Urteil vom Verwaltungsgericht Minden - 7a K 424/21
Tenor
Das beklagte Land wird unter Aufhebung des Bescheids des M. vom 20. Januar 2021 verpflichtet, der Klägerin für den Mitarbeiter O. D. N. betreffend den Zeitraum vom 18. Juni bis zum 30. Juni 2020 eine Erstattung in Höhe von 574,44 Euro (Netto-Verdienstausfall) zuzüglich 390,39 Euro geleisteter Sozialabgaben zu bewilligen, sowie auf diesen Betrag Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtsanhängigkeit zu zahlen.
Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Das beklagte Land darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
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Tatbestand:
2Die Klägerin begehrt die Erstattung der an ihren Arbeitnehmer gezahlten Verdienstausfallentschädigung infolge behördlich angeordneter Quarantäne.
3Es handelt sich bei der Klägerin um eine Zweigniederlassung eines rumänischen Unternehmens in der Rechtsform S.R.L. Sie ist in der Fleischverarbeitungsbranche tätig. Ihr Firmensitz befindet sich unter der Anschrift „F.----- in 33378 Rheda-Wiedenbrück“. Seit 2014 ist sie geschäftlich mit der U. M. GmbH & Co. KG (Betriebssitz „J. in 33378 Rheda-Wiedenbrück“) verbunden.
4Mit Werkvertrag vom 10. Januar 2020 verpflichtete sich die Klägerin als Werkunternehmerin gegenüber der Firma U. M. GmbH & Co. KG (im Folgenden: Firma U. ) als Bestellerin im Zeitraum vom 1. Februar 2020 bis zum 31. Juli 2020 zur Herstellung von Fleischteilstücken und Zerlegenebenprodukten. Die Werk-leistung wird nach den vertraglichen Bestimmungen auf dem Betriebsgelände der Firma U. erbracht. Räumlichkeiten und Betriebsmittel (mit Ausnahme von Messern, Wetzstählen, Arbeits- und Schutzkleidung) werden von dieser zur Verfügung gestellt.
5Gemäß § 2 Nr. 5 Werkvertrag haben (die Klägerin als) Werkunternehmerin und die Personen, deren sie sich zur Erfüllung ihrer werkvertraglichen Leistungen bedient, u.a. Weisungen der Hygienebeauftragen des Bestellers Folge zu leisten. Nach § 2 Nr. 6 Werkvertrag ist die Werkunternehmerin verpflichtet, gemäß § 8 Abs. 1 ArbSchG ihre Beschäftigten über Gefahren und Risiken für Sicherheit und Gesundheit sowie über Schutzmaßnahmen vor Arbeitsaufnahme zu unterweisen. Weiter ist sie verpflichtet, ihre Beschäftigten vor Arbeitsaufnahme nach der Betriebseinweisung Personalhygiene FB HY 8-01 in der jeweils gültigen Version zu schulen. Der Nachweis über die stattgefundenen Unterweisungen ist schriftlich von den Beschäftigten per Unterschrift zu bestätigen und unaufgefordert vor Arbeitsaufnahme an das Lohnbüro des Bestellers weiterzuleiten. Die Klägerin hat zudem nach § 2 Nr. 7 Werkvertrag gegenüber der Bestellerin einen verantwortlichen Vertreter zu benennen bzw. dafür Sorge zu tragen, dass ein verantwortlicher Vertreter bei der Erfüllung der werkvertraglichen Verpflichtungen präsent ist. § 2 Nr. 9 Werkvertrag bestimmt, dass die Erfüllung sämtlicher Verpflichtungen aus den mit ihren Arbeitnehmern geschlossenen Verträgen der Klägerin als Werkunternehmerin obliegt.
6Im Rahmen dieses Werkvertrags setzte die Klägerin ihren Arbeitnehmer O. D. N. als Fleischer auf dem Betriebsgelände der Firma U. ein. Er war vom 15. November 2018 bis Ende 2020 bei der Klägerin beschäftigt. Seit Anfang 2021 ist er direkt bei der U. Unternehmensgruppe angestellt.
7Im Rahmen einer am 16. Juni 2020 durchgeführten Reihentestung stellte das Gesundheitsamt des Kreises Gütersloh bei 730 von 1.106 Abstrichen von in der „Zerlegung“ auf dem Werksgelände der Firma U. tätigen Mitarbeitern einen positiven Befund auf das Coronavirus SARS-CoV-2 fest.
8Der Landrat des Kreises Gütersloh ordnete daraufhin am 17. Juni 2020 zunächst mündlich die Schließung des Betriebsstandortes der U. Unternehmensgruppe in Rheda-Wiedenbrück an. Unter dem 10. August 2020 bestätigte er gegenüber der U. & Co. KG die Allgemeinverfügung zur Schließung des Betriebs der Unternehmensgruppe U. am Betriebsstandort „J. , 33378 Rheda-Wiedenbrück“ schriftlich.
9Mit Allgemeinverfügung zur fortbestehenden Schließung und den Voraussetzungen einer schrittweise möglichen Wiederaufnahme des Betriebs der Unternehmensgruppe U. am Betriebsstandort „J……, 33378 Rheda-Wiedenbrück“ vom 2. Juli 2020 verfügte der Bürgermeister der Stadt Rheda-Wiedenbrück eine weitere Schließung bis zum 17. Juli 2020. Überdies wurden Regelungen zur schrittweisen Wiederaufnahme des Betriebs getroffen.
10Mit Allgemeinverfügung zur Absonderung in sog. häusliche Quarantäne vom 18. Juni 2020 ordnete der Landrat des Kreises Gütersloh in Ziffer 1 die Absonderung in häusliche Quarantäne gegenüber allen im Betrieb der Firma U. in Rheda-Wiedenbrück in der Produktion tätigen Personen an. Ziffer 2 enthielt einen Ausnahmetatbestand für alle seit dem 16. Juni 2020 durch Beauftragte des Gesundheitsamtes negativ getesteten Personen, die auch bei Erhalt des Testergebnisses noch keinerlei Symptome aufwiesen. Gleichzeitig wurde der Fall geregelt, dass der Betroffene zwar negativ getestet worden ist, aber im Rahmen der Kontaktnachverfolgung als Kontaktperson der Kategorie 1 nach den Kriterien des Robert-Koch-Instituts ermittelt wurde. In diesem Fall sollte das Gesundheitsamt mitteilen, bis wann die Absonderung zu erfolgen hat.
11Mit Allgemeinverfügung zur Absonderung in sog. häusliche Quarantäne vom 20. Juni 2020 hob der Landrat des Kreises Gütersloh die Allgemeinverfügung vom 18. Juni 2020 auf und ordnete für alle auf dem Betriebsgelände der Firma U. in Rheda-Wiedenbrück tätigen Personen die Absonderung in häusliche Quarantäne bis zum 2. Juli 2020, 24:00 Uhr, an. Zugleich erließ er Ausnahmeregelungen für eine sog. Arbeitsquarantäne für bestimmte Personengruppen die auf dem Gelände der Firma U. tätig waren. Die Produktion war von dieser Ausnahme nicht erfasst.
12Mit Allgemeinverfügung zum Schutz der Bevölkerung vor der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 gegenüber im Betrieb der Firma U. am Standort „J. , 33378 Rheda-Wiedenbrück“ tätigen und mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebenden Personen durch Absonderung in häuslicher Quarantäne vom 1. Juli 2020 ordnete das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) ab dem 3. Juli 2020, 00:00, Uhr gegenüber allen Personen, die im Zeitraum vom 3. Juni 2020 bis zum 17. Juni 2020 an mindestens einem Tag auf dem Betriebsgelände der Firma U. am Standort „J. , 33378 Rheda-Wiedenbrück“ tätig waren, unabhängig davon, ob sie unmittelbar bei dieser Firma, einem Subunternehmer oder einer Leiharbeitsfirma angestellt sind oder für diese tätig waren, die Absonderung in häusliche Quarantäne bis zum 17. Juli 2020, 24.00 Uhr an. Zugleich erließ das MAGS Ausnahmeregelungen für eine sog. Arbeitsquarantäne für bestimmte Personengruppen, die auf dem Gelände der Firma U. tätig waren. Die Produktion war von dieser Ausnahme nicht erfasst.
13Mit Verfügung vom 17. Juli 2020 ordnete die Stadt Rheda-Wiedenbrück gegenüber dem Arbeitnehmer O. D. N. als Kontaktperson mit einer mit dem Coronavirus infizierten Person die häusliche Quarantäne bis einschließlich zum 24. Juli 2020 an. Ausweislich der dazu eingereichten Bescheinigung der Stadt Rheda-Wiedenbrück vom 27. Oktober 2021 befand sich Herr N. vom 17. Juli 2020 bis zum 23. Juli 2020 in Absonderung.
14Am 28. Juli 2020 beantragte die Klägerin (erstmals) die „Erstattung von Arbeitgeberaufwendungen bei Verdienstausfall eines Arbeitnehmers auf Grund behördlich angeordneter Quarantäne (Absonderung) oder Tätigkeitsverbot nach § 56 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG)“ für den Arbeitnehmer O. D. N. für den Zeitraum bis zum 30. Juni 2020. Dazu erklärte sie u.a., dass der Arbeitnehmer sich vom 17. Juni 2020 bis zum 30. Juni 2020 in Absonderung befunden habe, er in diesem Zeitraum keinen genehmigten Urlaub gehabt habe, er nicht aufgrund eines kranken Kindes arbeitsbefreit gewesen sei und er in diesem Zeitraum keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 616 BGB, auf Arbeitslosengeld I, Kurzarbeitergeld, sonstige Zuschüsse, zusätzliches Einkommen aus Ersatztätigkeiten gehabt habe. Der Betrieb sei ab dem 18. Juni 2020 geschlossen gewesen. Ein Enddatum der Betriebsschließung gab die Klägerin nicht an.
15Bei der Frage, ob der Arbeitnehmer während der Absonderung arbeitsunfähig krank gewesen sei, kreuzte die Klägerin beide der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten „Ja“ und „Nein“ an. Im Klageverfahren erklärte sie dazu, dass es sich um einen Tippfehler handele. Der Arbeitnehmer sei im Zeitraum vom 18. Juni 2020 bis zum 24. Juni 2020 nicht arbeitsunfähig erkrankt gewesen.
16Mit Bescheid vom 20. Januar 2021 lehnte der M. (M. ) den Antrag auf Erstattung von Verdienstausfallentschädigung für den Zeitraum vom 17. Juni 2020 bis zum 30. Juni 2020 für Herrn O. D. N. ab. Zur Begründung führte der M. aus, dass die Klägerin beim Einsatz ihres Arbeitnehmers Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften, insbesondere Hygienevorgaben verletzt habe. Aus diesem Grund habe der Arbeitnehmer einen Lohnfortzahlungsanspruch gegen die Klägerin als Arbeitgeberin, sodass ein Verdienstausfall i.S.v. § 56 Abs. 1 IfSG und damit ein entsprechender Erstattungsanspruch nicht vorlägen. Der Betrieb, in dem der Arbeitnehmer eingesetzt gewesen sei, sei vom 16. Juni 2020 bis zum 17. Juli 2020 aufgrund behördlicher Anordnung geschlossen gewesen. Ein Einsatz des Arbeitnehmers sei somit bereits aus betrieblichen Gründen nicht möglich gewesen. Im Zeitraum der Betriebsschließung habe bereits aus diesem Grund kein Verdienstausfall vorgelegen, da der Arbeitnehmer einen Lohnfortzahlungsanspruch gegen die Klägerin als Arbeitgeberin gehabt habe, sodass ein möglicher Entschädigungsanspruch entfalle.
17Die Klägerin hat am 23. Februar 2021 Klage erhoben.
18Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, dass Herr N. zum Zeitpunkt der Absonderungsanordnung in der Zerlegung in der Spätschicht „am Band Lachse“ auf dem Betriebsgelände der Firma U. in Rheda-Wiedenbrück gearbeitet habe. Insgesamt habe sich der Arbeitnehmer vom 18. Juni bis zum 24. Juli 2020 in häuslicher Absonderung befunden. Dementsprechend habe sie am 18. September 2020 einen zweiten Erstattungsantrag beim M. gestellt. Dieser betreffe den Absonderungszeitraum vom 1. Juli bis zum 24. Juli 2020.
19Der Arbeitnehmer N. sei zwischen dem 18. Juni 2020 und dem 24. Juli 2020 nicht an COVID-19 erkrankt gewesen, er habe auch nicht an typischen Symptomen gelitten. Überdies sei er negativ getestet worden. Die Testungen seien von Mitarbeitern des Deutschen Roten Kreuzes oder der Bundeswehr durchgeführt worden, schriftliche Unterlagen lägen dazu aber nicht vor. Die Ergebnisse seien ihren Mitarbeitern lediglich telefonisch mitgeteilt worden; ebenso sei die Aufforderung, in Quarantäne zu verbleiben, telefonisch ergangen. Vom Gesundheitsamt des Kreises Gütersloh habe sie die Negativtests nicht erlangen können, diese Daten seien nach behördlicher Auskunft nicht gespeichert worden.
20Der Anspruch sei insbesondere nicht wegen Verstößen gegen Gesundheits- und Arbeitsvorschriften oder Hygienevorgaben ausgeschlossen. Der Behördenakte lasse sich weder der vom M. behauptete Verstoß entnehmen, noch sei ersichtlich, dass die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Arbeitnehmers N. geprüft worden seien. Auch in den Begründungen der Allgemeinverfügungen über die Absonderung in häusliche Quarantäne seien keine Verstöße gegen Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften zum Zeitpunkt der Anordnung festgestellt worden. In der Verfügung des Kreises Gütersloh vom 18. Juni 2020 werde auf Seite 4 von einem „unklaren Ausbruchsgeschehen“ ausgegangen und nach den Ausführungen auf Seite 3 werde es nur als „sehr naheliegend“ erachtet, dass die infizierten Beschäftigten aus der Zerlegung der Firma U. weitere in der Produktion tätige Personen durch Kontakte am Arbeitsplatz, in der gemeinsamen Unterkunft oder auf dem gemeinsamen Transportweg infiziert hätten.
21Im Übrigen habe sie beim Einsatz ihrer Arbeitnehmer auf dem Betriebsgelände der Firma U. auch keine Verstöße begangen. Seitens ihrer Bestellerin seien seit Beginn der Corona-Pandemie Präventionsmaßnahmen und Hygienekonzepte eingeführt worden, die auch von ihr - als auf dem Betriebsgelände tätige Subunternehmerin - umgesetzt worden seien. Sie habe etwa dafür Sorge getragen, dass sich die Arbeitnehmer der unterschiedlichen Schichten nicht vermischten. Auch hätten die Arbeitnehmer getrennt voneinander gewohnt, eine Vermischung sei auch insoweit vermieden worden. Ihre Mitarbeiter seien mündliche über die (sich ändernden) einzuhaltenden Maßnahmen informiert und angewiesen worden, sich an diese Anordnungen zu halten. Der Betriebsleiter M1. C. sei zuständig gewesen für Schulungen und Informationen vor Ort. Einzuhaltende Schutzmaßnahmen seien auch schriftlich in rumänischer Sprache an die Mitarbeiter verteilt worden. Zudem seien regelmäßig Amtsärzte vor Ort gewesen, die lebensmittelrechtliche Kontrollen durchgeführt hätten. Hinweise auf Verstöße gegen Hygienevorschriften hätten die Kontrolleure nicht festgestellt. Sämtliche Arbeitnehmer in der Produktion hätten z.B. Schutzkleidung getragen und sich vor dem Betreten der Arbeitsbereiche Hände und Schuhe desinfiziert. Auch die Kontrollen durch die Gewerbeaufsicht seien beanstandungslos geblieben.
22Herr N. habe im Juni 2020 mit seiner Familie in einer eigenen Wohnung gelebt. Es habe sich dabei nicht um eine Firmenunterkunft gehandelt.
23Die Klägerin beantragt,
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1. das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheids des M. vom 20. Januar 2021 zu verpflichten, ihr für den Mitarbeiter O. D. N. betreffend den Zeitraum vom 18. Juni bis zum 30. Juni 2020 eine Erstattung in Höhe von 574,44 Euro (Netto-Verdienstausfall) zuzüglich 390,39 Euro geleisteter Sozialabgaben zu bewilligen,
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2. das beklagte Land zu verpflichten, an sie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtsanhängigkeit zu zahlen.
Das beklagte Land beantragt,
28die Klage abzuweisen.
29Es trägt im Wesentlichen vor, der Arbeitnehmer N. habe keinen Verdienstausfall erlitten. Ihm stehe ein Lohnfortzahlungsanspruch gegen die Klägerin nach § 616 Satz 1 BGB zu. Insbesondere stelle die Dauer der Verhinderung eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit dar. Insoweit erschließe sich schon nicht, warum Herr N. über den sonst üblichen Zeitraum von 14 Tagen abgesondert gewesen sei. Aber auch eine Absonderung von fünf Wochen stelle eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit dar. Die Absonderung sei mit einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vergleichbar, sodass nach dem Rechtsgedanken des Entgeltfortzahlungsgesetzes ein Fortzahlungsanspruch von bis zu sechs Wochen bestehe. Die gesetzgeberischen Motive stellten klar, dass ein Quarantäne-Pflichtiger in ähnlicher Weise betroffen sei wie eine erkrankte Person.
30Zudem sei der Vergütungsanspruch wegen der Regelung des § 615 Sätze 1 und 3 BGB nicht untergegangen. Dies sei zunächst der Fall, weil es sich bei dem der Absonderung des Herrn N. zu Grunde liegenden Ansteckungsverdacht um ein Betriebsrisiko handele. Die Absonderung beruhe auf einem Ansteckungsverdacht, der wiederrum aus der arbeitsvertraglich geschuldeten Erbringung der Arbeitsleistung als Fleischer auf dem U. Betriebsgelände resultiere. Hätte der Arbeitnehmer nicht am Betriebsstandort in Rheda-Wiedenbrück gearbeitet, wäre der Grund für die Absonderung entfallen. Die Klägerin könne sich nicht auf ein Unvermögen ihres Arbeitnehmers zum Erbringen der Arbeitsleistung infolge der Absonderung berufen, da das Unvermögen gerade aus ihrer Sphäre stamme, nämlich dem ihren unternehmerischen Interessen dienenden Einsatz des Arbeitnehmers am Betriebsstandort. Würde man aufgrund der Absonderung von einem einen Anspruch aus § 615 Satz 3 BGB ausschließenden Unvermögen des Arbeitnehmers ausgehen, bürdete man ihm so - entgegen der gesetzlichen Wertung - das in der Sphäre der Klägerin liegende Betriebsrisiko auf.
31Darüber hinaus stehe dem Arbeitnehmer N. der Lohnfortzahlungsanspruch nach § 615 Sätze 1 und 3 BGB aufgrund der behördlich angeordneten Schließung des Betriebsstandorts zu. Diese Schließung sei dem Betriebsrisiko der Klägerin zuzurechnen, da sie auf eine erhebliche Begünstigung der Virus-Verbreitung durch die betrieblichen Verhältnisses - insbesondere baulicher und betriebsorganisatorischer Natur - zurückzuführen sei.
32Des Weiteren sei der Arbeitnehmer N. seines Vergütungsanspruchs nach § 615 Sätze 1 und 3 BGB nicht verlustig gegangen, weil die Klägerin bei dessen Einsatz Gesundheits- und Arbeitsvorschriften verletzt habe. Unter das Betriebsrisiko fielen auch Verstöße gegen die den Arbeitgeber treffende Fürsorgepflicht gemäß § 618 Abs. 1 BGB; auf ein Verschulden komme es dabei nicht an. Die dem Arbeitgeber obliegende Fürsorgepflicht werde durch die öffentlich-rechtlichen Schutzmaßnahmen konkretisiert, wobei diese lediglich das Mindestmaß festlegten. Diese Bestimmungen des Arbeitsschutzes seien im Hinblick auf die ausgebrochene Covid-19-Pandemie dahingehend auszulegen, dass der Arbeitgeber Schutzmaßnahmen hinsichtlich des Gesundheitsschutzes seiner Arbeitnehmer zu ergreifen habe, um eine Infektion mit dem neuartigen Virus zu vermeiden und Infektionsrisiken so zu minimieren.
33Ein Infektionsgeschehen, wie es in der Begründung zur Allgemeinverfügung des Bürgermeisters der Stadt Rheda-Wiedenbrück vom 2. Juli 2020 dargelegt sei, biete hinreichend belastende Anhaltspunkte dafür, dass die Verbreitung insbesondere durch die baulichen und betriebsorganisatorische Verhältnisse begünstigt worden sei; im Falle eines funktionierenden und dem Pandemiegeschehen angepassten Hygieneplans sei ein derartiges Infektionsgeschehen schlechterdings nicht denkbar. Entsprechende Verstöße ergäben sich zudem aus den Begründungen der Allgemeinverfügungen des Kreises Gütersloh und der Stadt Rheda-Wiedenbrück, in denen von einem großen, unklaren Ausbruchsgeschehen die Rede sei und dargelegt werde, dass sich das Coronavirus, begünstigt durch die betrieblichen Verhältnisse, von der Zerlegung in andere Bereiche durch Kontakte am Arbeitsort, in den Unterkünften und auf dem Transportweg verbreitet habe. Im Übrigen seien im Rahmen der Besichtigung am 15. Mai 2020 aller Abteilungen und Bereiche der Unternehmensgruppe U. durch die Bezirksregierung Detmold gravierende Mängel im Hinblick auf die Vorgaben der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards und damit Verstöße gegen den Arbeits- und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes festgestellt worden. Auch ein bei YouTube veröffentlichtes Video zeige die Verhältnisse in der Kantine, in der Mindestabstände nicht eingehalten worden seien.
34Die Absonderungsverfügung sei nicht kausal für den geltend gemachten Verdienstausfall, da der Arbeitnehmer N. bereits aufgrund der Betriebsschließung vom 17. Juni 2020 bis zum 17. Juli 2020 nicht habe arbeiten können.
35Des Weiteren wirkten sich die werkvertraglichen Bestimmungen auf den geltend gemachten Erstattungsanspruch aus. Soweit die Klägerin nachweise, dass sie sich nicht vertragswidrig verhalten habe, könne sie grundsätzlich gegenüber der Bestellerin einen Schadensersatzanspruch geltend machen. Zwar sei der Anspruch werkvertraglich ausgeschlossen, das Entschädigungsrecht diene aber nicht dazu, ausgeschlossene Schadensersatzansprüche zu kompensieren. Dies gelte umso mehr, als dass eine Entschädigung im Vergütungsanspruch enthalten sei.
36Jedenfalls müsse sich die Klägerin ein weit überwiegendes Mitverschulden anrechnen lassen, das den Erstattungsanspruch ausschließe. Die Pflichtverstöße der Klägerin als Arbeitgeberin gegenüber ihren Arbeitnehmern betreffend deren Gesundheitsschutz seien derart erheblich gewesen und hätten zu einer so großen Infektionsgefahr geführt, dass diese letztlich nur durch eine flächendeckende Allgemeinverfügung zur Absonderung der am Betriebsstandort in Rheda-Wiedenbrück tätigen Personen sowie durch eine mehrwöchige Betriebsschließung eingedämmt werden konnte.
37Die Kammer hat den Arbeitnehmer N. als Zeugen gehört. Wegen des Inhalts und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom heutigen Tage verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs.
38Entscheidungsgründe:
39Die zulässige Klage ist begründet.
40Der Bescheid des beklagten Landes vom 20. Februar 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Ihr steht ein Anspruch auf Erstattung der an ihren Arbeitnehmer O. D. N. gezahlten Verdienstausfallentschädigung in Höhe von 574,44 Euro Netto-Verdienstausfall (A.) zuzüglich Sozialversicherungsabgaben in Höhe von 390,39 Euro (B.) für den Zeitraum vom 18. bis zum 30. Juni 2020 zu (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO). Des Weiteren hat die Klägerin einen Anspruch auf die geltend gemachten Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit (C.).
41A. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Bewilligung einer Erstattung der an ihren Arbeitnehmer N. geleisteten Aufwendungen in Höhe von 574,44 Euro aus § 56 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 5 IfSG.
42I. Maßgeblich ist insoweit die ab dem 23. Mai 2020 gültige Gesetzesfassung, dem Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf Entschädigung.
43Aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich für die Frage des richtigen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage aus dem Prozessrecht nur, dass ein Kläger im verwaltungsgerichtlichen Rechtsstreit ebenso mit einem Aufhebungsbegehren wie mit einem Verpflichtungsbegehren nur dann Erfolg haben kann, wenn er im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf die erstrebte Aufhebung des Verwaltungsakts bzw. auf die erstrebte Leistung hat. Ob ein solcher Anspruch jedoch besteht, d.h. ob ein belastender Verwaltungsakt den Kläger im Sinne des § 113 Abs. 1 VwGO rechtswidrig in seinen Rechten verletzt oder die Ablehnung eines begehrten Verwaltungsakts im Sinne des § 113 Abs. 5 VwGO rechtswidrig ist, beurteilt sich nach dem materiellen Recht, dem nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ermächtigungsgrundlage oder eines Anspruchs selbst, sondern auch die Antwort auf die Frage zu entnehmen ist, zu welchem Zeitpunkt diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen.
44Vgl. nur: BVerwG, Urteil vom 31. März 2004 - 8 C 5.03 -, juris Rn. 35; VG Bayreuth, Urteil vom 21. Juni 2021 - B 7 K 21.110 -, juris Rn. 22, jeweils m.w.N.; vgl. auch Eckart/Kruse, in: BeckOK, Infektionsschutzrecht, IfSG, 10. Edition, 15. Januar 2022, § 56 Rn. 20a, m.w.N. zum Streitstand.
45Nach diesen Grundsätzen ist hier § 56 IfSG in der vom 23. Mai bis zum 18. November 2020 gültigen Fassung anzuwenden, denn der insoweit maßgebliche Anspruch des Arbeitnehmers, der hier durch die Klägerin als Arbeitgeberin geltend gemacht wird (§ 56 Abs. 5 Sätze 1 und 2 IfSG), war jedenfalls zu diesem Zeitpunkt bereits entstanden. Dies ergibt sich aus der damals gültigen Fassung des § 56 Abs. 6 Satz 1 IfSG, der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch unverändert fort gilt. Danach richtet sich die Fälligkeit der Entschädigungsleistungen bei Arbeitnehmern nach der Fälligkeit des aus der bisherigen Tätigkeit erzielten Arbeitsentgelts. § 614 BGB bestimmt dabei, dass die Vergütung nach der Leistung der Dienste zu entrichten ist (Satz 1) und dass, soweit die Vergütung nach Zeitabschnitten bemessen ist, diese nach dem Ablauf der einzelnen Zeitabschnitte zu entrichten ist (Satz 2).
46Vgl. Maties, in: BeckOGK, BGB, 1. August 2021, § 614 Rn. 54 f.
47Die Klägerin hatte mit ihrem Arbeitnehmer einen Stundenlohn und eine wöchentliche Arbeitszeit von 42 Stunden vereinbart, die Fälligkeit sollte zum 15. des Monats eintreten, der auf den Monat der Arbeitsleistung folgt (§ 4 und 5 Abs. 1 Arbeitsvertrag). Da der letzte Absonderungstag, für den hier noch Erstattung beansprucht wird, der 30. Juni 2020 (Dienstag) gewesen ist, war der Anspruch spätestens am 15. Juli 2020 fällig und damit auch jedenfalls entstanden. Insoweit braucht nicht entschieden werden, ob der Entschädigungsanspruch des Arbeitnehmers bereits zum Zeitpunkt der Absonderung entstanden sein könnte, da die im Zeitpunkt der Fälligkeit gültige Fassung bereits während der Absonderung galt.
48II. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 56 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 IfSG liegen vor.
49Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält eine Entschädigung in Geld, wer auf Grund dieses Gesetzes als Ausscheider, Ansteckungsverdächtiger, Krankheitsverdächtiger oder als sonstiger Träger von Krankheitserregern im Sinne von § 31 Satz 2 IfSG Verboten in der Ausübung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit unterliegt oder unterworfen wird und dadurch einen Verdienstausfall erleidet. Das Gleiche gilt nach § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG für Personen, die als Ausscheider, Ansteckungsverdächtige oder Krankheitsverdächtige abgesondert wurden oder werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen können.
50Satz 3 des § 56 Abs. 1 IfSG bestimmt zudem, dass eine Entschädigung nach den Sätzen 1 und 2 nicht erhält, wer durch Inanspruchnahme einer Schutzimpfung oder anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die gesetzlich vorgeschrieben ist oder im Bereich des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Betroffenen öffentlich empfohlen wurde, ein Verbot in der Ausübung seiner bisherigen Tätigkeit oder eine Absonderung hätte vermeiden können.
51Gemäß § 56 Abs. 5 IfSG hat der Arbeitgeber bei Arbeitnehmern für die Dauer des Arbeitsverhältnisses, längstens für sechs Wochen, die Entschädigung für die zuständige Behörde auszuzahlen (Satz 1). Die ausgezahlten Beträge werden dem Arbeitgeber auf Antrag von der zuständigen Behörde erstattet (Satz 2). Im Übrigen wird die Entschädigung von der zuständigen Behörde auf Antrag gewährt (Satz 3).
52Die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 IfSG sind erfüllt.
531. Der für den Erstattungsanspruch der Klägerin primär erforderliche ursprüngliche Entschädigungsanspruch des Herrn N. gegen das beklagte Land nach § 56 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 IfSG liegt vor.
54a. Einschlägig ist hier § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG (Entschädigung aufgrund einer Absonderung).
55Der Arbeitnehmer N. unterlag ausweislich der Allgemeinverfügungen vom 18. Juni 2020 und 20. Juni 2020 des Kreises Gütersloh „zur Absonderung in sog. häusliche Quarantäne“ vom 18. Juni 2020 bis zum 30. Juni 2020 einer behördlich angeordneten Absonderung (i.S.d. § 30 IfSG). Es ist unter Berücksichtigung der Begründung der Allgemeinverfügung auch davon auszugehen, dass Herr N. als Ansteckungsverdächtiger (§ 2 Nr. 7 IfSG) galt, da er unmittelbar vor Erlass der ersten Absonderungsverfügung als Schlachter auf dem Betriebsgelände der Firma U. tätig war. Sein Einsatzort war die Zerlegung, dort wurde am 16. Juni 2020 eine Vielzahl von mit dem Coronavirus infizierten Kollegen festgestellt.
56Da § 56 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 IfSG das Erfordernis der Rechtmäßigkeit der Absonderungsverfügung nicht voraussetzt, genügt tatbestandlich eine wirksame Maßnahme.
57Vgl. zum Streitstand: Eckart/Kruse, in: BeckOK, Infektionsschutzrecht, IfSG, 10. Edition, 15. Januar 2022, § 56 Rn. 34, m.w.N.; Kümper, in: Kießling, IfSG, 2. Auflage 2021, § 56 Rn. 20, m.w.N.
58Gegen die Wirksamkeit der Verfügung bestehen keine Bedenken, solche wurden von den Beteiligten auch nicht vorgetragen. Ungeachtet dessen bestehen - unter Berücksichtigung der o.g. Umstände - auch keine (durchgreifenden) Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Absonderungsanordnung.
59b. Unabhängig davon, ob § 56 Abs. 1 Satz 3 IfSG in seiner hier maßgeblichen Fassung über die dort ausdrücklich geregelten Fälle dahingehend zu verstehen ist, dass allgemein bei Vermeidbarkeit der Absonderung durch den Abgesonderten die Entschädigung ausscheidet,
60vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 10. Mai 2021 - 9 K 67/21 -, juris Rn. 94,
61ist hier nicht zu erkennen, dass die Absonderung vom 18. bis zum 30. Juni 2020 für den Arbeitnehmer vermeidbar gewesen sein könnte. Insbesondere hat er sich nach eigenen Angaben ab dem 18. Juni 2020 durchgängig in häuslicher Absonderung befunden; eine Freitestung nach den in der Allgemeinverfügung des Kreises Gütersloh vom 18. Juni 2020 festgelegten Kriterien erfolgte für ihn in dieser Zeit nicht. In der Allgemeinverfügung vom 20. Juni 2020 bestand die Möglichkeit einer Freitestung für Ansteckungsverdächtige wie den Arbeitnehmer nicht mehr.
62c. Der Arbeitnehmer N. hat außerdem in dem Zeitraum vom 18. Juni 2020 bis zum 30. Juni 2020 den erforderlichen Verdienstausfall erlitten.
63Nach dem Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ (§ 326 Abs. 1 BGB) stand ihm im Zeitraum der Absonderung, in dem er seine Wohnung nicht verlassen durfte, kein Anspruch aus seinem Arbeitsvertrag i.V.m. § 611a Abs. 2 BGB auf Zahlung seines Arbeitslohns zu.
64Vgl. dazu z.B.: Maties, in: BeckOGK, BGB, 1. August 2021, § 611a Rn. 1670 ff.; Fandel/Kock, in: Herberger/Martinek u.a., jurisPK-BGB, 9. Auflage 2020, § 611a Rn. 198.
65Er konnte seine Tätigkeit als „Fleischer“ offenkundig auch nicht im Home-Office erbringen.
66Vgl. zur arbeitsorganisatorischen Umstellung auch: Eckart/Kruse, in: BeckOK, Infektionsschutzrecht, IfSG, 10. Edition, 15. Januar 2022, § 56 Rn. 35.
67Es lag kein Fall vor, in dem die Klägerin gegenüber dem Arbeitnehmer nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen zur Lohnfortzahlung trotz nicht geleisteter Arbeit verpflichtet gewesen wäre.
68aa. Die Voraussetzungen des § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB liegen nicht vor.
69Der Anwendung von § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB im Arbeitsrecht steht § 615 BGB nicht entgegen. Die dienstvertraglichen Regeln des Annahmeverzugs verdrängen § 326 BGB nicht. Vielmehr ergänzen sich beide.
70Vgl. im Einzelnen z.B.: BAG, Urteil vom 23. September 2015 - 5 AZR 146/14 -, juris Rn. 26; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, BGB, 22. Auflage 2022, § 615 Rn. 5, m.w.N.; Bieder, in: BeckOGK, BGB, 1. Februar 2020, § 615 Rn. 6.
71Nach § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB behält der Arbeitnehmer den Anspruch auf die Gegenleistung, wenn der Arbeitgeber für den Umstand, auf Grund dessen der Arbeitnehmer nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht zu leisten braucht, allein oder weit überwiegend verantwortlich ist.
72Es fehlt an der danach erforderlichen Verantwortlichkeit der Klägerin, denn es ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin allein oder weit überwiegend verantwortlich ist für den Grund der - wegen des Fixschuldcharakters der nach wöchentlicher Arbeitszeit bemessenen Arbeitsleistung (§ 4 Arbeitsvertrag) -,
73vgl. BAG, Urteile vom 17. März 1988 - 2 AZR 576/87 -, juris Rn. 47, und vom 23. September 2015 - 5 AZR 146/14 -, juris Rn. 26; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, BGB, 22. Auflage 2022, § 611a Rn. 675; Fandel/Kock, in: Herberger/Martinek u.a., jurisPK-BGB, 9. Auflage 2020, § 611a Rn. 198; Ernst, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 275 Rn. 49, 52, zur Einzelfallbetrachtung,
74absonderungsbedingten Unmöglichkeit. Verantwortlichkeit im vg. Sinne erfasst nach der hier maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Vertretenmüssen i.S.d. §§ 276, 278 BGB, d.h. mindestens fahrlässiges Handeln.
75Vgl. z.B.: BAG, Urteil vom 19. August 2015 - 5 AZR 975/13 -, juris Rn. 29; Linck, in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Auflage 2021, § 95 Rn. 2.
76Soweit darüber hinaus vertreten wird, dass sich eine - auch verschuldensunabhängige - Verantwortlichkeit des Gläubigers für bestimmte Risiken ergeben kann,
77vgl. z.B. Ulber, in: Erman, BGB, 16. Auflage 2020, § 326 Rn. 26 ff.; Ernst, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 326 Rn. 53 ff., jeweils m.w.N.,
78bedarf es einer solchen erweiternden Auslegung im Arbeitsverhältnis nicht, da derartige Konstellationen über die Grundsätze der Betriebsrisikolehre zu lösen sind (§ 615 Satz 3 BGB).
79Vgl. Schwarze, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2020, § 326 Rn. C56.
80Dessen ungeachtet ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin durch vertragliche oder gesetzliche Regelungen einer besonderen Risikoübernahme unterliegt.
81Der Gläubiger ist allein oder weit überwiegend verantwortlich i.S.d. § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB, wenn unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 254 BGB eine Verantwortungsquote von 90% vorliegt.
82Vgl. z.B.: Herresthal, in: BeckOGK, BGB, 1. Juni 2019, § 326 Rn. 187, m.w.N.; Stadler, in: Jauernig, BGB, 18. Auflage 2021, § 326 Rn. 14; Dauner-Lieb, in: NK-BGB, 4. Auflage 2021, § 326 Rn. 13; vgl. auch BT-Drs. 14/6040, 187: Vielmehr muss der Gläubiger zumindest „weit“ überwiegend für die Entstehung des Rücktrittsgrundes mit verantwortlich sein. Damit soll ein Grad der Mitverantwortung umschrieben werden, der über § 254 auch einen Schadensersatzanspruch ausschließen würde; a.M. Grüneberg, in: Grüneberg, BGB, 81. Auflage 2022, § 326 Rn. 9 und § 254 Rn. 64.
83Eine eigene (mindestens) weit überwiegende Verantwortlichkeit der Klägerin ist nicht gegeben, weder bezüglich des Ansteckungsverdachts ihres Arbeitnehmers noch bezüglich des erheblichen Ausbruchsgeschehens auf dem Betriebsgelände der Firma U. in Rheda-Wiedenbrück. Zwar hat es von der Klägerin zu verantwortende Verstöße gegen Arbeitsschutzregeln gegeben (1.). Dass die Klägerin damit jedoch weit überwiegend verantwortlich sein könnte, ist nicht ersichtlich (2.).
84(1.) Die Klägerin hat gegen Arbeitsschutzpflichten verstoßen.
85(a.) Nach den der Kammer zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnissen sind der Klägerin im hier maßgeblichen Zeitraum Verstöße gegen ihre arbeitsschutzrechtlichen Pflichten vorzuwerfen.
86Maßgeblich für die Beurteilung etwaiger Verstöße ist aus Sicht der Kammer der Zeitraum ab Mitte Mai 2020. Denn eine am 7. Mai 2020 vom MAGS veranlasse Reihentestung auf das Coronavirus in allen Schlachtbetrieben Nordrhein-Westfalens,
87vgl. Bericht für den Ausschuss Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landtags Nordrhein-Westfalens „SARS-CoV-2/COVID-19 Ausbruchsgeschehen in Schlachtbetrieben“, 13. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV17-3441.pdf,
88hat nur vereinzelt positive Befunde (4 von 6.289) unter den auf dem Betriebsgelände der Firma U. tätigen Personen (im Wesentlichen wohl vom 11. Mai bis zum 18. Mai 2020) ergeben. Diese mit dem Coronavirus infizierten Personen waren nicht in die Fleischverarbeitung involviert und wurden als wahrscheinlich voneinander unabhängig beurteilt.
89Vgl. so: F3. /C. , u.a. „SARS-CoV-2 outbreak investigation in a German meat processing plant“, Preprint vom 23. Juli 2020, abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3654517, und Update vom 6. Oktober 2020 (peer reviewed), abrufbar unter: https://www.embopress.org/doi/full/10.15252/emmm.202013296; vgl. auch: F. u.a., Hygienisch-medizinische Risikoeinschätzung und Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle von COVID-19-Infektionen bei der Firma U. in Rheda-Wiedenbrück zur Unterstützung der Abteilung Gesundheit des Kreises Gütersloh, 28. Juli 2020.
90Erst danach kam es zu dem hier maßgeblichen Ausbruchsgeschehen.
91Gemäß § 618 Abs. 1 BGB hat der Dienstberechtigte Räume, Vorrichtungen oder Gerätschaften, die er zur Verrichtung der Dienste zu beschaffen hat, so einzurichten und zu unterhalten und Dienstleistungen, die unter seiner Anordnung oder seiner Leitung vorzunehmen sind, so zu regeln, dass der Verpflichtete gegen Gefahr für Leben und Gesundheit soweit geschützt ist, als die Natur der Dienstleistung es gestattet.
92Der Inhalt der Fürsorgepflichten, die dem Arbeitgeber nach § 618 BGB im Hinblick auf die Sicherheit und das Leben der Arbeitnehmer obliegen, wird dabei durch die öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutznormen konkretisiert, insbesondere durch das Arbeitsschutzgesetz. Sie transformieren dabei den technischen Arbeitsschutz in den Arbeitsvertrag.
93Vgl. BAG, Urteil vom 12. August 2008 - 9 AZR 1117/06 -, juris Rn. 13; Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 618 Rn. 14.
94Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten 1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen sowie 2. Vorkehrungen zu treffen, dass die Maßnahmen erforderlichenfalls bei allen Tätigkeiten und eingebunden in die betrieblichen Führungsstrukturen beachtet werden und die Beschäftigten ihren Mitwirkungspflichten nachkommen können (Absatz 2).
95Gemäß § 5 Abs. 1 ArbSchG hat der Arbeitgeber durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind. Des Weiteren hat der Arbeitgeber die Beschäftigten über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit während ihrer Arbeitszeit ausreichend und angemessen zu unterweisen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG). Die Klägerin war dabei durch den Einsatz ihrer Mitarbeiter auf dem (fremden) Betriebsgelände der Firma U. nicht von ihren arbeitsschutzrechtlichen Pflichten entbunden.
96Vgl. Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 618 Rn. 95, m.w.N.; Wiebauer, Arbeitsschutz in Fremdfirmen, in: ZfA 2014, 49 f.; vgl. auch z.B. § 2 Nr. 5, 6 und 9 Werkvertrag.
97Werden Beschäftigte mehrerer Arbeitgeber an einem Arbeitsplatz tätig, sind die Arbeitgeber nach § 8 Abs. 1 ArbSchG verpflichtet, bei der Durchführung der Sicherheits- und Gesundheitsschutzbestimmungen zusammenzuarbeiten (Satz 1). Soweit dies für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit erforderlich ist, haben die Arbeitgeber je nach Art der Tätigkeiten insbesondere sich gegenseitig und ihre Beschäftigten über die mit den Arbeiten verbundenen Gefahren für Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten zu unterrichten und Maßnahmen zur Verhütung dieser Gefahren abzustimmen (Satz 2).
98Im Hinblick auf die Coronapandemie hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) am 20. April 2020 die sog. SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandards (IIIb4-34503) festgelegt. Dabei handelt es sich zwar nicht um ein verbindliches Regelwerk. Es ist aber bei der Ermittlung der vom Arbeitgeber zu beachtenden Schutzpflichten einzubeziehen.
99Vgl. z.B. Wilrich, Der SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandard des BMAS, NZA 2020, 634 (637).
100Dies berücksichtigend ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Klägerin sich ihrer arbeitsschutzrechtlichen Pflichten bewusst war und Maßnahmen zum Schutz ihrer Beschäftigten ergriffen hat. Sie hat sich nach eigenem Bekunden an die Vorgaben der Firma U. gehalten, ihre Mitarbeiter entsprechend informiert und diese zur Einhaltung der Vorgaben angehalten. Für die Kontrolle der Schutzmaßnahmen im Bestellerbetrieb waren eigene Betriebsleiter der Klägerin zuständig. Dass diese Angaben unrichtig sind, ist nicht ersichtlich. Insoweit hat auch der Zeuge N. erklärt, dass er und seine Kollegen u.a. von der Klägerin über einzuhaltende Hygieneregeln unterrichtet worden seien. Schriftliche Belehrungen seien ihm, auch in seiner Muttersprache Rumänisch, mehrfach ausgehändigt worden. Zudem habe es vor Ort von Mitarbeitern der Firma U. entsprechende Instruktionen gegeben, was die Behauptung der Klägerin über ihre Einbeziehung in das Hygienekonzept der Firma U. stützt. In diesem Sinne ist - auch dem beklagten Land aus anderen Verfahren - bekannt, dass der „Corona-Krisenstab“ der Firma U. unter der Leitung von Herrn E. B. die erarbeiteten Schutzmaßnahmen u.a. auch an die Betriebs- und Abteilungsleiter der „Dienstleister“ weitergegeben hat. Die Beteiligung ist im Übrigen offenkundig notwendig gewesen, weil die Klägerin im Rahmen des mit der Firma U. geschlossenen Werkvertrages die Räumlichkeiten - inklusive z.B. der Kantine oder der Sanitärräume, dazu sogleich unter (2.) - und Betriebsmittel der Bestellerin genutzt hat. In diesem Rahmen hat es insbesondere auch die erforderliche Gefährdungsbeurteilung gegeben, da das von den Betriebs- und Werksleitern an den jeweiligen Standorten umzusetzende Hygienekonzept zur Corona-Risiko-Minimierung vom 12. Mai 2020, das in der Folgezeit mehrfach angepasst worden ist, u.a. auf der „Ergänzung der Gefährdungsbeurteilung im Sinne des SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandards, Branche: Fleischwirtschaft“ der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) vom 29. April 2020 basiert. Sofern davon ausgegangen wird, dass § 8 Abs. 1 ArbSchG auch eine Koordinierung der Klägerin mit den anderen Werkvertragspartnern und Dienstleistern der Firma U. verlangt, die auf dem Gelände ebenfalls Arbeitnehmer eingesetzt haben, ist dies jedenfalls mittelbar über die Abstimmung mit der Firma U. erfolgt.
101Nach der Vernehmung des Arbeitnehmers N. geht die Kammer jedoch davon aus, dass nicht alle Schutzmaßnahmen konsequent um- bzw. durchgesetzt wurden. So wurden insbesondere das Abstandsgebot bzw. Schutzalternativen wie das Anbringen von Abtrennungen oder das Tragen einer FFP2-Maske nicht eingehalten (vgl. Nr. 1 SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandards i.V.m. der Ergänzung der Gefährdungsbeurteilung für die Fleischwirtschaftsbranche sowie die Vorgaben zur Verhaltensweise in den Produktionsbereichen des Hygienekonzepts zur Corona-Risiko-Minimierung). Der Zeuge hat dazu erklärt, dass er vor dem hier maßgeblichen Ausbruchsgeschehen im Juni 2020 am Band „Lachse“ im Bereich „Zerlegung von Schweinen“ nur einen Abstand von etwa 1 Meter zum nächsten Kollegen eingehalten habe, nach der Absonderung seien diese Abstände deutlich vergrößert und die Anzahl der Mitarbeiter am Band reduziert worden. Aus der von F3. /H. erstellten „Hygienisch-medizinischen Risikoeinschätzung und Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle von COVID-19-Infektionen bei der Firma U. in Rheda-Wiedenbrück zur Unterstützung der Abteilung Gesundheit des Kreises Gütersloh“ vom 27. Juli 2020 ergibt sich zudem, dass keine Barrieren zwischen den Mitarbeitern der Schweinezerlegung zur Verhinderung einer direkten Tröpfcheninfektion etabliert waren und das Tragen von FFP2-Masken mit der dort verrichteten schweren körperlichen Arbeit nicht vereinbar war.
102(b.) Darüber hinaus fehlt es an konkreten Anhaltspunkten dafür, dass von der Klägerin weitere Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften verletzt worden sind.
103Dies gilt insbesondere für Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Kantinennutzung. Belegt werden solche jedenfalls nicht durch ein im Juni 2020 bei YouTube eingestelltes Video (https://www.youtube.com/watch?v=HQagACah_V0), das eine vollbesetzte Kantine auf dem Betriebsgelände der Firma U. zeigen soll. Das Video hat aus Sicht der Kammer keinerlei Beweiswert. Es ist schon gar nicht klar, wann diese Aufnahme erstellt worden ist. Zudem lässt sich nicht feststellen, ob Mitarbeiter der Klägerin zu sehen sind oder diese die Kantine in dem hier relevanten Zeitraum unter Verstoß gegen das Abstandsgebot genutzt haben. Auch die Aussage des Zeugen N. , der in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, die Aufenthaltsräume während der Pausen gemeinsam mit Beschäftigten anderer Unternehmen genutzt zu haben, indiziert keinen Verstoß gegen die Corona(arbeits-)schutzmaßnahmen. Vorgesehen war ausweislich des Hygienekonzepts vom 12. Mai 2020 (und bereits zuvor) nämlich eine Trennung der Abteilungen bzw. Unterabteilungen in der Kantine und im Übrigen während der Pausen außerhalb der Kantine die Einhaltung von Sicherheitsabständen bzw. im Falle des fehlenden Sicherheitsabstands das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung.
104Anhaltspunkte für Pflichtverstöße im Zusammenhang mit der Unterbringung des Arbeitnehmers N. oder der weiteren Mitarbeiter der Klägerin liegen der Kammer nicht vor. Solche Verstöße hat das beklagte Land auch weder im Bescheid vom 20. Januar 2021 behauptet, denn dort wird nur ausgeführt, dass die Klägerin „beim Einsatz“ ihres Arbeitnehmers „Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften, insbesondere Hygienevorgaben“ verletzt habe, noch hat sie solche Vorwürfe im Klageverfahren erhoben, da sie auch in diesem Rahmen nur auf Verstöße im betrieblichen Umfeld verweist. Dass es im Juni 2020 entsprechende Ermittlungen der Aufsichtsbehörden bei von der Klägerin z.B. vermieteten Wohnungen oder betriebenen Sammelunterkünften gegeben hat,
105vgl. zu entsprechenden Ermittlungen in Coesfeld und Rheda-Wiedenbrück z.B.: Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Ausschussprotokoll APr 17/1065 vom 25. Juni 2020, S. 6 f.,
106auf deren Ergebnisse nunmehr zurückgegriffen werden könnte, ist weder bekannt noch vom beklagten Land, dem die staatliche Arbeitsschutzverwaltung obliegt, vorgetragen worden. Die Kammer hat - ungeachtet dessen - aber auch keine Anhaltspunkte für zurechenbare Pflichtverletzungen der Klägerin, insbesondere mit Blick auf die in § 618 Abs. 2 BGB, § 36 IfSG oder § 576 BGB geregelten Vorgaben. Eine Verantwortlichkeit der Klägerin für die Wohnverhältnisse des Herrn N1. scheidet schon deshalb aus, weil er sich nach seinen glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung die Wohnung unter der Adresse T.--------straße in Rheda-Wiedenbrück selbst im Internet gesucht hat. Die Klägerin hat ihm nicht bei der Wohnungssuche geholfen. Sie ist nach eigenen Angaben auch nicht Vermieterin der Wohnung gewesen. Soweit die Klägerin nach ihren Bekundungen an (andere) Mitarbeiter Wohnungen vermittelt oder diesen Personen im hier relevanten Zeitraum Wohnungen zur Verfügung gestellt hat, mag sie dafür zwar im Sinne der vorbenannten Normen verantwortlich sein. Hinweise auf mit der (erhöhten) Verbreitung des Coronavirus relevante Pflichtverletzungen ihrerseits liegen aber nicht vor. Die Kammer sieht sich daher nicht veranlasst, weitere Ermittlungen von Amts wegen durchzuführen. In diesem Zusammenhang weist die Kammer - wegen des in der Allgemeinverfügungen des Kreises Gütersloh vom 18. und 20. Juni 2020 enthaltenen Hinweises auf eine Weiterverbreitung des Coronavirus in gemeinsamen Unterkünften der auf dem Betriebsgelände der Firma U. Beschäftigten - vorsorglich darauf hin, dass gemeinsames Wohnen mit Nahkontakten - was im Mai/Juni 2020 bereits bekannt war - zur Verbreitung des Coronavirus führt bzw. geführt hat, und dies auch ohne relevante Verstöße gegen spezielle Coronaschutzmaßnahmen. Zudem erhöht nicht jeder „Hygieneverstoß“ im Wohnumfeld das Verbreitungsrisiko des Virus. Zuletzt lässt der Umstand, dass v.a. in der Presse immer wieder von unzumutbaren Unterbringungsbedingungen ausländischer Arbeitnehmer „in der Fleischwirtschaft“ berichtet wird, weder im Sinne eines Anscheinsweises auf eine derartige Pflichtverletzung der Klägerin (als ein damals in der Fleischverarbeitungsbranche tätiges Unternehmen) schließen noch wird damit ein relevanter Verursachungsbeitrag der etwaigen Pflichtverletzung am erhöhten Infektionsrisiko belegt.
107Auch der Klägerin zurechenbare Verstöße gegen Schutzmaßnahmen im Rahmen der von ihr organisierten Transporte ihrer Mitarbeiter zwischen Wohnung und Betriebsstätte der Firma U. sind weder ersichtlich noch substantiiert vorgetragen worden. Zwar ist davon auszugehen, dass sie derartige Fahrten organisiert und die Fahrzeuge zur Verfügung gestellt hat. Allerdings ist eine Zurechnung etwaiger Verstöße zweifelhaft. Zum einen deshalb, weil ihre Arbeitnehmer für diese „Serviceleistung“ offenbar kein Entgelt entrichtet haben bzw. keinen Abzug vom Arbeitslohn hinnehmen mussten. Zum anderen sind die Fahrer offenbar auch „nur“ Mitarbeiter gewesen, die z.B. „mit am Band“ gearbeitet haben, was eher für den Charakter einer Fahrgemeinschaft spricht. Ungeachtet dieser Zurechnungsproblematik sind auch keine relevanten Pflichtverstöße der Klägerin in diesem Zusammenhang zu erkennen. Nr. 4 SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandards sah insoweit (u.a.) vor, dass auch bei arbeitsbezogenen Kontakten außerhalb der Betriebsstätte „soweit wie möglich Abstände von mindestens 1,5 m einzuhalten“ waren. Es sollten bei den Fahrten „kleine, feste Teams“ gebildet werden, um wechselnde Kontakte zu vermeiden, und die Fahrzeuge regelmäßig gereinigt werden. Zwar ist unter Berücksichtigung der Zeugenaussage des Arbeitnehmers N. davon auszugehen, dass die Mitarbeiter der Klägerin in den von ihr zur Verfügung gestellten Kleinbussen diesen Mindestabstand nicht eingehalten haben. Dies gilt trotz der Einschätzung des Zeugen, wonach aus seiner Sicht die Abstände wegen der reduzierten Fahrgastzahl ausreichend gewesen seien. Jedenfalls aber hat der Zeuge glaubhaft bekundet, dass er in den von der Klägerin organisierten Transporten - wie angeordnet - eine Maske getragen habe. Hierbei handelt es sich um eine im Mai/Juni 2020 übliche Alternativmaßnahme.
108(2.) Die danach festgestellten Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften führen nicht zu einer alleinigen oder weit überwiegenden Verantwortlichkeit der Klägerin, weder für das Ausbruchsgeschehen am Betriebsstandort der Firma U. , noch für den individuellen Ansteckungsverdacht des Arbeitnehmers N. . Das Ausbruchsgeschehen bei der Firma U. wurde maßgeblich durch Umstände beeinflusst (a.), auf die die Klägerin selbst keinen Einfluss hatte bzw. haben konnte (b.). Weitere mögliche Ursachenbeiträge führen zu keinem anderen Ergebnis ((c.) bis (g.)).
109(a.) Nach den gegenwärtigen Erkenntnissen gab es auf dem Betriebsgelände der Firma U. ein erstes (kleineres) Ausbruchsgeschehen ab dem 19. Mai 2020 in der Zerlegung. Die daraufhin angestellten Untersuchungen, an denen die Firma U. jedenfalls durch die Ermöglichung von Betriebsbegehungen und durch zur Verfügung gestellte Unterlagen beteiligt war, weisen darauf hin, dass die Umgebungsbedingungen in der Anlage, einschließlich niedriger Temperatur, geringer Luftaustauschraten und ständiger Umwälzung der Luft, zusammen mit relativ geringen Abständen zwischen den Arbeitern und der anstrengenden körperlichen Arbeit eine ungünstige Mischung aus Faktoren darstellt, die eine effiziente Aerosolübertragung von SARS-CoV-2-Partikeln begünstigen. Dagegen spielen die Unterbringung der Mitarbeiter in Gemeinschaftsunterkünften sowie Fahrgemeinschaften keine (große) Rolle während der ersten Phase des Ausbruchs. Es ist nach den Ergebnissen der Untersuchungen sehr wahrscheinlich, dass die erwähnten ungünstigen Faktoren für die seit Beginn der Coronapandemie eingetretenen Ausbrüche auch in anderen Fleischverarbeitungsbetrieben verantwortlich sind. Die Analysen deuten ferner darauf hin, dass es durch eine potenziell kontinuierliche Übertragung unter den Mitarbeitern zum zweiten - hier relevanten - großen Ausbruch im Juni 2020 gekommen ist. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch von den Mitarbeitern gemeinsam genutzte Wohnräume sowie Fahrgemeinschaften zur Arbeitsstelle zur Virusverbreitung beigetragen haben.
110Vgl. dazu: F3. /C. , u.a. „SARS-CoV-2 outbreak investigation in a German meat processing plant“, Preprint vom 23. Juli 2020, abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3654517, und Update vom 6. Oktober 2020 (peer reviewed), abrufbar unter: https://www.embopress.org/doi/full/10.15252/emmm.202013296; vgl. auch: F3. u.a., Hygienisch-medizinische Risikoeinschätzung und Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle von COVID-19-Infektionen bei der Firma U. in Rheda-Wiedenbrück zur Unterstützung der Abteilung Gesundheit des Kreises Gütersloh, 28. Juli 2020.
111Nach diesen Feststellungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die oben festgestellten Verstöße der Klägerin eine überwiegende Verantwortlichkeit i.S.v. § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB (mindestens 90 %) begründen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Lüftungsbedingungen in der Betriebsstätte einen maßgeblichen Anteil an der weitreichenden Verbreitung des Virus unter den auf dem Betriebsgelände tätigen Personen hatten, der jedenfalls über 10 % lag.
112(b.) Hinsichtlich dieser offenbar branchenüblichen Produktionsbedingungen in der Fleisch- und Fischverarbeitung,
113vgl. dazu: „Discussion“ bei F3. /C. , u.a. „SARS-CoV-2 outbreak investigation in a German meat processing plant“, Preprint vom 23. Juli 2020, abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3654517, und Update vom 6. Oktober 2020 (peer reviewed), abrufbar unter: https://www.embopress.org/doi/full/10.15252/emmm.202013296,
114trifft die Klägerin kein Verschulden, insbesondere nicht über eine Zurechnung nach § 278 BGB. Zwar dürfte die Firma U. bezüglich der insoweit bestehenden Arbeitsschutzpflicht ihr Erfüllungsgehilfe gewesen sein, ein Verschulden kann jedoch nicht festgestellt werden.
115Bezüglich der im Rahmen des On-Site Werkvertrages überlassenen Räumlichkeiten (Betriebsstätte) und Betriebsmittel dürfte die Firma U. als Bestellerin insbesondere mit Blick auf die für die Klägerin bestehenden Pflichten zum Gesundheitsschutz ihrer Beschäftigten bei der Arbeit (vgl. § 1 Abs. 1 ArbSchG) als Erfüllungsgehilfe i.S.d. § 278 BGB tätig geworden sein.
116Nach § 278 Satz 1 BGB hat der Schuldner u.a. ein Verschulden der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient, in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes Verschulden. Ein solcher Erfüllungsgehilfe ist, wer nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Falles mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als dessen Hilfsperson tätig wird.
117Vgl. BGH, Urteil vom 3. Mai 2011 - XI ZR 373/08 -, juris Rn. 24, m.w.N.
118Entscheidend ist dabei der Wille der Klägerin als Schuldnerin der arbeitsschutzrechtlichen Pflichten gegenüber ihren Arbeitnehmern. Nicht erforderlich ist, dass der Schuldner eine entsprechende Willenserklärung gegenüber dem Gläubiger oder der Hilfsperson abgibt. Es genügt, dass er den Willen, die Hilfsperson an der Erfüllung seiner Verbindlichkeit mitwirken zu lassen, tatsächlich hat. Entscheidend ist auch nicht, dass der Gehilfe weiß, dass eine Verbindlichkeit des Geschäftsherrn bestand oder dass er durch sein Handeln eine Verbindlichkeit des Geschäftsherrn erfüllte.
119Vgl. Caspers, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 278 Rn. 18 ff., m.w.N.
120Von einem derartigen Willen dürfte hier auszugehen sein. Die Klägerin und die Firma U. haben in ihrem Werkvertrag vereinbart, dass die Bestellerin die Räume und wesentliche Teile der Betriebsmittel zur Verfügung stellt (§ 2 Nr. 1 Werkvertrag). Dabei gingen die Vertragsparteien selbstverständlich davon aus, dass die Klägerin sich zur Erfüllung der werkvertraglichen Verpflichtung eigener Arbeitnehmer bedienen wird (vgl. nur § 1 Nr. 2 und 3, § 2 Nr. 6 bis 10 Werkvertrag), die auch Kantine, Pausenräume oder Sanitäranlagen der Bestellerin genutzt haben.
121Vgl. dazu auch: F1. u.a., Hygienisch-medizinische Risikoeinschätzung und Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle von COVID-19-Infektionen bei der Firma U. in Rheda-Wiedenbrück zur Unterstützung der Abteilung Gesundheit des Kreises Gütersloh, 28. Juli 2020, S. 17.
122Zwar unterlagen die Arbeitnehmer der Klägerin - wie im Werkvertrag üblich - grundsätzlich nicht den Weisungen der Bestellerin (§ 1 Nr. 3 Werkvertrag), eine Einschränkung wurde aber bezüglich der hier relevanten Weisungen des Hygienebeauftragen der Firma U. vereinbart (§ 2 Nr. 5 Werkvertrag), was aufgrund der Nutzung der Betriebsräume (u.a.) auch erforderlich erscheint. Gleichzeitig verpflichtete sich die Klägerin gegenüber der Firma U. , die deutschen Arbeitsschutzvorschriften einzuhalten (vgl. z.B. § 2 Nr. 6 Werkvertrag). Unter diesen Umständen dürfte die Klägerin jedenfalls den Willen gehabt haben, sich der Firma U. und ihrer Erfüllungsgehilfen hinsichtlich des Gesundheitsschutzes zu Gunsten ihrer Arbeitnehmer bezüglich der ihr überlassenen Räumlichkeiten und Arbeitsmittel zu bedienen.
123Vgl. BGH, Urteil vom 6. April 1995 - VII ZR 36/94 -, juris Rn. 12; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 618 Rn. 100; Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 618 Rn. 95 m.w.N.; a.A. Wiebauer, Arbeitsschutz im Fremdbetrieb, in: ZfA 2014, 29 (54 ff.).
124Ein relevanter Verschuldensvorwurf hinsichtlich der Lüftungsbedingungen in der Betriebsstätte trifft die Klägerin und ihre Bestellerin aber nicht.
125Dass die Belüftungssituation eine - wesentliche - Ursache der erheblichen „Infektionsgeneigtheit“ der betrieblichen Umgebung war, war nach den zum Zeitpunkt des Ausbruchsgeschehens vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Firma U. - und damit erst Recht für die Klägerin - jedenfalls nicht in der Weise vorhersehbar, die eine angemessene Reaktion ermöglicht hätte. Bereits ein Fahrlässigkeitsvorwurf scheidet deshalb aus.
126Nach § 4 Abs. Nr. 3 ArbSchG hat der Arbeitgeber bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes den Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Stand der Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene meint dabei den Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, der die praktische Eignung einer Maßnahme zum Gesundheitsschutz gesichert erscheinen lässt.
127Vgl. Kohte, in: Kollmer/Klindt/Schucht, Arbeitsschutzgesetz, 4. Auflage 2021, § 4 Rn. 14 und 16, m.w.N. zur Verallgemeinerung dieser in § 2 Abs. 15 GefStoffV und § 2 Abs. 10 BetrSichV enthaltenen Definition.
128Gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse liegen vor, wenn sie methodisch abgesichert sind und von einer überwiegenden Meinung der beteiligten Fachkreise zugrunde gelegt werden.
129Vgl. Kohte, in: Kollmer/Klindt/Schucht, Arbeitsschutzgesetz, 4. Auflage 2021, § 4 Rn. 19; Roloff, in; Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, ArbSchG, 22. Auflage 2022, § 4 Rn. 3; siehe auch BAG, Beschluss vom 13. August 2019 - 1 ABR 6/18 -, juris Rn. 63.
130Vor diesem Hintergrund ist der Firma U. wegen des dynamischen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns hinsichtlich des Coronavirus SARS-CoV-2, welcher der Kammer aus eigener Spruchpraxis bekannt ist, kein arbeitsschutzrechtlicher Fahrlässigkeitsverstoßes i.S.v. § 278 BGB bezüglich der Belüftungssituation in den hier maßgeblichen Betriebsräumen vorzuwerfen.
131Dass es in der Fleischindustrie zu erheblichen Ausbruchsgeschehen kommen kann, musste der Firma U. spätestens nach dem Ausbruch bei der Großschlachterei X.......... in Coesfeld,
132vgl. dazu z.B.: Lebensmittelpraxis, X.........., Mitarbeiter mit Corona infiziert, 6. Mai 2020, abrufbar unter: https://lebensmittelpraxis.de/industrie-aktuell/27263-westfleisch-mitarbeiter-mit-corona-infiziert-2020-05-06-11-02-24.html,
133und in einem von X. betriebenen Fleisch-Zerlegebetrieb in Dissen jeweils im Mai 2020 bekannt gewesen sein.
134Vgl. dazu z.B.: Rundschau für den Lebensmittelhandel, X. : Weiterer Standort von Corona-Infektionen betroffen, 18. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.rundschau.de/artikel/westfleisch-weiterer-standort-von-corona-infektionen-betroffen.
135Der Ausbruch in Coesfeld hat dann auch zu der vom MAGS veranlassten und - bereits erwähnten - Reihentestung im Betrieb der Firma U. geführt.
136Im Zuge des - nach Abschluss der Reihentestung beginnenden - ersten, kleineren Ausbruchsgeschehens Mitte Mai 2020 bei der Firma U. , welches bereits am 2. Juni 2020 durch Prof. Dr. C1. auf dem Betriebsgelände untersucht wurde, konnte nach dem betrieblichen Hygienekonzept vom 10. Juni 2020 offensichtlich auch die Erkenntnis gewonnen werden, dass die „klimatischen Bedingungen in den Produktionsräumen der Zerlegung eine Übertragung zu begünstigen [scheinen]“. Aus dieser wagen Erkenntnis jedoch unmittelbar konkrete Handlungsgebote ableiten zu wollen, überspannt die dargelegten arbeitsschutzrechtlichen Anforderungen. Denn nicht einmal diese - zumindest mit Unterstützung der Firma U. stattfindende - initiale wissenschaftliche Untersuchung der Infektionsgeneigtheit in der Fleischindustrie war zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen. Die Studienergebnisse wurden erst im Juli 2020 auf dem Preprint-Server veröffentlicht und hatten zu dieser Zeit auch noch kein Peer-Review-Verfahren durchlaufen, waren also noch nicht von anderen unabhängigen Wissenschaftlern geprüft worden. Von der Firma U. konnte bei der Erfüllung der arbeitsschutzrechtlichen Pflichten nicht verlangt werden, den insoweit maßgeblichen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn vorherzusehen und im Vorgriff auf etwaige Ergebnisse konkrete Handlungen vorzunehmen.
137Vgl. dazu auch: MAGS NRW, Protokoll des Behördentreffens zwischen MAGS NRW, Bezirksregierung Detmold, Kreis Gütersloh und Stadt Rheda-Wiedenbrück mit Vertretern der Unternehmensgruppe U. am 26. April 2021 zum Thema Antrag auf Aufhebung von Ordnungsverfügungen seitens der Unternehmensgruppe U. , in dem festgehalten worden ist: „Mit Blick auf die rechtliche Einordnung stellt Herr M....... fest, dass die Unternehmensgruppe U. deutliche Ausstrahlung in die Bevölkerung habe, Struktur und Situation gingen deutlich über den Schutz der Arbeitnehmer hinaus. Hier sei die Zielrichtung der Maßnahmen auch der Bevölkerungsschutz. Seinerzeit waren beim Ausbruch im Unternehmen zwei Kreise unter Quarantäne gestellt worden. Inzwischen sei wohl anzunehmen, dass dem Unternehmen U. kein schuldhafter Vorwurf zu machen sei, sondern vordringlich die unbekannte Aerosolproblematik zum Ausbruch führte.“; vgl. zudem: Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Ausschussprotokoll Apr 17/1065 vom 25. Juni 2020: „StS Dr. F2. I. (MAGS): [...] Es ist dann sofort die Zusammenarbeit mit Professor F1. in Bonn und mit Fachleuten vom RKI gesucht worden, die sich bei der Ursachensuche vor allem mit der Frage der Belüftung befasst haben. Die Spekulation oder das, was man vorab in Erwägung gezogen hat und nun auch definitiv überprüfen will, ist, ob die Aerosolbelastung - also nicht die Tröpfchenbelastung, für die ja die 1,5-m-Abstandsregelung und der Mundschutz gelten, sondern die Schwebstoffe in der Luft - neben der Tröpfchenbelastung eine wesentliche Rolle bei einem solchen Infektionsgeschehen spielen kann. Dazu sind Fragen zu beantworten, die wissenschaftlich noch nicht definitiv beantwortet sind, beispielsweise wie lange die Viren als Aerosole in diesem Schwebezustand verbleiben können, wie die Luftverteilung in dem Zerlegebetrieb aussieht. Die Leute arbeiten dort bei einer Temperatur von 8 bis 10 Grad. Die Luft wird in einem Umluftsystem auf diese 8 bis 10 Grad gekühlt. Durch diese Kühlung - wer einmal in einem Zerlegebetrieb war, der weiß, dass die Schlangen oben unter der Decke hängen - wird die Luft zugleich breit verteilt.“
138Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass unmittelbar vor dem bzw. im Zuge des ersten Ausbruchsgeschehens zweimal die Einhaltung der SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandards des BMAS auf dem Betriebsgelände von der zuständigen Bezirksregierung Detmold kontrolliert wurde. Bei der ersten Überprüfung aller Abteilungen und Bereiche des Schlachthofes am 15. Mai 2020,
139vgl. Anhörungsschreiben der Bezirksregierung Detmold vom 18. Mai 2020 zur Arbeitsschutz - Besichtigung am 15. Mai 2020: „Bei der Begehung wurden alle Abteilungen und Bereiche des Schlachthofes besichtigt, inklusive der von der U. GmbH und U. M. GmbH & Co. KG genutzten Räumlichkeiten.“
140wurden Mängel hinsichtlich der Umsetzung des - im Einklang mit den Arbeitsschutzstandards - stehenden Hygienekonzepts,
141vgl. Anhörungsschreiben der Bezirksregierung Detmold vom 18. Mai 2020 zur Arbeitsschutz - Besichtigung am 15. Mai 2020: „Die BMAS SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandards sind der Firma bekannt und werden berücksichtigt. […] Grundlage für all diese Maßnahmen ist das von der Firma U. erstellte „Hygienekonzept zur Corona-Risiko-Minimierung“ (siehe Anhang). In diesem Konzept, das sich im absoluten Einklang mit den Arbeitsschutzstandards des BMAS befindet, werden alle Maßnahmen zusammengefasst, die zum Coronaschutz in der Firma umgesetzt werden sollen. […]“.
142festgestellt, insbesondere hinsichtlich des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung und mangelnden Abstands in der Kantine.
143Vgl. Aktenvermerk der Bezirksregierung Detmold vom 16. Mai 2020 und Anhörungsschreiben der Bezirksregierung Detmold vom 18. Mai 2020 zur Arbeitsschutz - Besichtigung am 15. Mai 2020.
144Ein Verstoß bezüglich der Belüftungssituation wurde nicht festgestellt, zumal auch Nr. 3 SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandards zu diesem Zeitpunkt davon ausging, dass das Übertragungsrisiko über raumlufttechnische Anlagen insgesamt als gering einzustufen sei. Ebenso sieht die „Ergänzung der Gefährdungsbeurteilung im Sinne des SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandards, Branche: Fleischwirtschaft“ der BNG vom 29. April 2020 insoweit nur eine Wartung und Reinigung der Lüftungsanlagen bzw. raumlufttechnischen Anlagen durch eine Fachfirma in den erforderlichen Intervallen vor.
145Nach fristgerechter unternehmensseitiger Erläuterung der im Rahmen der Begehung am 15. Mai 2020 erörterten Aspekte kam es am 29. Mai 2020 zu einer erneuten unangekündigten behördlichen Kontrolle der Betriebsbereiche, in denen nach Auffassung der Bezirksregierung Detmold zuvor zum Teil gravierende Mängel in Bezug auf die SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandards festgestellt worden waren. Zusammenfassend kam die Bezirksregierung zu dem Ergebnis, dass die vormals aufgezeigten Mängel beseitigt oder zumindest soweit beseitigt wurden, dass die SARS-CoV2 Arbeitsschutzstandards eingehalten sind. Da auch weitere Verbesserungen hinsichtlich der Kantine bereits in Planung waren, wurde vom Erlass weiterer arbeitsschutzrechtlicher Maßnahmen seitens der Bezirksregierung abgesehen.
146Vgl. Aktenvermerk der Bezirksregierung Detmold vom 29. Mai 2020.
147Wurde die Belüftungssituation danach schon von der zuständigen Aufsichtsbehörde nicht als arbeitsschutzrechtlich problematisch angesehen, konnte dies erst Recht nicht von der Firma U. erwartet werden. Gleichwohl hatte die Firma U. dem Kreis Gütersloh noch am 16. Juni 2020 mitgeteilt, auch in dieser Hinsicht - im Hinblick auf den noch nicht definitiven wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn - weitere Maßnahmen (u.a. Einbau einer UVC-Luftentkeimung, Erhöhung des Luftaustausch, mobile Belüftungssysteme zur Erhöhung der Frischluftzufuhr) ergriffen zu haben.
148(c.) Eine überwiegende Verantwortlichkeit der Klägerin ist auch nicht durch andere, ihr ggf. zurechenbare Verstöße der Firma U. gegeben. Zwar mag man nach den Feststellungen der Bezirksregierung Detmold bei der Betriebsbegehung am 15. Mai 2020 davon ausgehen, dass das Hygienekonzept insbesondere hinsichtlich der Abstands- und Maskenpflicht nicht vollständig durchgesetzt wurde. Diese Verstöße führen jedoch - ebenso wie der arbeitsschutzrechtliche Verstoß der Klägerin selbst - nicht dazu, die mitursächliche Belüftungssituation in der für § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB erforderlichen Weise zu negieren. Dies gilt auch dann, wenn die Verstöße der Firma U. und die der Klägerin gemeinsam betrachtet werden.
149Soweit das beklagte Land meint, zu dem Ausbruchsgeschehen im Juni 2020 konnte es nur wegen der am 15. Mai 2020 festgestellten Verstöße kommen, ist dem entgegenzuhalten, dass unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse ein fehlerhaftes Coronamanagement auf dem Betriebsgelände der Firma U. nicht erkennbar ist. Die vom MAGS im Mai 2020 veranlasste Reihentestung hat lediglich „vereinzelt“ positive Befunde hervorgebracht. Etwaige Verstöße gegen coronavirusbezogene Arbeitsschutzvorschriften haben offenbar keine Konsequenzen gehabt. Der Positivfall, der letztlich als Initiator des ersten Ausbruchsgeschehens im Mai 2020 gilt, wurde entsprechend der damaligen Vorgaben des Robert-Koch-Instituts zunächst als Kontaktperson mit geringem Infektionsrisiko eingestuft und nach positiver Testung am 20. Mai 2020 im häuslichen Umfeld separiert. Entsprechendes gilt für den zweiten in diesem Zusammenhang entdeckten Positivfall. Nachdem eine daran anschließende Reihentestung der Kollegen der Frühschicht in der Rinderzerlegung am 25. Mai 2020 im Folgenden weitere positive Befunde hervorgebracht hatte, haben auch diese sich am 27. Mai 2020 in häusliche Absonderung begeben. Probleme, diese Mitarbeiter wegen fehlender Adressen ausfindig zu machen, hat es (jedenfalls zu diesem Zeitpunkt) nicht gegeben. Durch weitere Testungen des Gesundheitsamts wurden Infektionen in verschiedenen Bereichen des Werks identifiziert und letztlich ein Ausbruch in der Schweinezerlegung am 9. Juni 2020 festgestellt. Die Studienergebnisse deuten letztlich auf ein anhaltendes, sich weiterverbreitendes Ausbruchsgeschehen mit einem Übergang vom ersten Ausbruch im Mai zum zweiten größeren Ausbruch im Juni 2020. Gemeinsames Wohnen und Fahrgemeinschaften der Beschäftigten sind dabei auch Faktoren für die Weiterverbreitung gewesen.
150Vgl. F1. /C. , u.a. „SARS-CoV-2 outbreak investigation in a German meat processing plant“, Preprint vom 23. Juli 2020, abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3654517, und Update vom 6. Oktober 2020 (peer reviewed), abrufbar unter: https://www.embopress.org/doi/full/10.15252/emmm.202013296; vgl. auch: F1. u.a., Hygienisch-medizinische Risikoeinschätzung und Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle von COVID-19-Infektionen bei der Firma U. in Rheda-Wiedenbrück zur Unterstützung der Abteilung Gesundheit des Kreises Gütersloh, 28. Juli 2020; Robert Koch Institut, Kontaktpersonennachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Coronavirus, Stand: 16. April 2020; Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Ausschussprotokoll APr 17/1065 vom 25. Juni 2020, S. 12 f.
151Dass die festgestellten Verstöße, insbesondere gegen die Abstands- und Maskenpflicht, aber die entscheidende Ursache für den hier maßgeblichen Ausbruch waren, kann nicht festgestellt werden. Entsprechende Belege oder Indizien (an die eine weitere gerichtliche Aufklärung anknüpfen könnte) wurden auch nicht vom beklagten Land geliefert, das mit Hilfe der Bezirksregierung die Arbeitsschutzverwaltung durchführt und damit über die notwendigen Informationen verfügen müsste.
152Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass etwaige Verstöße gegen Coronaschutz- und Hygienemaßnahmen der Firma U. oder der U. Unternehmensgruppe mit Blick auf die etwaige Unterbringung oder den Transport ihrer Mitarbeiter der Klägerin schon nicht zurechenbar sind.
153(d.) Zu einem anderen Ergebnis gelangt die Kammer auch dann nicht, wenn etwaige Arbeitsschutzverstöße anderer auf dem Betriebsgelände der Firma U. tätigen Subunternehmern in die Würdigung des Verschuldensbeitrags einbezogen würden. Diese Unternehmen sind keine Erfüllungsgehilfen der Klägerin bezüglich der ihr obliegenden arbeitsschutzrechtlichen Pflichten. Für deren etwaiges Fehlverhalten hat sie nicht einzustehen. Für die Annahme, die Klägerin habe den insoweit erforderlichen Willen gehabt, diese Unternehmen bei der Erfüllung des Arbeitsschutzes bezüglich der eigenen Mitarbeiter einzubeziehen, fehlt es mangels vertraglicher oder anderer rechtlicher Verknüpfungen an jedweden Anhaltspunkten. Ohne solche wird man der Klägerin einen entsprechenden Willen auch nicht unterstellen können, da ihr keinerlei Einflussmöglichkeiten zur Auswahl der weiteren mit der Firma U. verbundenen Subunternehmen auf dem Betriebsgelände zustehen und sie im Zweifel auch keine Kenntnis über diese Unternehmen hat.
154Unabhängig von der Frage, ob andere Subunternehmen als Erfüllungsgehilfen der Firma U. wiederrum die arbeitsschutzrechtlichen Pflichten der Klägerin miterfüllen und dieser etwaige Verstöße zuzurechnen sein könnten, kommt es auch dann nicht zu einer überwiegenden Verantwortlichkeit i.S.v. § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB. Als Erfüllungsgehilfen des Erfüllungsgehilfen kommen diese Unternehmen von vornherein nur in Betracht, soweit ihr Verhalten in den Betriebsräumen der Firma U. in Rede steht. Denn nur diesbezüglich besteht nach den obigen Ausführungen der Wille der Klägerin, die Firma U. in ihre arbeitsschutzrechtliche Verantwortung miteinzubeziehen. Soweit die anderen Subunternehmer bei sonstigen Gelegenheiten - etwa im Rahmen der Unterbringung oder des Transports ihrer Arbeitnehmer - Arbeitsschutzpflichten verletzt haben, berühren diese Verstöße das von der Klägerin begehrte schützende Verhalten durch die Firma U. auf deren Betriebsgelände nicht. Allein die Betriebsstätte betrachtet ist jedoch - wie oben bereits dargelegt - der Verursachungsbeitrag durch die Belüftungssituation derart gewichtig, dass selbst bei Zurechnung etwaiger dort begangener Verstöße der anderen Werkvertragsunternehmen keine überwiegende Verantwortlichkeit i.S.v. § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB gegeben wäre.
155Dass aufgrund der aufgezeigten Zersplitterung der arbeitsschutzrechtlichen Verantwortlichkeiten bei den sogenannten On-Site-Werkverträgen allenfalls über die Einschränkungen des § 278 BGB eine Verantwortlichkeit der Werkunternehmer untereinander zu begründen ist, mag im Hinblick auf die Durchsetzung der Arbeitnehmer(schutz)rechte zu missbilligen sein. Dies rechtfertigt jedoch kein anderes Ergebnis, da nicht zu erkennen ist, dass die Klägerin oder die Firma U. zum Zeitpunkt des Ausbruchsgeschehens bei der Gestaltung der Arbeitsabläufe mit solchen Werkverträgen den Rahmen der Rechtsordnung verlassen hätte. Denn der politische Wille zu Einschränkungen des Einsatzes von Fremdpersonal in der Fleischwirtschaft wurde mit § 6a des Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch) erst mit Wirkung zum 1. Januar 2021 gefunden, obwohl die Auswirkungen derartiger Verträge bereits lange zuvor bekannt gewesen sind.
156Vgl. Zimmer, in: Das Verbot des Fremdpersonaleinsatzes in der Fleisch-wirtschaft und dessen Anwendungsbereich, NZA 2022, 4, u.a. mit Bezug-nahme auf MAGS NRW, Überwachungsaktion, „Faire Arbeit in der Fleischindustrie“, Abschlussbericht, Dezember 2019, abrufbar unter: https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/191220_abschlussbericht_fleischindustrie_druckdatei.pdf.
157(e.) Anders als das beklagte Land meint, bietet auch die Größe des Infektionsgeschehens als solches keine hinreichend belastenden Anhaltspunkte für die Annahme eines weit überwiegenden Pflichtenverstoßes der Klägerin. Die Ausführungen zu den Lüftungsbedingungen in der Betriebsstätte belegen, dass ein nach damaligen Erkenntnissen aufgestelltes Hygienekonzept nicht ausreichend war, um die Verbreitung des Coronavirus unter den Mitarbeitern zu verhindern. Im Übrigen gab es weltweit Ausbrüche dieser Art, die jedenfalls mit Blick auf die ermittelte Rate von Positivfällen mit dem hier streitgegenständlichen Geschehen vergleichbar waren.
158(f.) Steht danach fest, dass die Unmöglichkeit jedenfalls zu einem nicht unerheblichen Teil nicht durch die Klägerin oder ihr zurechenbare Personen, sondern durch zufällige Umstände verursacht wurde, verbleibt es nach § 326 BGB hinsichtlich der Primärleistungspflicht bei dem synallagmatischen Grundsatz - ohne Leistung keine Gegenleistung (§ 326 Abs. 1 BGB).
159Vgl. OLG München, Urteil vom 7. August 2015 - 25 U 546/15 -, juris Rn. 35 ff.; Schwarze, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2020, § 326 Rn. C6
160(g.) Ohne dass es nach den obigen Ausführungen für den Ausgang des Verfahrens darauf ankäme, sei darauf hingewiesen, dass im Übrigen völlig unklar ist, ob und in welchem Ausmaß etwaige eigene bzw. der Klägerin zurechenbare Arbeitsschutzverstöße kausal für den Ansteckungsverdacht des Arbeitnehmers bzw. das stattgefundene Infektionsgeschehen gewesen sind.
161Vgl. zu diesem Erfordernis im Rahmen des § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB vgl. Schwarze, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2020, § 326 Rn. C6 und C16.
162bb. Ein Lohnfortzahlungsanspruch des Herrn N. gegen die Klägerin besteht auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Annahmeverzugs (§§ 293 ff. BGB) der Klägerin gemäß § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 BGB, § 615 Satz 1 BGB oder § 615 Satz 3 BGB.
163Nach § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 BGB behält der Arbeitnehmer den Anspruch auf Lohnfortzahlung, wenn der von ihm nicht zu vertretene Umstand, auf Grund dessen er nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht zu leisten braucht, zu einer Zeit eintritt, zu welcher der Arbeitgeber im Verzug der Annahme ist.
164Speziell für Arbeitsverträge (u.a.) regelt § 615 Satz 1 BGB, dass der Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber mit der Annahme der Dienste in Verzug kommt, für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die vereinbarte Vergütung verlangen kann, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein.
165Satz 3 des § 615 BGB bestimmt zudem, dass u.a. Satz 1 entsprechend in den Fällen gilt, in denen der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls trägt.
166Alle drei Vorschriften sind im vorliegenden Fall im Grundsatz anwendbar, da sie zwischen der Klägerin und Herrn N. nicht abbedungen wurden.
167Ungeachtet der Frage, nach welchen Kriterien § 326 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 BGB, § 615 Satz 1 BGB und § 615 Satz 3 BGB im Einzelnen voneinander abzugrenzen sind,
168vgl. dazu z.B. BAG, Urteil vom 13. Oktober 2021 - 5 AZR 211/21 -, juris Rn. 14 ff.; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 615 Rn. 8, m.w.N.; Fischinger/Straub, Ohne Arbeit kein Lohn?, in: JuS 2016, 208 (209),
169verlangen alle drei Vorschriften grundsätzlich einen Annahmeverzug des Arbeitgebers.
170Ein solcher erfordert jedenfalls, dass der Arbeitnehmer während des gesamten Verzugszeitraums leistungsbereit, d.h. leistungsfähig und leistungswillig, ist (§ 297 BGB). Der Annahmeverzug des Arbeitgebers endet für die Zukunft (ex-nunc), wenn eine dieser Voraussetzungen fortfällt. Unerheblich ist dabei die Ursache für die Leistungsunfähigkeit des Arbeitnehmers. Das Unvermögen kann auf tatsächlichen Umständen (wie z.B. Arbeitsunfähigkeit) beruhen oder seine Ursache im Rechtlichen haben, etwa wenn ein gesetzliches Beschäftigungsverbot besteht oder eine erforderliche Erlaubnis für das Ausüben der geschuldeten Tätigkeit fehlt.
171Vgl. z.B. BAG, Urteil vom 28. September 2016 - 5 AZR 224/16 -, juris Rn. 23; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 615 Rn. 31; Joussen, in: BeckOK Arbeitsrecht, BGB, 62. Edition, 1. Dezember 2021, § 615 Rn. 7; Krause, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, BGB, 9. Auflage 2020, § 615 Rn. 68.
172Das grundsätzliche Erfordernis des Annahmeverzugs ergibt sich für § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 BGB - als Regelung des allgemeinen Schuldrechts - und für § 615 Satz 1 BGB - als arbeitsrechtliche Norm, die den Lohnfortzahlungszahlung im Falle der Leistungsstörung bei Realisierung des Wirtschaftsrisikos betrifft -,
173vgl. dazu: Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, BGB, 22. Auflage 2022, § 615 Rn. 121 a.E.; Waas/Palonka, in: Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath, Arbeitsrecht, BGB, 4. Auflage 2017, § 615 Rn. 33,
174bereits aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut. Die wohl vorherrschende - arbeitsrechtliche - Auffassung nimmt dieses Erfordernis ebenfalls bei Anwendung des als Rechtsgrundverweisung ausgestalteten § 615 Satz 3 BGB an. Dem arbeitsfähigen und arbeitswilligen Arbeitnehmer bleibt im Falle der Annahmeunmöglichkeit der Vergütungsanspruch aufrechterhalten, wenn der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls trägt.
175Vgl. z.B.: BAG, Urteil vom 13. Oktober 2021 - 5 AZR 211/21 -, juris Rn. 20; Linck, in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Auflage 2021, § 101 Rn. 6; Tillmanns, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 5. Auflage 2021, § 76 Rn. 82; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 615 Rn. 97; Krause, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, BGB, 9. Auflage 2020, § 615 Rn. 121; Weidenkaff, in: Grüneberg, BGB, 81. Auflage 2022, § 615 Rn. 21: Leistungsfähiger und Leistungsbereiter Arbeitnehmer erforderlich; jedenfalls zur Anwendbarkeit von § 297 BGB (Leistungsfähigkeit) bei Betriebsrisikofällen: Gräf/Rögele: Zusammentreffen von Betriebs- und Wegerisiko, in: NZA 2013, 1120, 1123; a.M. dagegen: Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, BGB, 22. Auflage 2022, 615 Rn. 122; Preis/Mazurek/Schmid, Rechtsfragen der Entgeltfortzahlung in der Pandemie, in: NZA 2020, 1137 (1144).
176Nur der leistungsfähige und leistungswillige Arbeitnehmer hat im doppelten Sinne des Wortes das Entgelt „verdient“.
177Vgl. Linck, in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Auflage 2021, § 101 Rn. 12.
178Die Voraussetzungen des Annahmeverzugs liegen nicht vor. Der Arbeitnehmer N. war im hier maßgeblichen Zeitraum vom 18. Juni bis zum 30. Juni 2020 wegen der behördlichen Anordnungen zur häuslichen Absonderung nicht leistungsfähig. Die Arbeit war im Juni 2020 - grundsätzlich - in Rheda-Wiedenbrück auf dem Firmengelände der Firma U. geschuldet (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 Arbeitsvertrag und § 2 Abs. 1 Satz 1 Werkvertrag). Er hatte offenkundig keine Möglichkeit, die geschuldete Tätigkeit als Fleischer in der eigenen Häuslichkeit (Homeoffice) zu erbringen.
179(1.) Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass gegenüber der U. & Co. KG mit mündlicher Verfügung des Kreises Gütersloh vom 17. Juni 2020, schriftlich bestätigt am 10. August 2020, der Betriebsstandort „J. , 33378 Rheda-Wiedenbrück“ der Unternehmensgruppe U. (Betriebsstandort) mit sofortiger Wirkung geschlossen worden ist (Betriebsschließung) und alle nicht ausnahmsweise zugelassenen betrieblichen Tätigkeiten auf dem Betriebsstandort untersagt worden sind. Gegenüber der Klägerin, deren Unternehmenssitz sich unter der Adresse „F.-----weg 5 in 33378 Rheda-Wiedenbrück“ befindet, also nicht am Betriebsstandort der Unternehmensgruppe U. , ist keine Schließungsanordnung ergangen. Die Verfügung des Kreises Gütersloh vom 17. Juni 2020 war auch nicht an sie gerichtet. Dass ihr gegenüber eine entsprechende Anordnung ergangen ist, ist weder ersichtlich noch von den Beteiligten - mit entsprechenden Belegen - geltend gemacht worden.
180Auch der Umstand, dass die Klägerin im Rahmen eines On-Site-Werkvertrags in der Zeit vom 1. Februar 2020 bis zum 31. Juli 2020 verpflichtet war, am Betriebsstandort der Firma U. (vgl. § 2 Nr. 1 Werkvertrag) in einem Auftragsvolumen von 1.451.500 Euro im Leistungsverzeichnis näher aufgelistete Fleischteilstücke und Zerlegenebenprodukte herzustellen, ändert nichts. Aufgabengebiet und Arbeitsort des Arbeitnehmers N. waren ausweislich § 1 Arbeitsvertrag nicht auf eine Tätigkeit als Fleischer am Betriebsstandort der Firma U. unter der Adresse „J. in 33378 Rheda-Wiedenbrück“ beschränkt. Der Tätigkeitsort wurde zwar zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses („derzeit“) auf Rheda-Wiedenbrück begrenzt. Dies schließt aber einen (auch kurzfristigen) Einsatz als Schlachter in einem anderen (auch kleinen) Betrieb (insbesondere Schlachterei) innerhalb der Stadt nicht aus. Überdies - und das dürfte entscheidend sein - konnte die Klägerin den Arbeitnehmer ausweislich der vertraglichen Regelungen auch aus betrieblichen Gründen unter Wahrung der Interessen des Arbeitnehmers an einem anderen Ort einsetzen und diesem aus den vorbenannten Gründen eine andere, gleichwertige Tätigkeit oder ein anderes Arbeitsgebiet übertragen. Dass diese Überlegungen eher theoretisch sind, ist dem Umstand geschuldet, dass ein derartiger Einsatz wegen der häuslichen Absonderung schon nicht in Frage kam.
181(2.) Des Weiteren ist die Klägerin nicht wegen des Grundsatzes von Treu und Glauben gehindert, sich auf die Leistungsunfähigkeit ihres Arbeitnehmers N. zu berufen. Zwar wird vertreten, dass derartiges dem Gläubiger nach § 242 BGB verwehrt sei, wenn er die Leistungsunfähigkeit seines Schuldners herbeigeführt habe.
182Vgl. Grüneberg, in: Grüneberg, BGB, 81. Auflage 2022, § 297 Rn. 2; Ernst, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 297 Rn. 2; Feldmann, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 297 Rn. 2.
183Diese Auffassung ist im Grundsatz aber abzulehnen, weil dadurch ein Wertungswiderspruch zu § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB entsteht, der - wie dargelegt - eine Lohnfortzahlung nur bei alleinigem oder weit überwiegendem Verschulden des Gläubigers vorsieht.
184Vgl. Dötterl, in: BeckOGK, BGB, 15. Juli 2021, § 297 Rn. 7; vgl. auch: LAG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 1976 - 16 (3) Sa 340/75 -, in: DB 77, 547 f.
185Ein solcher Verschuldensbeitrag ist ausweislich der Ausführungen zu § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB gerade nicht gegeben.
186Zudem würde eine Haftung auf Sekundärebene nach Verschuldensbeiträgen, die im Rahmen der Prüfung eines Lohnfortzahlungsanspruchs wegen fehlender Anwendbarkeit des § 254 BGB keine Berücksichtigung finden könnten, unterlaufen.
187Vgl. zur Anwendbarkeit des § 254 BGB: Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 615 Rn. 1.
188Der Klägerin ist es auch nicht wegen der Umstände des Einzelfalls verwehrt,
189vgl. BAG, Urteil vom 16. März 1967 - 2 AZR 64/66 -, juris Rn. 22,
190sich auf die Leistungsunfähigkeit des Herrn N. zu berufen. Ein missbräuchliches Verhalten,
191vgl. dazu z.B.: Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 242 Rn. 199 ff.,
192ist unter Berücksichtigung der Ausführungen zu § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB nicht zu erkennen. Die aufgezeigten Sorgfaltspflichtverletzungen genügen insoweit nicht.
193(3.) Schließlich muss - speziell - § 615 Satz 3 BGB in Ansehung der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm,
194OLG Hamm, Urteil vom 29. Oktober 2021 - 11 U 60/21 -, juris,
195mit Blick auf das Erfordernis einer Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers nicht einschränkend ausgelegt werden. Das Oberlandesgericht Hamm geht in seiner Entscheidung - in der es um den Verdienstanspruch eines Lizenzfußballspielers im Zeitraum seiner coronabedingten Absonderungsverpflichtung wegen Ansteckungsverdachts geht - davon aus, dass sich die dortige Klägerin als Betreiberin der Lizenzspielerabteilung nicht auf das aus der Absonderung folgende Unvermögen zum Erbringen der im Arbeitsvertrag an sich vorgesehenen Arbeitsleistung ihres Spielers berufen könne, da dieses gerade aus ihrer Sphäre stamme, nämlich dem ihren unternehmerischen Interessen dienenden mannschaftsbezogenen Spiel- und Trainingsbetrieb, der die Grundlage für den Ansteckungsverdacht gebildet habe.
196Vgl. OLG Hamm, Urteil vom 29. Oktober 2021 - 11 U 60/21 -, juris Rn. 20; und zur Vorinstanz: LG Münster, Urteil vom 15. April 2021 - 8 O 345/20 -, juris Rn. 2.
197Der Übertragung dieser Rechtsprechung auf den streitgegenständlichen Sachverhalt stehen mehrere Gründe entgehen. Zunächst setzt die Anwendbarkeit des § 615 Satz 3 BGB grundsätzlich voraus, dass sich das Betriebsrisiko der Klägerin realisiert hat; dies ist vorliegend nicht der Fall (a.). Zudem dürfte die Unmöglichkeit der Leistungsverhinderung - als weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - weder vom Arbeitgeber noch vom Arbeitnehmer zu vertreten sein; auch diese Voraussetzung, auf die nicht im Wege der Auslegung verzichtet werden kann, ist nicht erfüllt (b.). Zuletzt mag die vorbenannte Wertung des OLG Hamm anhand der Risikosphären von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zwar einem allgemeinen Billigkeitsgefühl entsprechen. Ihr steht aber entgegen, dass die Betriebsrisikolehre mit Blick auf die andauernde Coronapandemie Gefahr läuft, überstrapaziert zu werden (c.).
198(a.) Voraussetzung des Lohnfortzahlungsanspruchs nach § 615 Satz 3 i.V.m. Satz 1 BGB ist jedenfalls, dass die Arbeit infolge eines Umstandes ausfällt, für den der Arbeitgeber das Risiko (sog. Betriebsrisiko) trägt.
199Vgl. BAG, Urteil vom 9. Juli 2008 - 5 AZR 810/07 -, juris Rn. 13; OLG Hamm, Urteil vom 29. Oktober 2021 - 11 U 60/21 -, juris Rn. 17 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 10. Mai 2021 - 9 K 67/21 -, juris Rn. 69.
200Das Betriebsrisiko betrifft die Frage, ob der Arbeitgeber zur Lohnzahlung verpflichtet ist, wenn er zur Beschäftigung der Belegschaft aus betriebstechnischen Gründen nicht imstande ist. Zum Betriebsrisiko gehören die mit der Entscheidungsbefugnis des Arbeitgebers im Zusammenhang stehenden und die Führung des Betriebs betreffenden Ereignisse. Die Feststellung, in wessen Gefahrenkreis das störende Ereignis fällt, hat in erster Linie nach dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu erfolgen.
201Vgl. z.B. Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, BGB, 22. Auflage 2022, § 615 Rn. 120; Eckart/Kruse, in: BeckOK, Infektionsschutzrecht, IfSG, 10. Edition, 15. Januar 2022, § 56 Rn. 37.3; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 615 Rn. 96; BAG, Urteil vom 30. Mai 1963 - 5 AZR 282/62 -, juris Rn. 8; OLG Hamm, Urteil vom 29 Oktober 2021 - 11 U 60/21 -, juris Rn. 18; VG Karlsruhe, Urteil vom 10. Mai 2021 - 9 K 67/21 -, juris Rn. 57.
202In Abgrenzung zum Betriebsrisiko ist das Wirtschaftsrisiko betroffen, das im Falle der Leistungsstörung nach § 615 Satz 1 BGB in direkter Anwendung zu behandeln wäre, wenn die Arbeitsleistung zwar möglich, für den Arbeitgeber aber nicht verwertbar ist.
203Vgl. Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, BGB, 22. Auflage 2022, § 615 Rn. 120; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 615 Rn. 98.
204Dies vorangestellt ist, anders als das OLG Hamm meint, eine wegen eines Ansteckungsverdachts mit dem Coronavirus ergangene Absonderungsverfügung nicht als betriebsbezogen i.S.d. § 615 Satz 3 BGB zu werten. Dies gilt auch dann nicht, wenn der Ansteckungsverdacht aus dem für das Unternehmen notwendigen Spiel- oder Trainingsbetrieb, Kundenkontakten oder Produktionsbedingungen resultiert.
205Der Betriebsrisikolehre liegen in der überwiegenden Anzahl der Fälle betriebliche Störungen, ein Versagen der Betriebsmittel oder aus der besonderen Art des Betriebs bedingte Verbote zu Grunde. Dies schließt zwar nicht grundsätzlich aus, Einwirkungen aus der betrieblichen Sphäre auf die Arbeitnehmer als personelle Mittel miteinzubeziehen.
206Vgl. Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, BGB, 22. Auflage 2022, § 615 Rn. 131 f., 132i.
207Dies dürfte jedoch eher den Fall betreffen, in denen eine mittelbare Betroffenheit des Personals vorliegt, weil z.B. ein Arbeitnehmer etwa auf die (Mit-)Arbeit eines anderen Kollegen angewiesen ist.
208Anders liegt der Fall aber bei der hier streitgegenständlichen infektionsrechtlichen Absonderungsverfügung, bei der es sich - auch im Falle einer Allgemeinverfügung -,
209vgl. dazu z.B. Hohenstatt/Krois, Lohnrisiko und Entgeltfortzahlung während der Corona-Pandemie, in: NZA 2020, 413 (415).
210um einen in der Person des Arbeitnehmers liegenden Verhinderungsgrund i.S.v. § 616 Satz 1 BGB handelt,
211vgl. dazu im Einzelnen: VG Minden, Urteil vom 26. Januar 2022 - 7a K 877/21 -, NRWE,
212was einer Anwendbarkeit des § 615 Satz 3 BGB entgegensteht.
213Vgl. Bieder, in: BeckOGK, BGB, 1. Februar 2020, § 616 Rn. 16: Zu den für § 616 Satz 1 BGB unerheblichen objektiven Leistungshindernissen gehören deshalb regelmäßig solche Sachverhaltsgestaltungen, in denen entweder der Arbeitgeber nach § 615 Satz 3 das Betriebsrisiko oder umgekehrt sein Vertragspartner nach allgemeinen Grundsätzen das Arbeitskampf- oder Wegerisiko zu tragen hat, und a.a.O. Fn. 59: Deshalb fallen z.B. behördliche Betriebsverbote oder Zerstörungen des Arbeitsplatzes nicht unter § 616 BGB; Oetker, in: Staudinger, Neubearbeitung 2019, BGB, § 616 Rn. 80: Des Weiteren zählen behördliche Betriebsverbote, Landestrauer, Smog-Alarm, Vernichtung des Arbeitsplatzes (Brand etc) und Verkehrshindernisse (Verkehrsstau, Ausfall der Nahverkehrsmittel, Demonstrationen, Flugverbot) zu den allgemeinen (objektiven) Leistungshindernissen; VG Koblenz, Urteil vom 10. Mai 2021 - 3 K 107/21.KO -, juris Rn. 25: Nicht erfasst sind demgegenüber objektive Leistungshindernisse, die betriebsbezogen sind und sich auf einen größeren Kreis von Arbeitnehmern beziehen.
214Dass der Grund des Leistungshindernisses (hier: Ansteckungsverdacht als vom Arbeitnehmer ausgehendes Infektionsrisiko) in der betrieblichen Sphäre begründet wurde (hier: Ausbruchsgeschehen im Betrieb), ändert daran nichts. Die gegenteilige Sichtweise würde zu einer Überschneidung mit dem Anwendungsbereich des § 616 Satz 1 BGB führen, der bei in der Person des Arbeitnehmers liegenden Verhinderungsgründen - anders als § 615 Satz 3 BGB - eine zeitliche Haftungsgrenze (“verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“) des Arbeitgebers vorsieht.
215Des Weiteren würde eine über § 615 Satz 1 i.V.m. Satz 3 BGB angeordnete Lohnfortzahlungspflicht bei einem subjektivem Leistungshindernis in der Person des Arbeitnehmers, welches auf betriebliche Umstände zurückzuführen ist, besondere gesetzgeberische Wertungen umgehen. Namentlich gilt dies für die besonderen Regelungen zu Arbeitsunfällen - insbesondere die Regelungen zur krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nach § 3 EFZG und zum Verletztenentgelt in §§ 45 ff. SGB VII. Erfasst man das subjektive Leistungshindernis der Absonderung bei betriebsbedingten Ursachen als Betriebsrisiko, müsste man dies ohne Weiteres auch für eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit wegen eines Arbeitsunfalls (§ 8 Abs. 1 SGB VII) annehmen. In diesem Fall soll nach den Wertungen des § 3 EFZG der Arbeitgeber für sechs Wochen das Arbeitsentgelt fortzahlen - wenn ansonsten die dortigen Tatbestandsvoraussetzungen, insbesondere die entsprechende Vorbeschäftigungszeit (§ 3 Abs. 3 EFZG) und kein Verschulden des Arbeitnehmers - vorliegen.
216Vgl. Feddern, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, SGB VII, 116. EL September 2021, § 45 Rn. 12.
217Anschließend erfolgt der Ersatz des Verdienstausfalls durch die Zahlung eines Verletztengeldes nach §§ 45 ff. SGB VII.
218Zu dieser Ersatzfunktion des Verletztengeldes vgl.: BSG, Urteil vom 26. Juni 2007 - B 2 U 23/06 R -, juris Rn. 14 ff.
219Zahlungspflichtig ist dabei aber nicht der Arbeitgeber, sondern der Versicherungsträger (§ 114 SGB VII). Der Arbeitgeber soll dabei lediglich über seine Versicherungsbeiträge an der Aufbringung der erforderlichen Mittel beteiligt werden (§§ 150 ff. SGB VII). Dieses differenzierte Haftungsregime würde konterkariert, wenn die auf einem Arbeitsunfall beruhende, krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit als Betriebsrisikos aufgefasst würde, das in der Rechtsfolge grundsätzlich nur eine zeitlich unbefristete Haftung des Arbeitgebers selbst kennt. Kann dieses „Musterbeispiel“ eines sich auf subjektiver Arbeitnehmerseite verwirklichenden Betriebsrisikos daher schon nicht unter § 615 Satz 3 BGB subsumiert werden, muss dies erst Recht für das - abgesehen von Zeiten einer Pandemie wohl eher seltene - subjektive Leistungshindernis der häuslichen Absonderung gelten.
220Dieser Ansicht kann nicht entgegen gehalten werden, dass der Arbeitnehmer mangels entsprechender Ersatzregelungen für andere betrieblich begründete, aber in seiner Person liegende Gründe der Arbeitsunfähigkeit im Hinblick auf seinen Verdienstausfall schutzlos gestellt würde. Unabhängig davon, dass derartige Erwägungen bei der Beantwortung der Frage, ob ein Betriebsrisiko vorliegt, nicht von Bedeutung sind,
221vgl. BAG, Urteil vom 13. Oktober 2021 - 5 AZR 211/21 -, juris Rn. 34,
222sieht die Rechtsordnung in § 616 BGB für solche nicht speziell geregelten subjektiven Leistungshindernisse - ungeachtet des Umstandes, ob diese aus der betrieblichen Sphäre stammen oder nicht - grundsätzlich zumindest einen zeitlich begrenzten Lohnfortzahlungsanspruch vor. Im Hinblick auf das hier maßgebliche subjektive Leistungshindernis der Absonderung hat der Gesetzgeber im Übrigen mit den Entschädigungsregeln der §§ 56 ff. IfSG reagiert. Die gesetzgeberische Entscheidung, den Arbeitgeber - im Gegensatz zur betriebsbedingten Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit - bei betriebsbedingter Absonderung abseits der allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen aus der Haftung für das Arbeitsentgelt vollständig zu entlassen und das Entgeltrisiko über die §§ 56 ff. IfSG letztlich der Allgemeinheit aufzuerlegen, ist dabei zu respektieren.
223Diese Abgrenzung von Betriebsrisiko einerseits und subjektivem Leistungshindernis andererseits steht nicht im Widerspruch zu den Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts,
224BAG, Urteil vom 13. Oktober 2021 - 5 AZR 211/21 -, juris Rn. 33,
225wonach der Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung nach § 615 Satz 3 i.V.m. Satz 1 BGB verpflichtet ist, wenn eine behördliche Maßnahme darauf abzielt, einem im Betrieb des Arbeitgebers angelegten besonderen Risiko zu begegnen, etwa, weil die vom Arbeitgeber gewählten Produktionsmethoden oder -bedingungen oder von ihm zu verantwortende Arbeitsbedingungen (wie z.B. in Teilen der Fleischwirtschaft und bei Saisonkräften in der Landwirtschaft) eine besonders hohe Ansteckungsgefahr innerhalb der Belegschaft in sich bergen.
226Zum einen befasst sich das Gericht gar nicht mit der Frage der behördlichen Absonderung oder gar eines Zusammentreffens von Absonderung und Anordnung einer Betriebsschließung. Zum anderen wurde vorliegend - wie dargelegt - gegen die Klägerin keine Betriebsschließung verfügt. Die an die U. & Co. KG verfügte Schließungsverfügung des Standortes „J. in 33378 Rheda-Wiedenbrück“ betrifft nur das Verwendungs- bzw. Wirtschaftsrisiko der Klägerin, da der Einsatz ihres Arbeitnehmers in einem Fremdbetrieb wegen einer dort angesiedelten Betriebsstörung nicht möglich ist.
227Vgl. auch: BAG, Urteile vom 1. Februar 1973 - 5 AZR 382/72 -, juris Rn 27, und vom 7. November 1975 - 5 AZR 61/75 -, juris Rn. 18 f.; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, BGB, 22. Auflage 2022, § 615 Rn. 134; Krause, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, BGB, 9. Auflage 2020, § 615 Rn. 118; Bieder, in: BeckOGK, BGB, 1. Februar 2020, § 615 Rn. 108.1; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 615 Rn. 108.
228Schließlich sprechen auch praktische Erwägungen - jedenfalls als Hilfsüberlegung - dagegen, die coronabedingte Absonderung dem Betriebsrisiko zuzuordnen. Ein aus arbeitsbezogenen Kontakten resultierender Ansteckungsverdacht entsteht (Fälle mit Kundenkontakt ausgeklammert) dadurch, dass jedenfalls ein Mitarbeiter sich außerhalb des Betriebs angesteckt hat und das Virus ggf. unter den Kollegen weiterverbreitet haben könnte. Für diese Person hat sich das Betriebsrisiko nicht realisiert. Handelt es sich bei diesem Arbeitnehmer um einen Ausscheider (§ 2 Nr. 6 IfSG), der ebenfalls unter die hier maßgeblichen Regelungen fällt,
229vgl. dazu: VG Minden, Urteil vom 26. Januar 2022 - 7 K 739/21 -, NRWE,
230ist wegen der Vollzugsdefizite bei der Kontaktpersonennachverfolgung bzw. fehlender Sequenzierung oft gar nicht (mehr) feststellbar, wo sich diese Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein, angesteckt hat - also innerhalb oder außerhalb eines Betriebs. Eine Feststellung, ob sich das Betriebsrisiko realisiert hat, dürfte daher in diesen Fällen in der Praxis kaum möglich sein.
231Zwar mag diese Erwägung angesichts der Vielzahl der von einer Absonderungsverfügung betroffenen Personen in der vorliegenden Konstellation unerheblich klingen. Auch mag der M. in der Vergangenheit gar nicht so differenziert vorgegangen sein und eine Erstattung von Aufwendungen bei einer Vielzahl von Arbeitgebern beanstandungslos geleistet haben. Rechtlicher Maßstab bei der Entscheidung darf diese Praxis, die davon abhängt, wie genau ein Sachverhalt ermittelt wird, aber nicht sein. Dies gilt umso mehr, als dass eine Beweislastregel zu Gunsten der Arbeitgeber immer dann greifen wird, wenn die Behörden besonders belastet sind und entsprechende Sachverhaltsaufklärungen nicht leisten können. Das erscheint aber willkürlich.
232(b.) Aber auch wenn man davon ausginge, dass die Absonderungsverfügung dem Betriebsrisiko der Klägerin zuzuordnen wäre, verlangt eine Anwendbarkeit des § 615 Satz 3 BGB nach einhelliger Meinung, dass weder Arbeitnehmer noch Arbeitgeber die Unmöglichkeit der (betriebsbezogenen) Leistungsverhinderung zu vertreten haben.
233Vgl. z.B.: BAG, Urteil vom 30. Mai 1963 - 5 AZR 282/ 62 -, juris Rn. 8; Linck, in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Auflage 2021, § 101 Rn. 12; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2019, § 615 Rn. 96; Lakies, in: Kittner/Zwanziger u.a., Arbeitsrecht Handbuch für die Praxis, 9. Auflage 2017, § 59 Rn. 14.
234Dies ist hier aber nicht der Fall. Dabei kann dahinstehen, ob den Arbeitnehmer N. eine Verantwortlichkeit am Erlass der Absonderungsverfügung trifft, weil er Mindestabstände von 1,5 Metern während der Fahrten zur Arbeitsstelle und zurück sowie während seiner Tätigkeit in der Zerlegung nicht immer eingehalten hat. Jedenfalls trifft die Klägerin - wie dargelegt - eine (wenn auch nicht weit überwiegende) Verantwortlichkeit, wegen Verstoßes gegen Arbeitsschutzvorschriften.
235Nach Ansicht der Kammer kann § 615 Satz 3 i.V.m. Satz 1 BGB (insbesondere) nicht im Wege eines Erst-Recht-Schlusses dahingehend ausgelegt werden, dass der Arbeitgeber auch dann zur Lohnfortzahlung verpflichtet bleibt, wenn ihn ein Verschuldensbeitrag unterhalb der Schwelle des alleinigen oder weit überwiegenden Verschuldens (i.S.d. § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB) trifft. Zwar mag es auf den ersten Blick nicht sachgerecht erscheinen, wenn diese Verantwortlichkeit des Arbeitgebers einen Lohnfortzahlungsanspruch des Arbeitnehmers ausschließt. Denn das bedeutet, dass er bei fehlendem Verschulden (und Realisierung des Betriebsrisikos) nach § 615 Satz 3 i.V.m. Satz 1 BGB zur Weiterzahlung verpflichtet wäre und nach § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB ebenso bei einer „alleinigen oder weit überwiegenden Verantwortlichkeit“ der Leistungsunmöglichkeit des Arbeitnehmers, nicht hingegen bei Vorliegen eines einfachen Verschuldensbeitrags. Allerdings entstünden durch einen solchen Erst-Recht-Schluss Wertungswidersprüche zum allgemeinen Schuldrecht. So lässt sich mit Blick auf die mit der Betriebsrisikolehre verbundenen Präventionsanreize und der Gesamtwohlfahrtoptimierung,
236vgl. Bieder, in: BeckOGK, BGB, 1. Februar 2020, § 615 Rn. 114,
237nicht rechtfertigen, dass der vorliegende Fall anders zu bewerten ist, als dies nach allgemeinen zivilrechtlichen Maßstäben bei mangelnder alleiniger oder überwiegender Gläubigerverantwortlichkeit der Fall wäre, nach denen es gerade bei dem Grundsatz des § 326 Abs. 1 BGB (Ohne Arbeit kein Lohn) verbliebe.
238Vgl. z.B. OLG München, Urteil vom 7. August 2015 - 25 U 546/15 -, juris Rn. 37 f.; vgl. auch: Herresthal, in: BeckOGK, BGB, 1. Juni 2019, § 326 Rn. 209 ff.
239Das Bestreben des Gesetzgebers mit dem Tatbestandsmerkmal der weit überwiegenden Verantwortlichkeit des Gläubigers in § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB die Schadensersatz- und Rücktrittsregelungen und den Wegfall der Gegenleistungspflicht zu harmonisieren,
240vgl. Herresthal, in: BeckOGK, BGB, 1. Juni 2019, § 326 Rn. 187,
241würde durchbrochen. Ein interessengerechter Ausgleich ließe sich auch nicht durch eine Quotelung erreichen. Eine Anwendung von § 254 BGB scheidet wegen der Anrechnungsregelung in Satz 2 des § 615 BGB aus.
242Vgl. Joussen, in: BeckOK Arbeitsrecht, BGB, 62. Edition, 1. Dezember 2021, § 615 Rn. 62, 55; vgl. aber Schwarze, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2020, § 326 Rn. C6, wonach die Lohnzahlungspflicht in Höhe des Verantwortungsbeitrages bestehen bleibt.
243Dagegen entsteht keine Schutzlücke, wenn an dem Erfordernis fehlenden Verschuldens von Arbeitgeber und Arbeitnehmer festgehalten wird. Der Arbeitgeber ist - grundsätzlich - zur Lohnfortzahlung nach § 616 BGB für einen verhältnismäßig nicht erheblichen Zeitraum weiterhin verpflichtet. Im Übrigen können Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber oder einen sonstigen an der Verursachung beteiligten Dritten - welche nach § 56 Abs. 10 IfSG auch auf das zur Gewährung der Entschädigung verpflichtete Land übergehen würden - einen gerechten Ausgleich erwirken.
244(c.) Schließlich mag - wenn man zum einen davon ausginge, dass die Absonderungsverfügung dem Betriebsrisiko der Klägerin zuzuordnen wäre und § 615 Satz 3 BGB zum anderen ausnahmsweise auch bei einer vom Arbeitgeber und ggf. Arbeitnehmer verschuldeten Leistungsunmöglichkeit anwendbar wäre - die an der Risikosphäre von Arbeitgeber und Arbeitnehmer anknüpfende Auslegung des OLG Hamm (zum Erfordernis einer Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers) einem allgemeinen Billigkeitsgefühl entsprechen. Ihr steht aber entgegen, dass die Betriebsrisikolehre mit Blick auf die andauernde Coronapandemie Gefahr läuft, überstrapaziert zu werden. Wenn der Arbeitgeber - wie in der Entscheidung des OLG Hamm - für potenziell infektiöse Kontakte im Rahmen eines gemeinsamen (Fußball-)Spiel- und Trainingsbetriebs zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist, so müsste dies - anders als in § 616 Satz 1 BGB zeitlich unbefristet - auch bei Arbeitnehmern gelten, die in besonderen Risikobereichen, z.B. mit viel „Kundenverkehr“ wie Kellner, Erzieher und Pflegekräfte, eingesetzt werden. Darüber hinaus gibt es weitere Branchen, wie beispielsweise das Baugewerbe, in denen eine Zusammenarbeit mehrerer Mitarbeiter ohne Abstand und wegen körperlicher Arbeit zwingend erforderlich erscheint. Dieses Problem dürfte sich mit Blick auf die sich gegenwärtig verbreitende Omikron-Variante des Coronavirus noch verschärfen, weil soziale Kontakte wegen der höheren Infektiosität der Mutation nunmehr noch gefahrenträchtiger erscheinen.
245Eine andere Sichtweise lässt sich - wiederrum - nicht mit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts,
246BAG, Urteil vom 13. Oktober 2021 - 5 AZR 211/21 -, juris Rn. 33,
247rechtfertigen, wonach behördlich angeordnete Betriebsschließungen dem Betriebsrisiko zuzuordnen sind, wenn sie darauf abzielen, einem im Betrieb des Arbeitgebers angelegten besonderen Risiko zu begegnen. Denn zur Frage, ob die weiteren Voraussetzungen des Lohnfortzahlungsanspruchs nach § 615 Satz 3 i.V.m. Satz 1 BGB (Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers, fehlendes Verschulden von Arbeitnehmer und Arbeitgeber) in diesen Fällen ausnahmsweise nicht anspruchsbegründend sein sollen, verhalten sich die Urteilgründe nicht. Im Gegenteil, das BAG hält in seiner Entscheidung an seiner Auffassung fest, dass es sich bei § 615 Satz 3 BGB um eine Rechtsgrundverweisung handelt, mit der Folge, dass (nur) dem leistungsfähigen und leistungswilligen Arbeitnehmer der Vergütungsanspruch verbleibt.
248cc. Ein Vergütungsanspruch folgt nicht aus § 3 EFZG. Danach hat ein Arbeitnehmer, der durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen.
249Ausweislich der insoweit nachvollziehbaren Angaben der Klägerin war Herr N. im streitgegenständlichen Zeitraum nicht arbeitsunfähig erkrankt. Dieser Vortrag wurde auch vom beklagten Land nicht durchgreifend in Frage gestellt.
250dd. Herrn N. stand gegen die Klägerin kein Anspruch auf Lohnfortzahlung nach § 616 Satz 1 BGB zu. Nach dieser Regelung wird der zur Dienstleistung Verpflichtete des Anspruchs auf die Vergütung nicht dadurch verlustig, dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird.
251Die Voraussetzungen des § 616 Satz 1 BGB liegen nicht vor. Zwar wurde die Regelung zwischen der Klägerin und Herrn N. nicht abbedungen. Es handelt sich bei der Absonderung, die für den Arbeitnehmer N. als Ansteckungsverdächtigten angeordnet worden ist, auch um einen in seiner Person liegenden Grund. Allerdings bestand seine Leistungsunfähigkeit nicht für einen nur unerheblichen Zeitraum.
252Die Regelung des § 616 Satz 1 BGB wurden zwischen der Klägerin und Herrn N. nicht im Rahmen des vorliegenden Arbeitsvertrags abbedungen. Die Klägerin hat auch weder vorgetragen noch ist anderweitig ersichtlich, dass sich eine Unanwendbarkeit z.B. aus Tarifvertrag ergeben könnte.
253Es handelt sich bei der - streitgegenständlichen - Absonderungsanordnung aufgrund eines an das Betriebsumfeld des Arbeitnehmers begründeten Ansteckungsverdachts mit dem SARS-CoV-2 Coronavirus um ein subjektiv persönliches Hindernis.
254Vgl. dazu im Einzelnen: VG Minden, Urteil vom 26. Januar 2022 - 7a K 877/21 -, NRWE.
255Allerdings bestand die Leistungsunfähigkeit nicht für einen nur unerheblichen Zeitraum.
256Der Arbeitnehmer befand sich vom 18. Juni 2020 bis zum 23. Juli 2020 in häuslicher Absonderung. Die Absonderung beruhte anfangs auf den Allgemeinverfügungen vom 18. Juni 2020 und 20. Juni 2020 des Kreises Gütersloh „zur Absonderung in sog. häusliche Quarantäne“ im Zeitraum vom 18. Juni 2020 bis zum 2. Juli 2021. Anschließend ordnete das MAGS mit Allgemeinverfügung vom 1. Juli 2020 „zum Schutz der Bevölkerung vor der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 gegenüber im Betrieb der Firma U. am Standort „J. , 33378 Rheda-Wiedenbrück“ tätigen und mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebenden Personen durch Ab-sonderung in häuslicher Quarantäne“ eine Absonderung für den Zeitraum vom 3. Juli 2020 bis zum 17. Juli 2020 an. Schließlich verfügte die Stadt Rheda-Wiedenbrück gegenüber dem Arbeitnehmer mit Verwaltungsakt vom 17. Juli 2020 eine häusliche Quarantäne bis einschließlich zum 23. Juli 2020.
257Zunächst ist davon auszugehen, dass bei der Beurteilung der Dauer des Verhinderungsfalls der Gesamtzeitraum der Absonderung maßgeblich ist. Dafür spricht, dass der Arbeitnehmer im Zeitraum vom 18. Juni 2020 bis zum 23. Juli 2020 weder gearbeitet hat noch dies hätte tun dürfen (außerhalb seiner Wohnung) und die Verhinderungen auf derselben Ursache beruhen, nämlich einer Absonderungsanordnung infolge eines fortbestehenden Ansteckungsverdachts.
258Vgl. dazu: Joussen, in: BeckOK Arbeitsrecht, BGB, 62. Edition, 1. Dezember 2021, § 616 Rn. 49; Linck, in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Auflage 2021, § 97 Rn. 16; Besgen/Jüngst u.a., in: Handbuch Betrieb und Personal, 248. Lieferung 2021, Stand: 204. Lieferung 05/16, ZWEITES KAPITEL Arbeitsentgelt ohne Arbeitsleistung, Rn. 272; Tillmanns, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, Individualarbeitsrecht I, 5. Auflage 2021, § 77 Rn. 33; Riesenhuber, in: Erman, BGB, 16. Auflage 2020, § 616 Rn. 56, 135 f.; Wilke, in: Personal-Lexikon, 23. Edition 2021, Persönliche Arbeitsverhinderung - Mehrere Verhinderungszeiten; Bieder, in: BeckOGK, BGB, 1. Februar 2020, § 616 Rn. 38; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 616 Rn. 68; Krause, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, BGB, 9. Auflage 2020, § 616 Rn. 43; Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 616 Rn. 107 f.; Pepping, in: Rancke, Mutterschutz - Elterngeld - Elternzeit - Betreuungsgeld, BGB, 5. Auflage 2018, § 616 Rn. 12; Waas/Palonka, in: Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath, Arbeitsrecht, BGB, 4. Auflage 2017, § 616 Rn. 15; Vgl. auch BAG, Urteil vom 12. Juli 1989 - 5 AZR 377/88 -, juris Rn. 27.
259Bei einem Absonderungszeitraum von 5 Wochen handelt es sich um einen erheblichen Zeitraum.
260Wie der unbestimmte Rechtsbegriff der verhältnismäßig nicht erheblichen Zeit zu konkretisieren ist, ist umstritten. Aus dem Wortlaut des § 616 Satz 1 BGB „verhältnismäßig“ folgt zunächst, dass eine Festlegung auf eine feste Tageszahl,
261vgl. zu den in der Literatur festgelegten Konkretisierungshilfen z.B.: Linck, in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Auflage 2021, § 97 Rn. 14; Bieder, in: BeckOGK, BGB, 1. Februar 2020, § 616 Rn. 37,
262wegen der Verschiedenartigkeit der in Betracht kommenden Sachverhalte nicht möglich ist.
263Vgl. z.B.: VG Koblenz, Urteil vom 10. Mai 2021 - 3 K 107/21.KO -, juris Rn. 28; Besgen/Jüngst u.a., in: Handbuch Betrieb und Personal, 248. Lieferung 2021, Stand: 204. Lieferung 05/16, ZWEITES KAPITEL Arbeitsentgelt ohne Arbeitsleistung, Rn. 271.
264Zudem darf die Praktikabilität derartiger Richtwerte nicht über ihre fehlende normative Verankerung hinwegtäuschen.
265Vgl. Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 616 Rn. 106.
266Im Schrifttum wird im Sinne einer ereignisbezogenen Sichtweise die Erheblichkeit der Verhinderungszeit nach dem zur Arbeitsverhinderung führenden Grund sowie danach beurteilt, ob der Arbeitgeber erfahrungsgemäß mit einer derartigen Nichtleistung über einen bestimmten Zeitraum rechnen konnte, sodass er den Ausfall einzukalkulieren hat. Als verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit sei daher auch bei schwerwiegenden Ereignissen nur eine Dauer von wenigen Tagen anzusehen. Die nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz für erkrankte Arbeitnehmer geltende Sechs-Wochen-Frist könne danach grundsätzlich nicht als Maßstab herangezogen werden.
267Vgl. Krause, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, BGB, 9. Auflage 2020, § 616 Rn. 41; Linck, in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Auflage 2021, § 97 Rn. 14, 16; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 616 Rn. 67 f.; Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 616 Rn. 102 f.
268Demgegenüber soll nach der Rechtsprechung im Sinne einer belastungsbezogenen Betrachtungsweise bei der Bewertung des Verhinderungszeitraums - ungeachtet etwaiger Ausnahmen für bestimmte hier nicht relevante Fallgruppen -,
269z.B.: BAG, Urteile vom 25. Oktober 1973 - 5 AZR 156/73 -, juris Rn. 12 f., und vom 19. April 1978 - 5 AZR 834/76 -, juris Rn. 22,
270- auf die gesamten Umstände des Einzelfalles abgestellt werden, insbesondere auf das Verhältnis zwischen der Dauer der Verhinderung und der Länge der bisherigen Beschäftigung. Daneben werden (insbesondere) zusätzliche Abreden sowie die Eigenart des Arbeitsverhältnisses und dessen voraussichtliches Fortbestehen berücksichtigt.
271Vgl. z.B.: BGH, Urteil vom 30. November 1978 - III ZR 43/77 -, juris Rn. 37; BAG, Urteil vom 11. August 1988 - 8 AZR 721/85 -, juris Rn. 43; Krause, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, BGB, 9. Auflage 2020, § 616 Rn. 40; Grimm, in: Tschöpe, Arbeitsrecht Handbuch, 12. Auflage 2021, B. Entgeltfortzahlung, Rn. 87; Joussen, in: BeckOK Arbeitsrecht, BGB, 62. Edition, 1. Dezember 2021, § 616 Rn. 46; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 616 Rn. 66; Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 616 Rn. 100.
272Die zeitliche Höchstgrenze dürfte regelmäßig bei einer Leistungsunfähigkeit von sechs Wochen liegen.
273Vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1978 - III ZR 43/77 -, juris Rn. 37; BAG, Urteile vom 20. Juli 1977 - 5 AZR 325/76 -, juris Rn. 12, und vom 11. August 1988 - 8 AZR 721/85 -, juris Rn. 43.
274Auch wenn Ansteckungsverdächtige i.S.d. § 2 Nr. 7 IfSG nach den Motiven des BSeuchG-Gesetzgebers vom Schicksal in ähnlicher Weise betroffen sind wie Kranke,
275vgl. BT-Drs. 3/1888, S. 10, 27 zu § 48 BSeuchG (Entschädigung in besonderen Fällen), und BT-Drs. III/2662, S. 3 ebenfalls zu § 48 BSeuchG
276muss bei der Anwendung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,
277vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1978 - III ZR 43/77 -, juris Rn. 37,
278berücksichtigt werden, dass der Entscheidung § 616 BGB in der Fassung vom 28. August 1975 zu Grunde lag. In dessen Absatz 2 Satz 2 wurde der Sechs-Wochen-Zeitraum zwar als verhältnismäßig nicht erheblich anerkannt, der Gesetzgeber bediente sich aber mit Blick auf den Fortzahlungsanspruch im Krankheitsfall der Regelungstechnik der Fiktion („Hierbei gilt als verhältnismäßig nicht erheblich eine Zeit von sechs Wochen, wenn nicht durch Tarifvertrag eine andere Dauer bestimmt ist.“). Nunmehr fehlt in § 616 BGB jeglicher Anhaltspunkt für eine Gleichstellung mit dem - aktuell geltenden - § 3 EFZG.
279Vgl. dazu: Linck, in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Auflage 2021, § 97 Rn. 15; Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 616 Rn. 103, m.w.N.
280Überdies liegen den Lohnfortzahlungsansprüchen in § 616 Satz 1 BGB und § 3 EFZG unterschiedliche Normzwecke zu Grunde. Während § 616 Satz 1 BGB seine Grundlage - nach der Rechtsprechung - überwiegend in dem Gedanken der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers findet (bzw. nach „neuerem“ Ansatz in der Literatur dem Gedanken, dass personengebundenen Tätigkeiten das Risiko eines Ausfalls des Dienstverpflichteten stets immanent ist und es daher sachgerecht erscheint, unerhebliche Verhinderungen bereits bei der Bemessung des Entgelts einzukalkulieren - „minima non curat praetor“),
281vgl. z.B.: Linck, in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Auflage 2021, § 97 Rn. 2 f., 14; Joussen, in: BeckOK Arbeitsrecht, BGB, 62. Edition, 1. Dezember 2021, § 616 Rn. 46 f.; Krause, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, BGB, 9. Auflage 2020, § 616 Rn. 40; Riesenhuber, in: Erman, BGB, 16. Auflage 2020, § 616 Rn. 2; Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 616 Rn. 9, 100 f.; BAG, Urteil vom 25. Oktober 1973 - 5 AZR 156/73 -, juris Rn. 12 f.,
282dient § 3 EFZG eher der Entlastung der Krankenkassen.
283Vgl. Temming, in: Kluckert, Das neue Infektionsschutzrecht, IfSG, § 16 Rn. 21; Reinhard, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, EFZG, 22. Auflage 2022, § 3 Rn. 1 f.; Müller-Glöge, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, EFZG, § 3 Rn. 2; Oetker, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 616 Rn. 181 ff.
284Angesichts dessen und unter Berücksichtigung des gesetzlichen Wortlauts,
285vgl. VG Koblenz, Urteil vom 10. Mai 2021 - 3 K 107/21.KO -, juris Rn. 30,
286geht die Kammer davon aus, dass bei der Beurteilung der „verhältnismäßig nicht erheblichen Zeit“ (auch) im Falle der Absonderung eines ansteckungsverdächtigen Arbeitnehmers in erster Linie das Verhältnis zwischen bisheriger Dauer des Arbeitsverhältnisses und Dauer der Arbeitsverhinderung maßgeblich ist. Daneben werden weitere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt.
287Nach dieser Maßgabe überschreitet der Absonderungszeitraum von 5 Wochen die Erheblichkeitsschwelle. Insoweit ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer N. erst anderthalb Jahre bei der Klägerin beschäftigt war, als die erste Absonderung angeordnet worden ist. Allein der Umstand, dass der Arbeitsvertrag unbefristet abgeschlossen worden ist und sich im laufenden Klageverfahren die Prognose einer längerfristig fortdauernden Beschäftigung bestätigt hat, da diese erst Ende 2020 mit der Übernahme des Arbeitsverhältnisses durch die U. Unternehmensgruppe beendet worden ist, ändert an dieser Einschätzung nichts. Auch rechtfertigen weder die Eigenart des Arbeitsverhältnisses noch die Eigenart der Verhinderung im vorliegenden Fall eine andere Beurteilung. Zwar mag die coronabedingte Absonderung wegen der Inkubationszeit des Virus von (ursprünglich) zwei Wochen und der möglichen Verlängerung der Absonderung um weitere zwei Wochen nach Ablauf der Inkubationszeit im Falle einer Hausgemeinschaft des Ansteckungsverdächtigen mit einer nachweislich mit dem Coronavirus infizierten Person ohne nachgewiesene Ansteckung nach Ablauf der Inkubationszeit zu einem vorhersehbaren Absonderungszeitraum von 4 Wochen führen.
288Vgl. dazu: VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 6. Juli 2020 - 20 L 860/20 -; OVG NRW, Beschuss vom 10. Juli 2020 - 13 B 981/20 -.
289Auch dieser Zeitraum ist im vorliegenden Fall aber überschritten.
290Da gegen den Arbeitnehmer N. mit Verfügung vom 17. Juli 2020 der Stadt Rheda-Wiedenbrück eine weitere (individuelle) Anordnung der häuslichen Absonderung wegen eines Ansteckungsverdachts ergangen ist, ist im Übrigen nicht davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer den Zeitraum der Leistungsverhinderung durch eine Freitestung, wie sie grundsätzlich ab dem 2. Juli 2020 möglich gewesen ist, hätte verkürzen können. Der Zeuge N. hat in der mündlichen Verhandlung zudem glaubhaft erklärt, dass er sich durchgängig für fünf Wochen in Absonderung befunden habe. Diese weitere Absonderung stellt überdies einen atypischen Verlauf dar.
291Vorsorglich wird zudem darauf hingewiesen, dass aus dem Verfahren Az. 7 L 546/20 bekannt ist, dass der insoweit zuständige Kreis Gütersloh mit den vorhandenen personellen Kapazitäten die Ergebnisse der (Frei-)Testungen aufgrund ihrer Vielzahl ohnehin nicht zeitnah abarbeiten konnte.
292Ob der Fall bei einer asymptomatisch infizierten Person (Ausscheider i.S.d. § 2 Nr. 6 IfSG) anders zu beurteilen ist, da die Entwicklung von Symptomen vom Zufall abhängen mag,
293vgl. VG Koblenz, Urteil vom 10. Mai 2021 - 3 K 107/21.KO -, juris Rn. 32,
294bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Die Kammer bezweifelt die Aussage der Klägerin nicht, dass der Arbeitnehmer durchgängig negativ getestet worden ist. Dafür spricht auch die Verfügung vom 17. Juli 2020, in der Herr N. erneut nur als Kontaktperson einer mit dem Coronavirus infizierten Person eingestuft wurde.
295d. Die Kausalität („dadurch“),
296vgl. dazu: Eckart/Kruse, in: BeckOK, Infektionsschutzrecht, IfSG, 10. Edition, 15. Januar 2022, § 56 Rn. 38,
297zwischen Absonderung und Verdienstausfall ist gegeben. Andere Gründe für den Wegfall des Lohnanspruchs sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Insbesondere bleibt die Schließung des Betriebs der Bestellerin ohne Einfluss. Der Einsatz des Arbeitnehmers als Fleischer in einem anderen Betrieb wäre ohne Absonderungsanordnung - wie bereits dargelegt - grundsätzlich möglich gewesen.
298e. Ein Mitverschulden, das in entsprechender Anwendung von § 254 BGB ggf. über die gesetzlich geregelten Fälle insbesondere in § 56 Abs. 1 Satz 3 IfSG und § 56 Abs. 8 Satz 1 Nr. 3 IfSG anspruchsmindernd zu berücksichtigen sein könnte,
299vgl. zum Streitstand: Eckart/Kruse, in: BeckOK, Infektionsschutzrecht, IfSG, 10. Edition, 15. Januar 2022, § 56 Rn. 41 ff., m.w.N.; Kümper, in: Kießling, IfSG, 2. Auflage 2021, § 56 Rn. 27 ff., m.w.N.,
300ist Herrn N. nicht vorzuwerfen. Dies gilt hier insbesondere mit Blick auf ggf. vom Arbeitnehmer begangene Verstöße gegen das Abstandsgebot, da diese jedenfalls keinen Verursachungsbeitrag zum Infektionsgeschehen geleistet haben. Der Arbeitnehmer N. war kein Ausscheider, er wurde (mehrfach) negativ getestet.
3012. Die Voraussetzungen von § 56 Abs. 5 IfSG sind erfüllt. Unstreitig hat die Klägerin die Entschädigung während des streitgegenständlichen Zeitraums an den Arbeitnehmer N. ausgezahlt, § 56 Abs. 5 Satz 1 IfSG. Einen (formwirksamen) Erstattungsantrag (§ 56 Abs. 5 Satz 3 IfSG) hat sie am 28. Juli 2020 beim M. (§ 54 IfSG i.V.m. § 11 Abs. 1 IfSBG-NRW) gestellt.
3023. Der Erstattungsanspruch ist entgegen der Auffassung des beklagten Landes auch nicht - nach Sinn und Zweck der Entschädigungsregelung - ausgeschlossen, weil der Klägerin ggf. ein Schadensersatzanspruch in Höhe des gezahlten Lohns gegenüber der Bestellerin zustehen könnte.
303Einer solchen Auslegung steht schon entgegen, dass die Klägerin keinen Lohn an Herrn N. gezahlt hat, sondern den für diesen Arbeitnehmer entstandenen Entschädigungsanspruch infolge eines Verdienstausfalls. Der Lohnanspruch bestand im hier maßgeblichen Zeitraum der Absonderung - wie dargelegt - nach dem Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ nicht.
304Aber auch mit Blick auf einen etwaigen Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Firma U. wegen der gezahlten Entschädigungsleistung und ungeachtet der Frage, ob ein solcher Sekundäranspruch nicht schon nach § 3 Nr. 6 Werkvertrag abbedungen ist, scheidet eine teleologische Reduktion des § 56 Abs. 3 IfSG aus. Die Klägerin fungiert hier nämlich allein als Auszahlungsstelle. Dieses Verfahren soll eine schnelle und unbürokratische Entschädigungsgewährung sicherstellen.
305Vgl. Eckart/Kruse, in: BeckOK, Infektionsschutzrecht, IfSG, 10. Edition, 15. Januar 2022, § 56 Rn. 73; Gerhardt, in: Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, IfSG, 5. Auflage 2021, § 56 Rn. 25.
306Dieser gesetzgeberische Wille ergibt sich auch im Umkehrschluss aus der Legalzession des § 56 Abs. 10 IfSG, da insoweit nur Schadensersatzansprüche des „Entschädigungsberechtigten“ auf das Land übergehen. In diesem Sinne sind in § 56 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 8 IfSG auch nur Leistungen benannt, die „auf die Entschädigung“ anzurechnen sind.
307Das vorbenannte System würde unterlaufen, ließe man darüber hinaus auch im Verhältnis zwischen entschädigungspflichtigem Land und auszahlungsverpflichtetem Arbeitgeber weitere „Anrechnungstatbestände“ zu. In diese Überlegung ist einzustellen, dass der Erstattungsantrag fristgebunden ist (vgl. § 56 Abs. 11 IfSG). Bei der vom beklagten Land vertretenen Vorgehensweise wird dem Arbeitgeber nicht nur das Prozess- und Insolvenzrisiko auferlegt, sondern auch das Erfordernis bei einem ggf. langwierigen Zivilprozess mit Instanzenzug vorsorglich entsprechende Erstattungsansprüche beim M. zu stellen, sodass weitere - ggf. unnötige - Kosten auf beiden Seiten entstehen und für die Bearbeitung Arbeitskraft gebunden wird.
308Auch andere Schadensersatzansprüche, insbesondere Ansprüche des Arbeitnehmer N. gegen die Klägerin oder die Firma U. sind im vorliegenden Fall nicht zu berücksichtigen. Ungeachtet der Frage, ob - erstens - ein Schadensersatzanspruch des entschädigungsberechtigten Arbeitnehmers N1. gegen die Klägerin als frühere Arbeitgeberin entstanden und fällig ist, - zweitens - dieser ggf. entstandene und fällige Anspruch nach § 15 Arbeitsvertrag (Ausschlussfristen / Verfallklausel) wieder verfallen ist und - drittens - gemäß § 56 Abs. 10 IfSG auf das beklagte Land übergegangen ist, hat das beklagte Land jedenfalls nicht die Aufrechnung erklärt,
309vgl. dazu: BVerwG, Urteil vom 12. Februar 1987 - 3 C 22/86 -, juris; Hessischer VGH, Beschluss vom 28. Januar 1994 - 3 TG 2026/93 -, juris; VG Minden, Beschluss vom 31. Januar 1996 - 2 K 2333/95 -,
310sodass eine Berücksichtigung im hiesigen Verfahren ausscheidet.
311Sofern dem Arbeitnehmer N1. ein Ersatzanspruch z.B. aufgrund eines Vertrags mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter gegen die Firma U. als Bestellerin zusteht, so könnte dieser - ungeachtet der Frage seiner Entstehung, Fälligkeit und Höhe - dem Erstattungsanspruch der Klägerin nicht entgegengehalten werden, weil diese nicht Schuldnerin der ggf. auf das beklagte Land übergegangenen Forderung ist.
3124. Das vom beklagten Land behauptete, anspruchsausschließende (überwiegende) Mitverschulden der Klägerin an der Absonderung ihres Arbeitnehmers ist im Rahmen des § 56 Abs. 3 IfSG selbst nicht zu berücksichtigen, sondern nur - wie geschehen - im Rahmen der Prüfung des § 326 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 BGB oder etwaiger zur Aufrechnung gestellter übergegangener Schadensersatzansprüchen gegen die Klägerin. Dies folgt ebenfalls aus der - zuvor bereits dargelegten - Funktion als Auszahlstelle.
3135. Die Höhe des Erstattungsbetrages von 574,44 Euro Nettoverdienstausfall ist von den Beteiligten unter Berücksichtigung von § 56 Abs. 3 IfSG in der mündlichen Verhandlung unstreitig gestellt worden. Die Kammer hat keine Veranlassung, von sich aus an der Richtigkeit der zugrunde liegenden Berechnung zu zweifeln.
314B. Der Klägerin steht auch der Anspruch auf Erstattung der von ihr verauslagen und der Höhe nach ebenfalls unstreitig gestellten Sozialabgaben i.H.v. 390,39 Euro nach Maßgabe des § 57 IfSG zu.
315C. Die Klage ist auch begründet, soweit die Klägerin aus dem Erstattungsbetrag von 964,83 Euro die Verurteilung des beklagten Landes zur Zahlung von Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit verlangt. Die Voraussetzungen von §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB analog liegen seit dem 23. Februar 2021 (§ 90 VwGO) vor.
316Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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