Beschluss vom Oberlandesgericht Naumburg (2. Senat für Familiensachen) - 8 UF 144/12

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Beteiligten zu 3 wird der am 11. Mai 2012 verkündete Beschluss des Amtsgerichts – Familiengerichts – Schönebeck aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an das Familiengericht zurückverwiesen.

Der Beschwerdewert beträgt EUR 1.500.

Gründe

I.

1

In dem vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren erstrebt der Beteiligte zu 3 (Kindesvater) die Genehmigung der vorläufigen Unterbringung seines minderjährigen Kindes.

2

Der Beteiligte zu 3 nahm mit der Beteiligten zu 4 (Kindesmutter) eine nichteheliche Lebensgemeinschaft auf. Aus der Lebensgemeinschaft ging

3

das (am 23. Februar 1997 geb.) Kind C.

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(Beteiligte zu 1) hervor, um das es im vorliegenden einstweiligen Unterbringungsverfahren geht. Mit der Geburt des Kindes wurde die Kindesmutter Inhaberin der alleinigen elterlichen Sorge (§ 1626a Abs. 2 BGB). Nachdem sich die Kindeseltern getrennt hatten, verblieb das Kind in der alleinigen Obhut der Kindesmutter. Die Kindesmutter wohnt in Sch., der Kindesvater wohnt in A..

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Nach der Trennung der Kindeseltern nahm das Kind eine Beziehung zu dem (am 15. Februar 1972 geb.) B. S. aus Sch. auf. Da Herr S. in der Zeit bis Oktober 2010 mit dem (damals noch nicht 14-jährigen) Kind Geschlechtsverkehr hatte, wurde er mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Schönebeck vom 05. März 2012 wegen schweren sexuellen Missbrauchs (§§ 176 Abs. 1, 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Herr S. hat fünf nicht bei ihm lebende Kinder und ist nicht einschlägig vorbestraft; strafmildernd wertete das Gericht, dass er den Geschlechtsverkehr im Einvernehmen mit dem Kind C. vollzog.

6

1. Nach der Tat machte der Kindesvater im Jahre 2011 beim Familiengericht ein (erstes) einstweiliges Anordnungsverfahren anhängig, in dem er die vorläufige Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts erstrebte, da die Kindesmutter mit der Pflege und Erziehung des Kindes überfordert sei, weil das Kind ihren Haushalt verlassen habe und abgängig sei (5 F 364/11 AG Schönebeck). Mit dieser Begründung machte der Kindesvater beim Familiengericht auch ein entsprechendes Hauptsacheverfahren anhängig (5 F 374/11 AG Schönebeck).

7

Nachdem das Kind 14 Jahre alt geworden war (23. Februar 2011), übertrug das Familiengericht in dem besagten einstweiligen Anordnungsverfahren mit Beschluss vom 12. Juli 2011 das vorläufige Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Kindesvater, woraufhin der Kindesvater das Kind an seinem Wohnort in A. polizeilich anmeldete und es in einem (offenen) A. Kinderheim unterbrachte, aus dem sich das Kind – mit unbekanntem Aufenthalt – entfernte; seitdem ist das Kind unbekannten Aufenthalts. Das parallele Hauptsacheverfahren (betr. die elterliche Sorge) schwebt noch vor dem Familiengericht; in jenem Verfahren erklärte die Kindesmutter in der mündlichen Verhandlung vom 25. April 2012, dass sie ihr Kind seit den Hauptverhandlungen in der besagten Strafsache vom 01. und 16. Februar 2012 nicht mehr gesehen habe und vermute, dass es sich wieder bei Herrn S. aufhalte; die Vertreterinnen des Beteiligten zu 5 (Jugendamt) ergänzten, das Kind, das die 8. Klasse noch nicht absolviert habe, gehe seit 07. Juli 2011 nicht mehr zur Schule.

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2. Mit Rücksicht darauf hat der Kindesvater – auf der Grundlage des ihm zustehenden vorläufigen Aufenthaltsbestimmungsrechts – am 07. Februar 2012 beim Familiengericht das vorliegende (zweite) einstweilige Anordnungsverfahren anhängig gemacht, in dem er die Genehmigung der vorläufigen Unterbringung seines Kindes in einer psychiatrischen Einrichtung, hilfsweise in einer geschlossenen Einrichtung der Jugendhilfe oder in einem (geschlossenen) Jugendheim erstrebt. Parallel zum vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren machte der Kindesvater am 10. April 2012 ein entsprechendes Hauptsacheverfahren anhängig, in dem er eine Hauptsacheentscheidung gleichen Inhalts begehrt; in dem Hauptsacheverfahren folgte die Kindesmutter dem Antrag des Kindesvaters, indem sie am 25. April 2012 ebenfalls die Genehmigung der Unterbringung von C. beantragte (5 F 170/12 AG Schönebeck).

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In dem Hauptsacheverfahren bestellte das Familiengericht die Beteiligte zu 2 zum Verfahrensbeistand des Kindes (§ 167 Abs. 1 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 317 FamFG) und beauftragte Prof. Dr. F. von der Universitätsklinik M. mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage der Erforderlichkeit einer Unterbringung des Kindes bzw. eventueller milderer gerichtlicher Maßnahmen (§ 167 Abs. 1 und 6 in Verbindung mit § 321 FamFG); das Gutachten ist noch nicht erstattet.

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In dem vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren erließ das Familiengericht – ohne mündliche Verhandlung – am 15. März 2012 einen Beschluss, mit dem die Genehmigung der vorläufigen Unterbringung des Kindes (§ 1631b BGB) verweigert wurde. Zur Begründung führte das Familiengericht aus, die örtliche Zuständigkeit des vom Kindesvater angerufenen Familiengerichts (§ 167 Abs. 1 in Verbindung mit § 313 FamFG) sei zweifelhaft, weil das Kind seit der (im ersten einstweiligen Anordnungsverfahren erfolgten) Übertragung des vorläufigen Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Kindesvater (einstweilige Anordnung vom 12. Juli 2011) nicht mehr bei der Kindesmutter in Sch. lebe, sondern vom Kindesvater an seinem Wohnort in A. angemeldet und in dem dortigen (offenen) Kinderheim untergebracht worden sei. Zwar sei das Kind dort abgängig und der Kindesvater vermute, dass es sich wieder bei Herrn S. in Sch. aufhalte; ein Aufenthalt des Kindes in Sch. sei aber bislang nicht festgestellt. Jedenfalls – und darauf komme es an – bestehe kein hinreichender Anhaltspunkt für die Annahme, dass ein „dringendes Bedürfnis“ für ein „sofortiges“ Tätigwerden des Gerichts (§ 331 Nr. 1 FamFG) vorliege. Das (schulpflichtige) Kind gehe zwar nicht mehr zur Schule, es habe aber in dem besagten Strafverfahren am 01. und 16. Februar 2012 als Zeugin ausgesagt und dabei einen körperlich guten Eindruck hinterlassen, so dass weder Anhaltspunkte für eine „akute“ Selbst- oder Fremdgefährdung des (inzwischen 15-jährigen) Kindes noch für die „Erforderlichkeit“ einer Unterbringung (§ 1631b BGB) vorlägen. Da noch kein ärztliches Zeugnis über den Zustand des Kindes vorliege (§ 167 Abs. 1 und 6 in Verbindung mit § 331 Nr. 2 FamFG), könne man erst dann, wenn Prof. Dr. F. das Sachverständigengutachten im Hauptsacheverfahren erstattet habe, beurteilen, ob eine Unterbringung des Kindes „erforderlich“ sei oder – nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – mildere Maßnahmen genügten, um einer Kindeswohlgefährdung zu begegnen (§ 167 Abs. 1 und 6 in Verbindung mit § 321 FamFG). Erscheine das Kind zur Begutachtung nicht, könne es vorgeführt werden (§ 167 Abs. 1 in Verbindung mit § 322 FamFG). Zurzeit lehne das Kind zwar beide Eltern ab; das Gericht suche aber nach Möglichkeiten, um die Verweigerungshaltung des Kindes „aufzuweichen“, d.h. eine Unterbringung des Kindes zu vermeiden.

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Statt gegen diese – ohne mündliche Verhandlung ergangene und ihm am 21. März 2012 zugestellte – Entscheidung sofortige Beschwerde einzulegen, hat der (anwaltlich vertretene) Kindesvater im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren am 05. April 2012 eine erneute gerichtliche Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung beantragt (§ 54 Abs. 2 FamFG). Daraufhin verhandelte das Familiengericht am 08. Mai 2012 mit den Beteiligten mündlich und hörte die Kindeseltern persönlich an (§ 167 Abs. 4 FamFG). Die Kindesmutter erklärte, dass ihr Sohn M. die Tochter C. am Vortag vor der G. - Schule in Sch. gesehen habe; C. habe einen ordentlichen und gepflegten Eindruck hinterlassen, seiner, des Sohnes, Meinung nach würde sich das Kind in einem Wohnblock in der Nähe der Schule aufhalten. Möglicherweise halte sich C. auch wieder bei Herrn S. auf, jedoch nicht an der B. Straße 1 in Sch., wo sich Herr S. polizeilich angemeldet habe.

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Die persönliche Anhörung des 15-jährigen Kindes (§ 167 Abs. 1 in Verbindung mit § 331 Nr. 4 FamFG) unterblieb, weil das Kind den Ladungen (unter der Anschrift der Kindesmutter, des Kindesvaters und des besagten Kinderheims in A. ) nicht Folge leistete.

13

Am 11. Mai 2012 verkündete das Familiengericht im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren einen Beschluss, mit dem die ohne mündliche Verhandlung ergangene erste einstweilige Anordnung vom 15. März 2012 (Verweigerung der Genehmigung der vorläufigen Unterbringung) aufrechterhalten wurde. Zur Begründung führte das Familiengericht aus, es hätten sich keine neuen Erkenntnisse ergeben und im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren dürfe der Entscheidung im Hauptsacheverfahren, die ebenfalls Unterbringung des Kindes betreffe, nicht vorgegriffen werden.

14

Gegen die – ihm am 23. Mai 2012 zugestellte – Entscheidung wendet sich der Kindesvater mit der am 24. Mai 2012 beim Familiengericht eingelegten Beschwerde. Mit Schriftsatz vom 14. Juni 2012 hat der Kindesvater eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und eine Zurückverweisung an das Familiengericht beantragt.

II.

15

1. Die zulässige sofortige Beschwerde des Kindesvaters gegen die Versagung der Genehmigung der vorläufigen Unterbringung des Kindes C. ist zulässig:

16

a) In Unterbringungsverfahren, die Minderjährige betreffen (Verfahren nach dem PsychKG oder nach § 1631b BGB), sind gemäß § 167 Abs. 1 FamFG die für Unterbringungssachen Erwachsener geltenden Vorschriften anzuwenden (§ 312 Nr. 1 bzw. Nr. 3 FamFG). Nach § 331 FamFG können zur Anordnung bzw. zur Genehmigung vorläufiger Unterbringungsmaßnahmen auch einstweilige Anordnungen erlassen werden. Insoweit sind im erstinstanzlichen Verfahren die Vorschriften zu §§ 49 bis 56 FamFG zu beachten. Die für Rechtsmittel geltende Bestimmung zu § 57 FamFG kann keine Anwendung finden: Die Vorschriften über Unterbringungssachen (§§ 312 ff. FamFG) enthalten keine Regelungen über die Anfechtung von Unterbringungsentscheidungen, so dass insoweit die allgemeineren Vorschriften zu §§ 58 ff. FamFG gelten. Da statt der Vorschrift zu § 57 FamFG die Vorschriften zu §§ 58 ff. FamFG anzuwenden sind, können in Unterbringungssachen auch einstweilige Anordnungen, die nicht auf Grund mündlicher Verhandlung erlassen wurden, mit der Beschwerde angefochten werden (§ 63 Abs. 2 Nr. 1 FamFG). Dies lässt sich mit den – mit vorläufigen Unterbringungen (einstweiligen Anordnungen) verbundenen – schwerwiegenden Grundrechtseingriffen begründen; mit Rücksicht darauf wollte der Gesetzgeber des FamFG an der bisherigen uneingeschränkten Anfechtbarkeit einstweiliger Anordnungen in Unterbringungssachen (§ 70h FGG a.F.) – die Bestimmungen zu §§ 620a ZPO a.F. waren nicht anwendbar – festhalten (Palandt/Diederichsen a.a.O. unter Bezugnahme auf OLG Dresden, JAmt 2010, 249 f., und auf OLG Frankfurt, FamRZ 2010, 907 f.). Die nach dem FamFG zulässige allgemeine Anfechtbarkeit von Entscheidungen in einstweiligen Unterbringungsverfahren – auch in Fällen abgelehnter Unterbringungsmaßnahmen – wird mittlerweile auch von der herrschenden Meinung vertreten (Schulte-Bunert/Weinreich, FamFG, 3. Auflage, § 57 Rn 17, und Prütting/Helms, FamFG, 2. Auflage, § 57 Rn 14, jeweils m.w.N.).

17

Demnach hätte der Antragsteller im vorliegenden (zweiten) einstweiligen Anordnungsverfahren) schon den – ohne mündliche Verhandlung ergangenen – Beschluss des Familiengerichts vom 15. März 2012 mit der sofortigen Beschwerde anfechten können (§ 63 Abs. 2 Nr. 1, § 64 FamFG).

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b) Stattdessen durfte der Antragsteller im erstinstanzlichen Verfahren, für das die Bestimmungen zu §§ 49 bis 56 FamFG gelten, auch einen – zulässigen – Antrag auf erneute gerichtliche Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung stellen (§ 54 Abs. 2 FamFG). Von dieser Wahlmöglichkeit hat der Antragsteller Gebrauch gemacht. Die im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren – auf Grund mündlicher Verhandlung vom 08. Mai 2012 – ergangene Entscheidung vom 11. Mai 2012 hat er sodann mit der Beschwerde angefochten (§ 63 Abs. 2 Nr. 1, § 64 FamFG). Die Anfechtung ist fristgemäß geschehen.

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2. Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, weil das Familiengericht bei der Verweigerung der Genehmigung der vorläufigen Unterbringung des Kindes (§ 1631b BGB) den Sachverhalt in verfahrensfehlerhafter Weise (§ 26 FamFG) nicht hinreichend ermittelt hat:

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a) Der Senat darf zwar nicht überprüfen, ob das Familiengericht seine örtliche Zuständigkeit (§ 313 FamFG) zu Recht angenommen hat (§ 65 Abs. 4 FamFG).

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b) Das Familiengericht durfte die Genehmigung der vorläufigen Unterbringung des Kindes (§ 1631b BGB) aber nicht kurzer Hand verweigern; es hatte weitere Amtsermittlungen vorzunehmen (§ 26 FamFG):

22

aa) Bei Gefahr im Verzug durfte das Familiengericht zwar von der persönlichen Anhörung des 15-jährigen Kindes (§ 167 Abs. 1 in Verbindung mit § 331 Nr. 4 FamFG) absehen und die Anhörung unverzüglich (d.h. bis zum Ablauf des auf die Entscheidung folgenden Kalendertags, spätestens des nächstfolgenden Werktags; vgl. Keidel/Budde, FamFG, 17. Auflage, § 332 Rn 6) nachholen (§ 167 Abs. 1 in Verbindung mit § 332 FamFG).

23

bb) Das Familiengericht hatte aber hinreichende Feststellungen darüber zu treffen,

24

-

ob dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die sachlichrechtlichen Voraussetzungen für eine vorläufige Genehmigung der Unterbringung (§ 1631b BGB) vorliegen und

25

-

ob verfahrensrechtlich ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht

26

(§ 167 Abs. 1 in Verbindung mit § 331 Nr. 1 FamFG). Um feststellen zu können, ob dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die sachlichrechtlichen Voraussetzungen für eine vorläufige Genehmigung der Unterbringung (§ 1631b BGB) vorliegen, musste das Familiengericht – wenigstens – das zwingend vorgeschriebene ärztliche Attest eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder -psychotherapie einholen (§ 167 Abs. 6 Satz 1 in Verbindung mit § 331 Nr. 2 FamFG).

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Im Einzelnen:

28

(1) dringende Gründe für die Annahme, ob die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen für eine Genehmigung der Unterbringung (§ 1631b BGB) vorliegen:

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Seit 07. Juli 2011 besucht das (nach §§ 37, 40 des Schulgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt nach wie vor schulpflichtige) Kind nicht mehr die Schule und, nachdem dem Kindesvater mit der im (ersten) einstweiligen Anordnungsverfahren ergangenen einstweiligen Anordnung vom 12. Juli 2011 das vorläufige Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen worden war und er das Kind daraufhin an seinem Wohnort in A. untergebracht hatte, entfernte sich das Kind aus dem (offenen) Kinderheim mit unbekanntem Aufenthalt. Seitdem gefährdet sich das Kind in erheblicher Weise selbst (§ 1631b Satz 2 Hs. 1 BGB). Die Selbstgefährdung des (15-jährigen) Kindes besteht zum einen darin, dass das Kind zu verwahrlosen droht, weil seine Pflege und Erziehung, insbesondere ordnungsgemäße Wohnverhältnisse und der Unterhalt des Kindes, nicht sichergestellt sind, so dass das Kind notgedrungen einer privaten Fürsorge Dritter anheim fällt bzw. der öffentlichen Fürsorge anheim zu fallen droht (vgl. Palandt/Diederichsen, BGB, 71. Auflage, § 1666 Rn 22). Zum anderen gefährdet sich das Kind selbst, weil es seit 2011 nicht mehr die Schule besucht (vgl. v.Staudinger/Coester, BGB, 13. Auflage [2004], § 1666 Rn 123, 185, jeweils unter Bezugnahme auf BayObLG, FamRZ 1992, 231 ff.), so dass auch von daher eine Unterbringung des Kindes (§ 1631b BGB) in Betracht zu ziehen ist, weil es an gesicherten tatsächlichen Grundlagen für eine gedeihliche harmonische Entwicklung des Kindes zu einer Gesamtpersönlichkeit fehlt (vgl. BayObLG a.a.O., S. 237, 239, wo auf die Möglichkeit einer Unterbringung verwiesen wird, wenn der Schulbesuch nur durch eine Trennung des Kindes vom [offenen] Elternhaus zu gewährleisten ist; zur Kindeswohlgefährdung bei Verletzung der Schulpflicht vgl. auch BGH, FamRZ 2008, 45 ff.). Kinder haben ein „fundamentales Bedürfnis“ nach Kontinuität und gesicherter, harmonischer Familienbindung; sie dürfen nicht jahrelang in unbefriedigenden Umständen aufwachsen und durch solche Umstände dürfen keine „vollendete Tatsachen“ geschaffen werden (v.Staudinger/Coester a.a.O., § 1666 Rn 121, § 1666a Rn 5 f.).

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Anders als bei Erwachsenen, bei denen eine Fremdunterbringung in einer geschlossenen Einrichtung ausschließlich in Form einer richterlichen Anordnung nach öffentlichem Recht, also auf Grund einer „Krankheit, seelischen oder geistigen Störung oder einer seelischen oder geistigen Behinderung“ im Sinne des PsychKG, in Betracht kommt (§ 1 Nr. 1 und 2 PsychKG-LSA), kommt eine Unterbringung von Minderjährigen auch ohne eine psychiatrische Diagnose in Betracht, nämlich nach dem Zivilrecht in Form einer Genehmigung der Unterbringung durch den Sorge- oder Aufenthaltsbestimmungsberechtigten (§ 1631b BGB); dafür genügen „pädagogische Gesichtspunkte“, die eine Unterbringung gebieten. Mit Rücksicht darauf kann das Gericht in Hauptsacheverfahren, welche die Unterbringung Minderjähriger betreffen – nicht in einstweiligen Anordnungsverfahren, in denen auch bei Minderjährigen stets ein „ärztliches“ Attest (eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder -psychotherapie) eingeholt werden muss (§ 167 Abs. 6 Satz 1 in Verbindung mit § 331 Nr. 2 FamFG) –, statt eines Gutachtens eines „Arztes“ (für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder -psychotherapie) auch ein Gutachten eines „in Fragen der Heimerziehung ausgewiesenen Psychotherapeuten, Psychologen, Pädagogen oder Sozialpädagogen“ einholen (§ 167 Abs. 6 Satz 2 in Verbindung mit § 321 FamFG; Schulte-Bunert/Weinreich/Dodegge, FamFG, 3. Auflage, § 168 Rn 11 unter Bezugnahme auf die Motive des Gesetzes). Denn für die Unterbringung Minderjähriger genügen „Erziehungsprobleme“, die ein „erzieherisches Einwirken auf das Kind in geschlossenen Räumen“ erfordern (Schulte-Bunert/Weinreich/Dodegge a.a.O. unter Bezugnahme auf OLG Saarbrücken, FamRZ 2010, 1920, 1921 f.).

31

Bei der Frage, ob wegen der besagten Kindeswohlgefährdung eine zivilrechtliche Genehmigung der Unterbringung des 15-jährigen Kindes „erforderlich“ ist, geht es – abweichend von der Auffassung des Familiengerichts – nicht nur um das augenblickliche Wohlbefinden des Kindes (das ungestört sein mag), sondern „zum Wohl des Kindes“ (§ 1631b BGB) gilt es, die Voraussetzungen für eine gedeihliche altersgerechte Entwicklung des Kindes in jeder Hinsicht sicherzustellen, um eine allseitige und harmonische Entwicklung des Kindes zu einer Gesamtpersönlichkeit zu ermöglichen (vgl. BayObLG a.a.O., S. 237).

32

Eine Unterbringung der 15-jährigen C. ist auch nicht deshalb weniger „erforderlich“, weil sich das Kind gegen seine Eltern entschieden hat. Ein Kind muss lernen, Konflikte im menschlichen Zusammenleben auszuhalten und konstruktiv auszutragen. Erst wenn das Verhältnis des heranwachsenden Kindes zu seinen Eltern auf Grund jahrelanger Erziehungsfehler hoffnungslos zerrüttet ist und das Kind inzwischen bei Dritten eine „positive Lebensbasis“ gefunden hat – wofür im vorliegenden Fall kein Anhaltspunkt besteht –, kann eine achtenswerte Selbstbestimmung des Kindes gegen seine Eltern angenommen werden (v.Stau-dinger/Coester a.a.O., § 1666 Rn 141 m.w.N.; vgl. auch OLG Saarbrücken a.a.O., S. 1922). Ebensowenig könnte eine Zustimmung des Kindes zu seiner Unterbringung die „Erforderlichkeit“ einer gerichtlichen Genehmigung seiner Unterbringung (§ 1631b BGB) erübrigen, zumal im voraus regelmäßig nicht zuverlässig festgestellt werden kann, ob das Einverständnis des Kindes ernsthafter Natur ist oder anschließend widerrufen wird (vgl. Münchener Kommentar/Huber, BGB, 5. Auflage, § 1631b Rn 11 unter Bezugnahme auf BayObLG, FamRZ 1982, 105).

33

Das Familiengericht kann den aufenthaltsbestimmungsberechtigten Kindesvater auch nicht auf die Möglichkeit einer Inobhutnahme des Kindes (§ 42 SGB VIII) durch das Jugendamt (Beteiligten zu 5) verweisen, weil das Gericht und das Jugendamt eigenständige Schutzverpflichtungen für das Kind haben, die sie lediglich in Kooperation wahrnehmen (zu den Einzelheiten vgl. v.Staudinger/Coester a.a.O., § 1666a Rn 13); nur dann, wenn Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) von dem Sorge- oder Aufenthaltsbestimmungsberechtigten angenommen werden und die tatsächliche Möglichkeit besteht, dadurch der Kindeswohlgefährdung zu begegnen, muss die Genehmigung der Unterbringung – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit – unterbleiben (vgl. v.Staudinger/Coester a.a.O., § 1666a Rn 10 ff. m.w.N.).

34

Schließlich steht einer Genehmigung der Unterbringung auch nicht die fehlende Kenntnis der Kindeseltern über den gegenwärtigen Aufenthalt ihres Kindes entgegen. Nach § 1631b BGB kann das Gericht zwar nur die Unterbringung „genehmigen“ (und deren Art und Dauer bestimmen), die Unterbringung selbst muss dem Sorge- oder Aufenthaltsbestimmungsberechtigten (hier: dem Kindesvater) überlassen bleiben (v.Staudinger/Salgo a.a.O., § 1631b Rn 42; NK-BGB/Rakete-Dombek, § 1631b Rn 9; Weinreich/Klein/Ziegler, Fachanwaltskommentar Familienrecht, 4. Auflage, § 1631b Rn 4). Im Anschluss an eine gerichtliche Genehmigung hat das Jugendamt den Sorge- oder Aufenthaltsbestimmungsberechtigten aber bei der „Zuführung“ des Kindes „zur Unterbringung“ zu „unterstützen“ (§ 167 Abs. 5 FamFG). D.h., das zuständige Jugendamt muss dem aufenthaltsbestimmungsberechtigten Kindesvater bei der Zuführung seines Kindes zur Unterbringung behilflich sein, falls der Kindesvater die Unterbringung wegen Widerstands des Kindes nicht allein durchführen kann. Auf Grund eines entsprechenden Gerichtsbeschlusses darf das Jugendamt auch Gewalt anwenden und um polizeiliche Unterstützung nachsuchen (Schulte-Bunert/Weinreich/Ziegler a.a.O., § 167 Rn 9 unter Bezugnahme auf die Motive des Gesetzes). Einer Genehmigung der vorläufigen Unterbringung von C. steht also nicht eine fehlende „Geeignetheit“ der Maßnahme, zum Kindeswohl beizutragen, entgegen.

35

Um feststellen zu können, ob eine Genehmigung der vorläufigen Unterbringung des Kindes „erforderlich“ ist, um der Kindeswohlgefährdung zu begegnen, oder ob mildere Maßnahmen genügen (§ 1631b BGB), hat das Familiengericht – wenigstens – ein ärztliches Attest eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (§ 167 Abs. 6 in Verbindung mit § 331 Nr. 2 FamFG) einzuholen; dies ist zwingend vorgeschrieben.

36

(2) Hat das Familiengericht – wenigstens – ein solches Attest eingeholt und kann es auf Grund des Attestes feststellen, dass dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Genehmigung der Unterbringung (§ 1631b BGB) vorliegen, so dürfte bei der vorliegenden Selbstgefährdung des Kindes auch ein dringendes Bedürfnis für eine sofortige gerichtliche Genehmigung der vorläufigen Unterbringung des Kindes bestehen (§ 167 Abs. 1 in Verbindung mit § 331 Nr. 1 FamFG). Denn angesichts des Umstands, dass das 15-jährige Kind seit 2011 unbekannten Aufenthalts ist, also zu verwahrlosen droht, und auch nicht mehr die Schule besucht, müsste, falls der Selbstgefährdung des Kindes nicht auf andere Weise begegnet werden kann, auf Grund einer konkreten Abwägung der Gefahrensituation mit dem Gewicht des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht des Kindes, mithin unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten, schon vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens (Erstattung des Sachverständigengutachtens usw.) die Genehmigung der sofortigen Unterbringung ausgesprochen werden (vgl. Keidel/Budde a.a.O., § 331 Rn 7).

37

cc) Freilich kann das Familiengericht – angesichts des unbekannten Aufenthalts des Kindes – nicht ohne Weiteres das im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren für die Feststellung der sachlich-rechtlichen Voraussetzungen einer Genehmigung der Unterbringung (§ 1631b BGB) zwingend vorgeschriebene ärztliche Attest (§ 167 Abs. 1 und 6 Satz 1 in Verbindung mit § 331 Nr. 2 FamFG) einholen. Indessen weist das Familiengericht – zutreffend – darauf hin, zwar nicht im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren, wohl aber im parallelen Hauptsacheverfahren das Kind zu einer Untersuchung zur Vorbereitung des in jenem Verfahren einzuholenden „Gutachtens“ vorführen und zur Vorbereitung des „Gutachtens“ auch unterbringen sowie beobachten zu dürfen (§ 167 Abs. 1 in Verbindung mit § 322 und §§ 283, 284 FamFG; diese verfahrensrechtliche Möglichkeit ist bei der Einholung eines bloßen Attestes nicht gegeben). Dadurch würde der mit der Erstattung des Gutachtens beauftragte Sachverständige in die Lage versetzt, das im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren noch fehlende ärztliche Attest auszustellen; bei dieser Gelegenheit dürfte das Gericht auch die noch ausstehende persönliche Anhörung des Kindes (§ 167 Abs. 1 in Verbindung mit § 331 Nr. 4 FamFG) durchführen können.

38

Inzwischen hat das Familiengericht mit Beschluss vom 04. Juni 2012 die Vorführung des Kindes zu einer Untersuchung zur Vorbereitung des im Hauptsacheverfahren einzuholenden Gutachtens angeordnet (Bl. 91 f. d.A.).

39

3. Der Senat entscheidet ohne mündliche Verhandlung und Wiederholung erstinstanzlicher Verfahrenshandlungen, weil das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet, zur Entscheidung umfangreiche weitere Ermittlungen notwendig sind und der Kindesvater eine Aufhebung und Zurückverweisung beantragt hat (§ 69 Abs. 1 Satz 3 FamFG).


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