für den betreffenden Auftrag geltenden Kriterien erfüllen (EuGH, Urteil vom 10. Mai 2012 - C-368/10; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. November 2017 - VII-Verg 16/17 = NZBau 2018, 248 f. Rn. 20). Für die Leistungsbeschreibung ergibt sich dies ausdrücklich aus § 121 Abs. 1 Satz 1 GWB und aus § 31 Abs. 1 VgV, wonach der Leistungsgegenstand so eindeutig und erschöpfend wie möglich zu beschreiben ist, so dass die Beschreibung für alle Unternehmen im gleichen Sinne verständlich ist und die Angebote miteinander verglichen werden können. Infolge der übergeordneten Grundsätze des Wettbewerbs, der Transparenz und der Gleichbehandlung aus § 97 Abs. 1 und 2 GWB, die durch § 121 Abs. 1 Satz 1 GWB, § 31 Abs. 1 VgV für einen Teilbereich nur näher ausgeformt werden, gelten die für die Leistungsbeschreibung formulierten Anforderungen für andere Teile der Vergabeunterlagen entsprechend (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - VII-Verg 19/17 = NZBau 2018, 242 f., Rn. 32; Lampert in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 121, Rn. 23). Die Leistungsbeschreibung enthält die Funktions- oder Leistungsanforderungen oder eine Beschreibung der zu lösenden Aufgabe, deren Kenntnis für die Erstellung des Angebots erforderlich ist, sowie die Umstände und Bedingungen der Leistungserbringung. Da der Auftraggeber die nachfragte Leistung einseitig bestimmt und die Leistungsbeschreibung verantwortet, sind Bewerber nicht verpflichtet, im Stadium der Vertragsverhandlungen die Leistungsbeschreibung infrage zu stellen oder Motivforschung zu betreiben. Ein Bieter kann und muss die Leistungsbeschreibung nur daraufhin prüfen, ob sie ihm die Angebotserstellung nach § 121 Abs. 1 S. 2 ermöglicht (Lampert in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 121 GWB, Rn. 85 unter Hinweis auf OLG Koblenz, Beschluss vom 31. März 2010 – 1 U 415/08 = NZBau 2010, 562, 566).

216

In diesem Sinne nicht mehr eindeutig sind Vergabeunterlagen, wenn fachkundigen Unternehmen auch nach Auslegungsbemühungen mehrere Auslegungsmöglichkeiten verbleiben (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 - X ZR 78/07, Rn. 12) oder das zutreffende Verständnis der Vergabeunterlagen eine besondere Gesamtschau erfordert, die von den Bietern oder Bewerbern im Vergabewettbewerb erfahrungsgemäß nicht geleistet wird oder geleistet werden kann. In diesen Fällen hat der Bieter keine eindeutige Grundlage für die Ausarbeitung seines Angebots, es liegt ein Verstoß gegen das Transparenzgebot vor (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Dezember 2017 - VII-Verg 19/17, juris Rn. 60; OLG Celle, Beschluss vom 12. Oktober 2021 - 13 Verg 7/21, juris Rn. 57). Unklare Vorgaben der Vergabestelle dürfen wegen des Gebots der transparenten Verfahrensgestaltung aus § 97 Abs. 1 GWB nicht zulasten der Bieter gehen; sie gehen zu Lasten des Auftraggebers (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - VII Verg 19/17, juris Rn. 64; KG, Beschluss vom 4. Juni 2019 - Verg 8/18, juris Rn. 20; Senat, Beschluss vom 28. März 2022 - 54 Verg 11/21, juris Rn. 106 - 108).

217

2) Diese Voraussetzungen liegen hier vor: Die Vergabeunterlagen sind im Hinblick auf die Frage einer von dem Auftragnehmer geschuldeten softwareseitigen Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte intransparent (aa) und die Antragstellerin ist hierdurch in ihren Rechten verletzt worden (bb). Rechtsfolge hiervon ist die Aufhebung der Entscheidung der Vergabekammer nach § 178 Satz 1 GWB und die Zurückversetzung des Vergabeverfahrens vor den Zeitpunkt der Aufforderung an die Bieter zur Angebotsabgabe.

218

a) Die Angaben des Antragsgegners in der technischen Leistungsbeschreibung und dem Leistungsverzeichnis, insbesondere auf Seite 10 sowie in den Ziffern 1.2, 2.10, 5.1, 10 - 10.3 der Leistungsbeschreibung und den Leistungsverzeichnispositionen 5, begründeten im Zusammenwirken mit den Antworten des Antragsgegners auf die Bieterfragen 16, 18 und 43 eine vergaberechtlich zu beanstandende Intransparenz der Vergabeunterlagen.

219

Die Vergabeunterlagen sind im Hinblick auf die Frage, ob und in welchem Umfang im Hinblick auf die erstrebte wechselseitige Georedundanz der Einsatzleitstellen Süd und Mitte eine softwareseitige Vernetzung des FNAS der I. Mitte mit dem FNAS der I. Süd zum Auftragsgegenstand gehört, intransparent. Denn aus ihnen wird - anders als bei der auftragsgegenständlichen Hardwareausstattung und den zwischen den beiden Standorten noch zu realisierenden hochverfügbaren (Daten-)Verbindungen, die für die vollständige Vernetzung unstreitig erforderlich aber nicht auftragsgegenständlich sind - auch nach der vom Senat entsprechend den §§ 133, 157 BGB vorzunehmenden Auslegung nicht hinreichend deutlich, ob und ggf. welche Leistungen der Auftragnehmer innerhalb seines Gewerks FNAS für die softwareseitige Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte durch eine Schnittstelle zum Datenaustausch zwischen den FNAS zu erbringen hat.

220

Die Vergabeunterlagen sind entsprechend den für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätzen §§ 133, 157 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont der Bieter auszulegen. Hiernach ist maßgeblich, wie der durchschnittliche Bewerber des angesprochenen Bewerberkreises, der informierte Bieter, sie verstehen musste oder konnte. Entscheidend ist die Verständnismöglichkeit aus der Perspektive eines verständigen und mit der ausgeschriebenen Leistung vertrauten Unternehmens, das über das für eine Angebotsabgabe oder die Abgabe eines Teilnahmeantrags erforderliche Fachwissen verfügt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Januar 2014 - X ZB 15/13, Rn. 31; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. März 2018 - VII-Verg 52/17, Rn. 53 f.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - VII Verg 19/17, juris Rn. 63), wobei nach den Regeln der Auslegung vom Wortlaut auszugehen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 4. Februar 2022 - 54 Verg 9/21, BeckRS 2022, 6604, Rn. 47). Es ist nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich, dass in den Vergabeunterlagen verwendeten Begriffen bei den angesprochenen Verkehrskreisen, den sachkundigen Bietern, eine andere als die Wortlautbedeutung zukommt. Die Auslegung der Vergabeunterlagen führt im Hinblick darauf, ob und ggf. in welchem Umfang die Schaffung der Voraussetzungen für eine softwareseitige Vernetzung der FNAS von I. Süd und I. Mitte auftragsgegenständlich sind, nicht zu einem klaren Ergebnis. Im Einzelnen:

221

aa) Einerseits kann den Bestimmungen von technischer Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis von dem informierten Bieter entnommen werden, dass die Schaffung der sein Gewerk betreffenden Voraussetzungen für eine - auch softwareseitige - Vernetzung zwischen dem FNAS der Partnerleitstelle Mitte und des neu zu beschaffenden FNAS für die I. Süd, die eine Schnittstelle zwischen den Programmen erfordert, Gegenstand des Auftrages ist:

222

Entsprechend der aus § 6 Abs. 6 SHRDG-DV folgende öffentlich rechtliche Verpflichtung des Antragsgegners, zur Ermöglichung eines unterbrechungsfreien Betriebes eine gegenseitige räumliche Redundanz umzusetzen, nehmen die Hinweise zum Teilnahmeverfahren (Seite 5) sowie die gleichlautenden Angaben auf Seite 10 der technischen Leistungsbeschreibung Bezug auf die Absichtserklärung zwischen der I. Süd und der I. Mitte (Erklärung vom 30. Juni/6. Juli 2021, Anlage Ast. 8 zur Beschwerdebegründung) zur Zusammenarbeit in technischer und taktischer Hinsicht mit dem hiernach vorgesehenen „Datenaustausch zwischen den Systemtechniken (z.B. FNAS) beider Leitstellen“.

223

Hinausgehend über den in der Auftragsbekanntmachung referierten Inhalt der Absichtserklärung zur Vernetzung heißt es in Ziffer 05 des von dem Antragsgegner unter dem 5. Januar 2022 an die Bieter versandten Leistungsverzeichnisses „Redundanztechnik in der Partnerleitstelle (BA2)“, dass zwischen I. Süd und I. Mitte ein Zusammenarbeitsvertrag hinsichtlich der Bildung eines Redundanzstandortes in der Partnerleitstelle geschlossen worden sei, wozu in beiden Leitstellen eine Hardwareredundanz für die jeweils andere Leitstelle abgebildet werde; im Rahmen dieses Verfahrens sollten in Bauabschnitt 2 in der Partnerleitstelle I. Mitte das in den Anlagen abgebildete Hardwarekonzept (Hardwareredundanz zur I. Süd) die Vernetzung für die Bedienung von vier Einsatzplätzen der I. Mitte entstehen und im zukünftigen Neubau der I. Süd Einsatzplätze der I. Mitte abgebildet werden können. Wie auch den schematischen Zeichnungen zu den Bauabschnitten 1- 3 im Anhang 04 zur technischen Leistungsbeschreibung entnommen werden kann, sollen die FNAS von I. Süd und I. Mitte über „hochverfügbare redundante Verbindungen“ miteinander verknüpft werden. Dementsprechend sieht das Leistungsverzeichnis zur hardwareseitigen Vernetzung nach Ziffer 05 „Redundanztechnik in der Partnerleitstelle (BA2)“ Positionen zur Netzwerk- und Informationstechnik (05.01) zur FNAS Systemtechnik (05.02), zur FNAS Funkanbindung Partnerleitstelle (05.03) und zur Red.-Leitstelle-DV/IT-Verkabelung (05.04) die Lieferung, Installation und Programmierung von Hardware vor, die in einem der neuen Systemschränke im Technikraum der Partnerleitstelle zu installieren ist. Dort sehen die Angaben in den Leistungsverzeichnispositionen 05.02 und 05.03 zu der FNAS-Systemtechnik und FNAS-Funkabindung Partnerleitstelle jeweils funktions- und erfolgsbezogen die „Montage, Einbau, Verkabelung, Anschluss, Programmierung und betriebsfertige Übergabe sowie aller benötigten Dienstleistungen“ vor und verlangen etwa in Ziffer 5.03.010

224

„In dieser LV-Position sind sämtliche Aufwände für ein betriebsbereites Redundanzsystem zu kalkulieren“

225

was aus Sicht des informierten Bieters dafür spricht, dass er ein funktionsfähiges Redundanzsystem und damit eine vollständige Vernetzung der FNAS zu liefern hat.

226

Entsprechend erfolgsbezogen im Sinne der Schaffung der Voraussetzungen für eine vollständige Vernetzung der FNAS - dies nicht nur hardwarebezogen, sondern auch im Hinblick auf für die Software FNAS erforderliche Schnittstellen - kann die Formulierung in II 2. 4) der Auftragsbekanntmachung - wiederholt in Ziffer 1.2. der technischen Leistungsbeschreibung - verstanden werden, wo als Auftragsgegenstand genannt wird u.a.

227

die Lieferung, Installation, funktionale Anbindung und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken für die georedundante Redundanzleitstelle in der I. Mitte in K. in 2023 (Bauabschnitt 2),

228

verstanden werden, denn eine hiernach gewünschte „funktionale Anbindung und Inbetriebnahme“ der Leitstellentechniken, zu denen das FNAS gehört, setzt neben der Schaffung der Hardwarevoraussetzungen für den Datenaustausch auch voraus, dass zwischen den FNAS der Leitstellen I. Süd und I. Mitte die softwareseitige Verknüpfung der FNAS über eine Schnittstelle erfolgt.

229

Die Relevanz der Angaben in den Vergabeunterlagen für die Bieter verdeutlichen Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung, wonach alle in der Leistungsbeschreibung bzw. im Leistungsverzeichnis aufgeführten technischen Beschreibungen als technische Mindestanforderungen zu verstehen sind, deren Nichterfüllung zum Ausschluss des Angebots führt und ferner Ziffer 5.1 der technischen Leistungsbeschreibung, der eine jährliche Verfügbarkeit des Systems von 99,999 % verlangt.

230

Das Gewerk FNAS für die Geo-Redundanzleitstelle bei der I. Mitte wird in Ziffer 1.2 der technischen Leistungsbeschreibung sodann - unter ausdrücklicher Erwähnung von „Schnittstellen“ - u.a. beschrieben mit

231

-- Funk- und Notrufabfragesystem

232

- Integration im IT-Konzept

233

- Arbeitsplatzausstattung

234

- Schnittstellen

235

- BOS-Digitalfunkanschaltung der Redundanzleitstelle auf Basis des dort vorhandenen T-Systems DF-Steckers

236

Und anschließend heißt es dort zum zweiten Bauabschnitt ebenfalls angesichts der Formulierungen „Inbetriebnahme ... sowie funktionale Anbindung“ erfolgsbezogen im Sinne einer eine Vernetzung der FNAS - auch über eine Softwareschnittstelle - erfordernden Betriebsfähigkeit

237

2. Bauabschnitt

238

Ausrüstung und Inbetriebnahme der Redundanzensystemtechnik in der I. Mitte ... sowie die funktionale Anbindung an die Systemtechnik der Partnerleitstelle I. Mitte.

239

Auch und insbesondere Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung sieht für die Redundanzstelle eine technische Hardwareredundanz und - erfolgsbezogen wie die vorherigen Angaben - eine „vollständige Vernetzung“ (Absatz 1) vor, wobei hierzu in einem separaten Projekt ein gemeinsames Einsatzleitsystem sowie weitere Leitstellensystemtechniken (z. B. digitale Alarmierung) abgestimmt werden. Auf das FNAS bezieht sich das separate Projekt nach dem Wortlaut ausdrücklich nicht. Die in Ziffer 10 weiterhin angeführten Anforderungsbeispiele für die vollständige Vernetzung, die nach Ziffer 2.10 der technischen Leistungsbeschreibung als technische Mindestanforderungen zu verstehen sind, setzen eine auch softwareseitige Vernetzung der FNAS der beiden Leitstellen voraus. Dies wird insbesondere deutlich an den Anforderungsbeispielen zum FNAS nach dem dritten und vierten Spiegelstrich von Ziffer 10, wonach die Bedienoberflächen im FNAS der I. Süd und I. Mitte funktional und optisch an allen Einsatzplätzen gleich vorzuhalten sind und der Disponent im Regelbetrieb die Belegung/Auslastung der Arbeitsplätze der Partnerleitstelle in seiner FNAS-Bedienoberfläche dargestellt bekommen soll, was einen Datenaustausch der FNAS und damit eine Schnittstelle zwischen den FNAS erfordert.

240

Für eine entsprechende Auslegung der Leistungsbeschreibung auch durch den Antragsgegner und die Beigeladene kann auch die Korrespondenz zwischen Antragsgegner und Beigeladener sprechen, in der der Antragsgegner sich gehalten sah, die Leistungsfähigkeit der Beigeladenen am Maßstab der Anforderungsbeispiele zu Ziffer 10 auf S. 55 f. der Leistungsbeschreibung aufzuklären, wobei die Antworten zu den Fragen 1, 3 und 4 sich mit der Vernetzung u.a der FNAS befassen.

241

bb) Gegen eine Verpflichtung des Auftragnehmers zu einer auch softwareseitigen Vernetzung der FNAS spricht das Fehlen einer gesonderten Leistungsverzeichnisposition zur Programmierung einer Schnittstelle bei dem eigenen FNAS zu dem Bestands-FNAS der I. Mitte. Dies ist allerdings nicht zwingend, da entsprechender Bieteraufwand auch in der LV-Position 05.07 „Redundanztechnik Dienstleistungen“ berücksichtigt werden kann, wo es u.a. heißt:

242

„vollständige Projektbegleitung gemäß den Anforderungen der Ausschreibungs- und Vertragsbedingungen und der technischen Leistungsbeschreibung für die Erstellung der Redundanztechnik in der Partnerleitstelle I. Mitte ... In dieser Position sind ebenfalls die erforderlichen Abstimmungen für die Anbindung der Kommunikationsverbindungen ... sowie dem Hersteller des Einsatzleitsystems zu berücksichtigen“.

243

Gegen die Annahme einer Verpflichtung des Auftragnehmers zu einer auch softwareseitigen Vernetzung der FNAS durch Programmierungsleistungen für eine Schnittstelle an dem von ihm für die I. Süd angebotenen FNAS zum Bestands-FNAS der I. Mitte kann ferner sprechen die Antwort des Antragsgegners auf die Bieterfrage 16 zur Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung. In der Bieterfrage wurde zur Erfüllung eines Anforderungsbeispiels von Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung um eine Schnittstellenbeschreibung des FNAS der I. Mitte gebeten oder alternativ eine gegenseitige Darstellung mit je einem FNAS Client (also einem Computerprogramm, das mit einem anderen Computerprogramm Kontakt aufnimmt) angeboten, woraufhin der Antragsgegner erklärte, dass eine Schnittstellenbeschreibung noch nicht vorliege, detaillierte Abstimmungen nach Auftragsvergabe im Rahmen der Feinspezifikation vorgesehen seien, entsprechende Dienstleistungen in der LV-Position 05.07 zu berücksichtigen seien und die vorgeschlagene Alternative nicht gewünscht werde. Allerdings wird auch hiernach nicht klar, in welchem Umfang der Auftragnehmer nach Vorliegen einer Schnittstellenbeschreibung des FNAS der I. Mitte Dienstleistungen zu erbringen hat.

244

Im Hinblick auf die Frage der vom Auftragnehmer für die Erstellung von Schnittstellen zwischen den FNAS von I. Süd und I. Mitte geschuldeten Leistungen bieten auch die abschließenden Formulierungen in Ziffer 10 der technischen Leistungsbeschreibung Anlass für Unklarheiten, wenn es dort heißt:

245

Die neuen Leitstellentechniken der I. Süd werden über zwei noch zu beschaffende redundante Vernetzungen (vgl. IT-Konzept im Abschnitt 5 und Anhang 1 bis Anhang 4) zwischen der I. Süd und der I. Mitte verbunden. Diese Verbindungen sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung. Nach der Auftragsvergabe werden im Rahmen der Feinspezifikation diesbezügliche Anforderungen mit dem AN abgestimmt und die Verbindungen bauseits durch den AG beschafft.

246

Der Bieter hat das seinem Angebot zugrundeliegende Systemkonzept für die Vernetzung der I. Süd mit der Partnerleitstelle I. Mitte in einer Anlage zu beschreiben.

247

Dem Auftraggeber ist bewusst, dass seitens der Partnerleitstelle I. Mitte und den dort vorhandenen Systempartnern Leistungsanteile für die Vernetzung zu erbringen sind. Diese Leistungsanteile für die Vernetzung auf Seiten der Partnerleitstelle sind nicht Bestandteil dieser Ausschreibung, jedoch sind alle erforderlichen Schnittstellenabstimmungen bis zur Realisierung der Vernetzung zu berücksichtigen.

248

Zwar dürften die dort zunächst genannten noch zu beschaffenden (und nicht auftragsgegenständlichen) redundanten Vernetzungen (Verbindungen) nicht die FNAS betreffen, sondern lediglich die Datenübertragung zwischen der I. Süd und der I. Mitte (“hoch verfügbare redundante Verbindungen“ gemäß den Zeichnungen zu den Bauabschnitten 2 und 3 im Anhang 04).

249

Allerdings kann sich der letzte Absatz der Ausführungen in Ziffer 10 auf auch die gesamte Leitstellentechnik am Standort und damit auch auf das FNAS beziehen. Die gebotene Transparenz im Hinblick auf die Frage, ob und in welchem Umfang der Auftragnehmer zu Leistungen im Zusammenhang mit der softwareseitigen Vernetzung der FNAS verpflichtet ist, wird auch hierdurch nicht hergestellt.

250

Letztlich ähnlich unklar, weil auch hier die redundanten Verbindungen gemeint sein können, sind im Ergebnis auch die Ausführungen des Antragsgegners im Rahmen der Bieterfrage 43, wonach einerseits die Systeme entsprechend den Ausführungen in Abschnitt 10 der technischen Leistungsbeschreibung zu vernetzen und andererseits erforderliche Liefer- und Dienstleistungen seitens des vorhandenen Systems in der I. Mitte nicht Bestandteil der Ausschreibung sind, Dienstleistungen, wie erforderliche Abstimmungsgespräche in der LV-Position 05.07 zu berücksichtigen seien und Detailabstimmungen hierzu im Rahmen der Feinspezifikation nach Auftragsvergabe erfolgten.

251

bb) Die Intransparenz der Vergabeunterlagen zur softwareseitigen Vernetzung der FNAS in den I. Süd und I. Mitte hat die Antragstellerin in einem subjektiven Recht aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt. Infolge der Intransparenz der Vergabeunterlagen hat die Antragstellerin auf der Grundlage ihrer gut vertretbaren Auslegung zu einer Verpflichtung zur Schaffung der Voraussetzungen einer softwareseitigen Vernetzung der FNAS auf Seiten der I. Süd als Leistungssoll hierfür einen Aufwand in ihrem Angebot berücksichtigt; anders die Beigeladene, die nach ihrem Verständnis der intransparenten Vergabenunterlagen eine derartige Verpflichtung nicht angenommen hat und daher insoweit einen Aufwand nicht berücksichtigt hat. Hieraus droht der Antragstellerin ein Schaden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Antragstellerin bei einer transparenten Ausgestaltung der Vergabeunterlagen zu der Frage, ob und in welchem Umfang die Voraussetzungen für eine Vernetzung der FNAS von Seiten der I. Süd zu schaffen sind, das wirtschaftlichste Angebot nach § 127 Abs. 1 GWB vorgelegt hätte.

252

Der Antragstellerin ist es auch nicht im Hinblick auf die etwaige schuldhafte Verletzung einer Nachfrage- und Hinweisverpflichtung aus den §§ 241 Abs. Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB nach § 242 BGB verwehrt, sich auf die Intransparenz der Vergabeunterlagen zu berufen. Denn angesichts der gut vertretbaren Auslegung der Vergabeunterlagen durch die Antragstellerin, wonach vom Auftragnehmer die Voraussetzungen für eine softwareseitige Vernetzung der FNAS zu leisten sind, war eine Verletzung des Transparenzgebotes durch den Antragsgegner für die Antragstellerin nicht vorwerfbar erkennbar.

253

Der Annahme einer möglichen Rechtsverletzung der Antragstellerin steht ferner nicht entgegen, dass diese aus dem Vergabeverfahren wegen Verletzung der Verschwiegenheitsvereinbarung oder aus sonstigen Gründen nach § 124 GWB auszuschließen wäre. Die Voraussetzungen für einen Ausschluss liegen nicht vor. Wegen der Einzelheiten wird auf die obigen Ausführungen zu II. A. 1) Bezug genommen.

254

Entsprechend § 168 Abs. 1 Satz 1 GWB war das Vergabeverfahren vor den Zeitpunkt der Aufforderung der Bieter zur Abgabe von Angeboten zurückzuversetzen. Der Antragsgegner hat - eine fortbestehende Beschaffungsabsicht vorausgesetzt - die Vergabeunterlagen, die technische Leistungsbeschreibung und das Leistungsverzeichnis - zu überarbeiten und den Bietern erneut Gelegenheit zu geben, ein Angebot abzugeben. Mit der Überarbeitung der Vergabeunterlagen hat der Antragsgegner gegenüber den Bietern eindeutige Aussagen dazu zu treffen, ob und ggf. welche Leistungen für eine softwareseitige Vernetzung der FNAS zum Datenaustausch und für funktional und optisch gleiche Bedienoberflächen von I. Süd und I. Mitte Gegenstand der Ausschreibung sind.

255

C. Über die Kosten des Beschwerdeverfahrens ist auch im Hinblick auf die Kosten in dem Verfahren nach § 173 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 GWB (Az. 54 Verg 2/22) einheitlich zu entscheiden. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens - die Gerichtskosten und die notwendigen Auslagen der Verfahrensbeteiligten - sind gemäß § 175 Abs. 2 GWB in Verbindung mit § 71 GWB (in der seit dem 19. Januar 2021 geltenden Fassung) nach Billigkeit zu verteilen. Es entspricht der Billigkeit, den in der Beschwerdeinstanz Unterlegenen mit den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten anderer Verfahrensbeteiligter zu belasten, soweit nicht die besonderen Umstände des Einzelfalls ausnahmsweise eine abweichende Entscheidung gebieten (vgl. Varvra/Willner in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, § 175 GWB, Rn. 14 mwN). Dies führt zur Auferlegung der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens sowie der zu der Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin, zu der bereits wegen § 175 Abs. 1 Satz 1 GWB auch die Kosten der rechtsanwaltlichen Vertretung gehören, auf den Antragsgegner. Zugunsten des Antragsgegners greift eine Gebührenfreiheit für die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens nicht ein. Der antragsgegnerische Landkreis ist weder nach § 2 Abs. 1 GKG noch nach § 84 Abs. 1 Landesjustizgesetz Schleswig-Holstein von Gerichtsgebühren befreit. Antragsgegner und Beigeladene tragen hiernach ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

256

Über die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer und die dort zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten ist nach § 182 Abs. 3 Satz 1, 5, Abs. 4 Satz 2 und 3 GWB zu entscheiden. Hier gelten dieselben Anforderungen und Erwägungen wie im Rahmen von § 71 GWB, so dass auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann. Der Antragsgegner hat hiernach die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu tragen. Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin in dem Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig

257

Die Verfahrensgebühr für das Verfahren vor der Vergabekammer war nach § 182 Abs. 2 GWB auf € 4.400,00 festzusetzen. Der Senat macht sich zur Begründung die Ausführungen der Vergabekammer Schleswig-Holstein in dem Beschluss vom 24. Mai 2022 (Seiten 18 f.) zu eigen und nimmt hierauf Bezug.

258

D. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren sowie das Verfahren nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB (Az. 54 Verg 2/22) war jeweils auf bis zu € 185.000,00 festzusetzen. Nach § 50 Abs. 2 GKG beträgt der Streitwert 5 % der Bruttoauftragssumme, wobei sich diese auf das Angebot der Antragstellerin bezieht; maßgeblich ist das wirtschaftliche Interesse des Antragstellers an der Erlangung des Auftrages. Die Angebotssumme führt zu einem Wert bis zu € 185.000,00.


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