Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 5. März 2020 - 2 K 3448/19 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
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| Die Berufung des Klägers ist zulässig (A), aber nicht begründet (B). |
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| Die Berufung ist nach der für den Verwaltungsgerichtshof bindenden Zulassung durch das Verwaltungsgericht (§ 124a Abs. 1 Sätze 1 und 2 VwGO) statthaft. Die Zulassung umfasst die Ausweisung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot, die jeweils selbstständige Streitgegenstände darstellen (vgl. BVerwG, Urteile vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 9 f., und vom 22.02.2017 - 1 C 27.16 -, juris Rn. 6, 15; Beschluss vom 03.09.2018 - 1 B 56.18 -, juris Rn. 8; Dollinger in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 11 AufenthG Rn. 129). |
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| Hinsichtlich des Streitgegenstands der Ausweisung liegt eine form- und fristgerechte (§ 124a Abs. 3 Sätze 2 und 3 VwGO) sowie inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen des § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO noch genügende Berufungsbegründung vor. Die Berufungsbegründung enthält einen bestimmten Antrag und es wird aus der Begründung mit Schriftsatz vom 07.09.2020 hinreichend erkennbar, inwieweit und warum das angegriffene Urteil nach Ansicht des Klägers tatsächlich und rechtlich unrichtig ist (vgl. zu den entsprechenden Anforderungen BVerwG, Beschluss vom 09.07.2019 - 9 B 29.18 -, juris Rn. 3; Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 107; Happ in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 27). |
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| Soweit für den Streitgegenstand des Einreise- und Aufenthaltsverbots innerhalb der Berufungsbegründungfrist im Schriftsatz vom 07.09.2020 zwar dessen Aufhebung beantragt, aber keine eigenständige Begründung vorgetragen worden ist, steht dies der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegen. Zwar muss bei einer Mehrheit von Streitgegenständen bzw. bei Hilfsansprüchen eine Begründung für jeden gegeben werden, andernfalls ist das Rechtsmittel für den nicht begründeten Teil unzulässig (Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 124a Rn. 35 m.w.N.; Rudisile in: Schoch/Schneider, VwGO, § 124a Rn. 54 ; Kuhlmann in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 124a Rn. 33; siehe auch BGH, Beschluss vom 29.11.2017 - XII ZB 414/17 -, juris Rn. 9). Dies gilt aber ausnahmsweise dann nicht, wenn die Entscheidung über einen Streitgegenstand von der Entscheidung über einen anderen notwendig abhängt (Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 113) oder der Hilfsanspruch zwingender Bestandteil der Hauptsache ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 15). Diese Ausnahme greift für das Verhältnis zwischen einer Ausweisung und Aufhebung beziehungsweise Verkürzung eines deswegen bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots. Auch unter der Geltung des § 11 AufenthG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 (BGBl. I S. 1294) ist das Begehren auf Aufhebung oder Verkürzung des befristet erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots als Minus notwendiger Bestandteil des Begehrens auf Aufhebung der Ausweisung und kann von den Beteiligten (grundsätzlich) nicht aus dem Verfahren ausgegliedert werden. |
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| 1) Das Bundesverwaltungsgericht hat für § 11 Abs. 1 AufenthG in der bis 20.08.2019 geltenden Fassung, wonach für die Ausweisung ein kraft Gesetzes bestehendes Einreise- und Aufenthaltsverbot bestand, dessen Wirkungen mit der Ausweisungsverfügung zu befristen waren, angenommen, dass das Befristungsbegehren betreffend die Wirkungen der Ausweisung als Minus notwendiger Bestandteil des Begehrens auf Aufhebung einer Ausweisung ist und von den Beteiligten nicht aus dem Verfahren ausgegliedert werden kann (BVerwG, Urteile vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 15, sowie vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 17 unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 -, juris Rn. 28 ff. und in Korrektur des vorausgegangenen Urteils des VGH Baden-Württemberg vom 13.01.2016 - 11 S 889/15 -, juris Rn. 155, in dem entschieden worden war, dass die Befristungsentscheidung mangels Berufungsantrag und -begründung nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sei). Der erkennende Gerichtshof hat sich dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts angeschlossen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, juris Rn. 33). |
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| Das vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte prozessuale Verhältnis von der Anfechtung der Ausweisung und der Befristung ihrer Wirkungen ist unter anderem von dem materiellen Gedanken geprägt, dass typischerweise eine zeitlich befristete Ausweisung zur Erreichung der mit dieser ordnungsrechtlichen Maßnahme verfolgten präventiven Zwecke genügt, und angesichts der einschneidenden Folgen für die persönliche Lebensführung des Ausländers und die ihn ggf. treffenden sozialen, familiären und wirtschaftlichen Nachteile die Befristung der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung auch der Sicherung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung dient; eine schon mit der Ausweisung einhergehende Befristung ihrer Wirkung ermöglicht dem Ausländer zudem eine verlässliche Grundlage für seine weitere Lebensplanung (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 -, juris Rn. 31 ff. zur Fassung des § 11 Abs. 1 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 22.11.2011 und unter Weiterentwicklung von BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 -, juris Rn. 28 f.). |
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| 2) Nach der Neufassung des § 11 AufenthG durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 (BGBl. I S. 1294), die bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts galt, ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht mehr unmittelbare gesetzliche Rechtsfolge der Ausweisung oder der Abschiebung bzw. Zurückschiebung, sondern wird nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als selbstständiger Verwaltungsakt erlassen. § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG sieht die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von Amts wegen bei seinem Erlass vor. Zudem ist das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG keine unmittelbare Rechtsfolge der Ausweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung mehr, sondern eine solche des Einreise- und Aufenthaltsverbots. |
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| Im Vergleich zur Befristung der gesetzlichen Sperrwirkungen haben sich die materiell-rechtlichen Vorgaben für das behördlich verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot von einer bestimmten Dauer nicht geändert. Es geht nach wie vor um die Konturierung und Begrenzung der Wirkungen der Ausweisung primär unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr und sekundär mit Blick auf die persönlichen Belange der von einer Ausweisung Betroffenen. Für die Ermittlung der Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots erfolgt zunächst die Bestimmung des Fristenrahmens (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Innerhalb des Fristenrahmens ist das Prüfprogramm, das das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 10.07.2012 (1 C 19.11, juris) zu § 11 AufenthG in der bis 31.07.2015 geltenden Fassung entwickelt hat, weiter zu beachten (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 80 f.; Maor in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 11 Rn. 15, 21 ff.). Auch die Tatsache, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht mehr ipso iure eintritt, sondern nunmehr der Rechtsform eines Verwaltungsakts bedarf, spricht nicht dagegen, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur fehlenden Ausgliederbarkeit des Befristungsbegehrens im Falle einer Ausweisung auf die Neufassung des § 11 AufenthG zu übertragen. Zwar verlagert sich nach der gesetzlichen Konzeption mit dem Wegfall eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots die bisher mit der Ausweisung verbundene kraft Gesetzes eintretende Wirkung u.a. der Fernhaltung des Ausländers auf das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot; inhaltlich ändert sich hierdurch jedoch nichts, da die Ausweisung zwingend mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot zu verbinden ist (vgl. Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 20 ). Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht bereits für die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 angenommen, dass in einer behördlichen Befristungsentscheidung, auch soweit sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgrund einer Ausweisung betrifft, ein konstitutiv angeordnetes befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbots zu sehen ist (BVerwG, Beschlüsse vom 06.05.2020 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 11 ff., und vom 09.05.2019 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 27 unter Hinweis auf Urteile vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 42, und vom 21.08.2018 - 1 C 21.17 -, juris Rn. 25). |
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| Ob ausnahmsweise das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot dann nicht Gegenstand eines gegen die Ausweisung gerichteten Rechtsschutzes wird, wenn der Betreffende ausdrücklich zu erkennen gibt, er wolle dieses nicht in das Verfahren einbeziehen (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.09.2020 - OVG 11 N 83.18 -, juris Rn. 9 ff.), bedarf keiner Entscheidung, denn solches trifft für den vorliegenden Fall nicht zu. |
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| Die Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg. |
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| Maßgebender Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage sowohl hinsichtlich der Ausweisung als auch hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist derjenige der mündlichen Verhandlung des Senats (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 16, und vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 18; OVG Niedersachsen, Urteil vom 06.05.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 35, 53; Hoppe in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 173). Der Entscheidung sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25.02.2008 (BGBl I S. 162) zugrunde zu legen, zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie weiterer Gesetze vom 09.12.2020 (BGBl. I S. 2855). Danach erweisen sich die Ausweisung (I) und das viereinhalbjährige Einreise- und Aufenthaltsverbot (II) als rechtmäßig. |
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| Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (im Einzelnen BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 21 ff.). Die Ausweisung setzt nach § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls voraus, die vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geleitet wird. Der Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erhält durch die §§ 54 und 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, jeweils qualifiziert als „besonders schwerwiegend" (Absatz 1) oder als „schwerwiegend" (Absatz 2) (BVerwG, Urteile vom 25.07.2017 - 1 C 12.16 -, juris Rn. 15, und vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 17). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sind jedoch neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die in § 54 AufenthG fixierten Tatbestände erfüllen zwei Funktionen: Sie sind gesetzliche Umschreibungen spezieller öffentlicher Interessen an einer Ausweisung im Sinne von § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG und weisen diesen Ausweisungsinteressen zugleich ein besonderes Gewicht für die durch § 53 Abs. 1 Halbs. 2 AufenthG geforderte Abwägung zu. Ein Rückgriff auf die allgemeine Formulierung eines öffentlichen Ausweisungsinteresses in § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG ist entbehrlich, wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist. Allerdings bedarf es auch bei Verwirklichung eines Tatbestandes nach § 54 AufenthG stets der Feststellung, dass die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht (BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 26). |
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| Für verschiedene rechtlich privilegierte Personengruppen hat der Gesetzgeber den Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG ergänzende Vorschriften erlassen, die erhöhte Ausweisungsvoraussetzungen festlegen (BVerwG, Urteile vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 46, und vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 32 - jew. zu § 53 Abs. 3 in der bis 20.08.2019 geltenden Fassung). Dies erfordert ggfs. auch - in einem zweiten Schritt - die Prüfung, ob der vom Gesetzgeber jeweils definierte nationale Schutz dem einschlägigen unionsrechtlichen Maßstab für die jeweilige unionsrechtlich betroffene Personengruppe genügt. Zudem bedarf es in einem solchen Fall einer Abwägung unter Wahrung einer unionsrechtlich geprägten Verhältnismäßigkeitsprüfung. |
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| 1) Der Kläger erfüllt aufgrund der Verurteilung durch das Landgericht ... den Tatbestand des Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Danach wiegt ein Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer u.a. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Mit dieser Vorschrift, in der der Gesetzgeber bei der Bewertung des Ausweisungsinteresses die Freiheits- und Jugendstrafe trotz unterschiedlicher Strafzwecke und -ziele im Erwachsenen- und Jugendstrafrecht (vgl. §§ 2, 17 JGG) und trotz abweichender Strafrahmen (siehe § 18 JGG) gleichbehandelt, bewegt er sich innerhalb des ihm zustehenden Gestaltungs- und Wertungsrahmens (vgl. Hoppe in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 74). |
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| Das Landgericht ... hat den Kläger mit rechtskräftigem Urteil vom 12.09.2018 wegen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen, der Nötigung in zwei Fällen, der gefährlichen Körperverletzung, des versuchten Betrugs, der versuchten räuberischen Erpressung sowie des Diebstahls in drei Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren sechs Monaten verurteilt. Bei sämtlichen der realkonkurrierenden Straftaten handelt es sich um Vorsatztaten. |
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| Ob die Verurteilung des Klägers auch ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. b) AufenthG wegen einer vorsätzlichen Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit, nach dessen lit. c) in Form eines Sexualdelikts oder gemäß lit. d) in der Variante des serienmäßigen Eigentumsdelikts erfüllt, kann nicht festgestellt werden, weil die hier erforderliche genaue Zuordnung der jeweils mindestens einjährigen Jugendstrafe zum konkret abgeurteilten Delikt aufgrund der hier nach § 105 JGG i.V.m. § 31 JGG einheitlich festgesetzten Jugendstrafe nicht möglich ist (vgl. Hoppe in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 79). Für die Entscheidung über die Ausweisung hat dies keine Folgen, denn selbst wenn durch eine strafrechtliche Verurteilung mehrere Tatbestände des § 54 AufenthG erfüllt werden, führt dies nicht zu einer typisierten Verstärkung des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.11.2017 - 11 S 1555/16 -, juris Rn. 38). |
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| 2) Die der Ausweisungsverfügung vom 18.06.2019 zugrunde gelegte spezialpräventiv motivierte Ausweisung bezweckt die Abwehr einer vom persönlichen Verhalten des Ausländers ausgehenden Gefährdung der im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG genannten Schutzgütern; dies setzt die Feststellung einer Wiederholungsgefahr voraus. Im vorliegenden Fall besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut Delikte aus dem Bereich der Sexualkriminalität begehen wird. Entsprechendes gilt im Übrigen für andere, durch aggressives, gewalttätiges Verhalten bestimmte Straftaten. |
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| a) Für die Beurteilung, ob nach dem Verhalten des Ausländers damit zu rechnen ist, dass er erneut die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG gefährdet, bedarf es einer Prognose, bei der der Grad der Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen und Art und Ausmaß möglicher Schäden zu ermitteln und zueinander in Bezug zu setzen sind. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. näher BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, juris Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 23.06.2020 - 11 S 990/19 -, juris Rn. 13, und vom 11.02.2019 - 12 S 2789/18 -, juris Rn. 8; Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 22). Auch bei schwersten Gewaltdelikten ist jedoch eine grenzenlose Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nicht zulässig und nicht bereits jede entfernte Möglichkeit begründet eine Wiederholungsgefahr (OVG Bremen, Beschluss vom 12.03.2020 - 2 B 19/20 -, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, Rn. 18). |
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| Bei der gerichtlichen Überprüfung einer Ausweisungsverfügung darf sich das Gericht nicht darauf beschränken, die von der Ausländerbehörde angestellte Prognose auf ihre Tragfähigkeit zu untersuchen. Es hat vielmehr eine eigenständige, auf die Umstände im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bezogene Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. |
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| Das Gericht bewegt sich bei der erforderlichen Gefahrenprognose regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall ausnahmsweise die Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderlich machen würden, liegen nicht vor (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, juris Rn. 12, und Beschlüsse vom 11.09.2015 - 1 B 39.15 -, juris Rn. 12, vom 01.03.2016 - 1 B 30.16 -, juris Rn. 7, und vom 09.12.2019 - 1 B 74.19 -, juris Rn. 5). Weder aus dem im Strafverfahren eingeholten forensisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 30.07.2018 noch aus den in den Gefangenenpersonalakten dokumentierten Vorgängen ergeben sich Hinweise auf eine aktuelle psychische Störung des Klägers, die es erforderlich machen könnte, spezielle Sachkunde für die Erstellung der Gefahrenprognose in Anspruch zu nehmen. Der am 06.06.2018 in der Justizvollzugsanstalt ... als Folge einer Anpassungsstörung unternommene Selbstmordversuch (vgl. Urteil des Landgerichts ... S. 19 unter V. 3.) und die am 13.06.2019 in der Justizvollzugsanstalt ... geäußerten konkreten Suizidgedanken hatten jeweils eine medizinische Behandlung zur Folge. Nach der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ...-... vom 11.03.2021 stabilisierte sich der Kläger nach dem Vorfall vom 13.06.2019 bis zum 20.09.2019 (siehe auch den Vermerk des Psychologischen Dienstes vom 17.06.2019, Gefangenenpersonalakte Bd. I, S. 218, wonach der Kläger bereits an diesem Tag wieder in die normale Zelle seines Traktes zurückverlegt wurde); danach ist es nicht mehr zu einer auffälligen psychischen Destabilisierung gekommen. Der Umstand, dass zur Biographie des Klägers das Erlebnis der Flucht aus Afghanistan als unbegleiteter Minderjähriger gehört (vgl. insoweit auch die im psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 30.07.2018 dokumentierte biographische Anamnese unter III.2.), gibt ebenfalls keinen Anhalt für die Notwendigkeit der Einholung einer sachverständigen Stellungnahme durch das Gericht. |
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| Bei der zu treffenden Prognose sind alle individuellen Umstände des Einzelfalls einzustellen. In die Prüfung sind daher unter anderem Art und Schwere der Tathandlung, Art und Ausmaß potentieller Schäden, das Nachtatverhalten, Aspekte eines Täter-Opfer-Ausgleichs, die Höhe der verhängten Strafe und die Entwicklung der Persönlichkeit des Klägers und seiner Lebensumstände bis zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt einzubeziehen; zu berücksichtigen ist auch der Verlauf des Vollzugs einer Haftstrafe (BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, juris Rn. 12; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.11.2017 - 11 S 1555/16 -, juris Rn. 48, und Beschlüsse vom 23.06.2020 - 11 S 990/19 -, juris Rn. 14, und vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 40; Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 24). |
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| b) Gegenstand der strafrechtlichen Verurteilung durch das Landgericht ...- ... sind unter anderem sechs Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes nach §§ 176 Abs. 1, 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB, weil der Kläger als 18-jähriger zwischen August und Anfang Oktober 2017 sechs Mal mit der im Zeitpunkt der Taten 13 Jahre alten M. Geschlechtsverkehr praktizierte. Hierbei handelt es sich sowohl, was die abstrakte Einordnung des Delikts in das Rechtssystem anbelangt, als auch hinsichtlich der konkreten Art und Weise des Vorgehens des Klägers und seiner Motivation um eine schwerwiegende Tat. |
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| aa) § 176 Abs. 1 StGB sieht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor, wenn eine Person sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt. Nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB wird der sexuelle Missbrauch von Kindern in den Fällen des § 176 Abs. 1 und 2 mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft, wenn eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Diese zum Zeitpunkt der Tat geltenden Strafbestimmungen sind in der Folgezeit nicht verändert worden. |
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| Schutzgut der Strafvorschriften der §§ 176 ff. StGB ist die sexuelle Selbstbestimmung als Abwehrrecht mit dem Inhalt, nicht zum Objekt fremdbestimmter sexueller Handlungen zu werden. Mitgeschützt ist hierbei die ungestörte sexuelle Entwicklung von Personen unter 14 Jahren im Hinblick auf eine Beeinträchtigung ihrer Gesamtentwicklung. § 176 StGB bestimmt eine absolute Grenze für den sexualbezogenen Umgang mit Kindern; entsprechende Kontakte mit unter 14-jährigen sind ausnahmslos verboten. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich die sexuelle Identität einer Person und damit ihre Fähigkeit, über ihr Sexualverhalten zu bestimmen, als Teil der Gesamtpersönlichkeit entwickelt, und dass fremdbestimmte Eingriffe in die kindliche Sexualität in besonderer Weise geeignet sind, Folgeschäden bei Kindern herbeiführen zu können (Eisele in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 176 Rn. 1a; Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 176 Rn. 2). Als Qualifikationstatbestand ist § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aufgrund seines höheren Unrechtsgehalts nicht mehr nur ein Vergehen, sondern ein Verbrechen (vgl. Eisele in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 176a Rn. 1; Hecker in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 12 Rn. 2). Zwar gibt es bei der Bemessung der Jugendstrafe keine Bindung an die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts (vgl. § 105 JGG i.V.m. § 18 JGG), sie dürfen andererseits als Ausdruck gesetzlicher Bewertung des Tatunrechts aber auch nicht ganz außer Betracht bleiben (Sonnen in: Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 8. Aufl. 2020, § 18 Rn. 11). |
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| Der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch ist zudem ein europäisches Anliegen. Dies verdeutlicht beispielhaft die Richtlinie 2011/93/EU vom 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. L 335 vom 17.12.2011, S. 1 ff.). Dieser liegt u.a. die Erwägung zugrunde, dass sexueller Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern, einschließlich Kinderpornographie, schwere Verstöße insbesondere gegen die in Art. 24 GRCh festgelegten Rechte des Kindes auf Schutz und Fürsorge darstellen. Das Übereinkommen des Europarats vom 25.10.2007 zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch, das Deutschland ratifiziert hat (vgl. BGBl. II 2015, S. 26 ff.), verpflichtet die Vertragsparteien, u.a. den sexuellen Missbrauch eines Kindes unter Strafe zu stellen. Auch das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 (BGBl. 1992 II, S. 121, 990) - UN-Kinderrechtskonvention (KRK) -, welchem über Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Rang eines Bundesgesetzes zukommt, regelt in Art. 34 die Verpflichtung der Vertragsstaaten, das Kind vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs zu schützen. Zu diesem Zweck treffen die Vertragsstaaten insbesondere alle geeigneten innerstaatlichen, zweiseitigen und mehrseitigen Maßnahmen, um zu verhindern, dass Kinder a) zur Beteiligung an rechtswidrigen sexuellen Handlungen verleitet oder gezwungen werden, b) für die Prostitution oder andere rechtswidrige sexuelle Praktiken ausgebeutet werden, c) für pornographische Darbietungen und Darstellungen ausgebeutet werden. |
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| bb) Nach den Feststellungen der Jugendstrafkammer hatte der Kläger bereits beim ersten Gespräch mit M. erfahren, dass diese am 05.11.2003 geboren und damals daher noch 13 Jahre alt war. Die Beziehung zwischen beiden war zunächst von WhatsApp-Nachrichten und Treffen in der Innenstadt von R. geprägt. In Kenntnis nicht nur des Alters des Mädchens, sondern auch des Umstands, dass Geschlechtsverkehr mit ihr aufgrund ihres Alters verboten war, führte der Kläger ab August 2017 mit dem unreifen, sich seinen Wünschen fügenden Mädchen den Beischlaf durch. Das Alter des eine Werkrealschule besuchenden Mädchens war ihm ebenso gleichgültig wie Kontrazeption. Die Initiative zum Geschlechtsverkehr ging vom Kläger aus. Er bezweckte die Befriedigung seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse, derentwegen er sich auch über Verhütung hinwegsetzte und die Verantwortung hierfür auf M. schob, weil sie ihn nicht jedes Mal auf die Benutzung eines Kondoms hingewiesen habe. Der Geschlechtsverkehr, der über Monate hinweg praktiziert wurde, ereignete sich nicht in Situationen einer Enthemmung durch Alkohol oder Drogen. Der Kläger steuerte seinen Konsum so, dass er etwa im Beisein von M. nicht trank, und nutzte den Umstand aus, dass das Mädchen sich in ihn verliebt hatte. So unterblieb etwa die Nutzung eines Kondoms, weil es sich für ihn „nicht so gut anfühlte“; auch befriedigte M., obwohl sie das eigentlich nicht wollte, weil es ihr befremdlich war, den Kläger auf sein Verlangen hin mit dem Mund bis zum Samenerguss (siehe zu alldem auch Ermittlungsbericht des Polizeipräsidiums R. vom 17.01.2018 insbesondere unter 4 sowie Geschädigten-Vernehmungen durch die Polizei vom 29.11.2017 und 20.12.2017). |
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| Die Beziehung gestaltete sich so, dass der Kläger M. zunehmend für sich vereinnahmte und über ihr Leben entschied, indem er ihr den Kontakt zu ihrer bis dahin besten Freundin und anderen Jungen verbot und sie durch Kontrollanrufe überwachte. Wie aus den in den Strafakten enthaltenen Lichtbildern ersichtlich ist, war der Kläger, der 1,81 m groß ist (Gefangenenpersonalakte Bd. II, Personenbeschreibung vom 20.12.2017), dem Kind auch körperlich überlegen. Zwar wurde der Kläger während der Beziehung gegenüber M. nicht gewalttätig und fügte ihr - wie sein Abbruch des Versuchs von Analverkehr verdeutlicht - nicht bewusst Schmerzen zu (vgl. Geschädigten-Vernehmungen durch die Polizei vom 20.12.2017, S. 5 f.). Jedoch beschrieb M. ihn als eine Person, die schnell aggressiv werden könne, wenn man ihn reize. Zur Durchsetzung seines Willens gegenüber M. griff der Kläger vor allem zu den Mitteln des psychischen Drucks und der Manipulation. Dies betraf allgemeine, identitätsprägende Umstände, wie etwa die Wahl von Kleidung oder von Freunden, die er nicht mehr allein M. überlassen wollte, aber auch die Beziehung selbst. So ritzte er sich mit einer Rasierklinge in den Unterarm und drohte sich umzubringen, wenn sie ihn verließe, was sie zunächst veranlasste, bei ihm zu bleiben, weil sie wollte, dass ihm nichts passiere, und sich sogar selbst zu ritzen (vgl. insgesamt Strafurteil S. 9 unter II.; Geschädigten-Vernehmungen durch die Polizei vom 29.11.2017, S. 8 f.; Vernehmung der Mutter von M. durch die Polizei am 28.11.2017, S. 5). Der Kläger verstand sich als diejenige Person, die über M. bestimmte. Dies verdeutlicht auch sein Verhalten am 09. und 10.10.2017 im Zusammenhang mit der von M. initiierten Trennung. So drohte er, „ihr Leben kaputt zu machen“, wenn sie bei ihrem Entschluss bliebe, nicht mehr mit ihm zusammen zu sein, und versuchte sie unter Einsatz seiner körperlichen Kräfte gegen ihren Willen zu küssen. Dass der Kläger insoweit erfolglos blieb, war lediglich dem Umstand zu verdanken, dass sich beide Situationen im Bereich eines Zentralen Omnibusbahnhofs tagsüber ereigneten und am 09.10.2017 die Nachfrage einer Passantin und am 10.10.2017 die durch die Mutter von M. erfolgte Alarmierung der Polizei den Kläger veranlassten, M. gehen zu lassen. Wie wenig M. dem Kläger entgegenzusetzen hatte, verdeutlicht auch die Tatsache, dass es noch zu heimlichen Treffen der beiden bis Ende Oktober 2017 kam - u.a. war M. bei dem Diebstahl der Geldbörse durch den Kläger am 23.10.2017 in dessen Nähe -, obwohl sowohl der Bruder des Klägers als auch die Mutter von M. gefordert hatten, dass sich die beiden nicht mehr sehen sollten. |
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| Wie für den Kläger aufgrund des jedenfalls viermal ungeschützt bis zum Samenerguss durchgeführten vaginalen Geschlechtsverkehrs vorhersehbar war, kam es zu einer am 14.10.2017 in der sechsten Schwangerschaftswoche festgestellten Schwangerschaft (vgl. das Schreiben der M. behandelnden Frauenärztin vom 12.06.2018, Strafakten Bd. I, S. 420). Hierdurch geriet M. in die Situation, als Kind über den Fortbestand der Schwangerschaft entscheiden zu müssen. Die nach gemeinsamer Beratung mit dem Jugendamt, der Frauenärztin, einem Psychologen und ihrer Mutter getroffene Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch bedeutete für M. nicht nur eine psychische Belastung; vielmehr traten nach dem ambulant durchgeführten Eingriff physische Probleme auf, die im Nachgang eine Notoperation erforderlich machten. Dass die psychischen und physischen Folgen des Missbrauchs von M. bewältigt werden konnten, beruht auf der Hilfe Dritter. Der Kläger hat hieran keinen Anteil. |
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| Dem Kläger fehlte während des Ermittlungs- und Strafverfahrens jede Bereitschaft, sich zu einem eigenen Fehlverhalten zu bekennen und Empathie für M. als Opfer seiner strafrechtlichen Handlungen zu entwickeln. Er schob - durch ein dem jeweiligen Ermittlungsstand angepasstes Aussageverhalten - die Verantwortung für die sexuellen Kontakte auf M., sein Alkoholproblem und sein soziales Umfeld (vgl. Strafurteil, S. 11 ff. unter III. 2.) und sah sich vielmehr selbst als das Opfer an. Der Kläger negierte jegliche Schutzwürdigkeit von M. und bestritt seine Verantwortung für die Schwangerschaft, indem er sie als eine Person darstellte, die während der Beziehung mit ihm auch mit zwei weiteren Männern Geschlechtsverkehr gehabt habe (Beschuldigtenvernehmung vom 20.12.2017, S. 7; vgl. ferner seine Einlassung zu den Tatvorwürfen im forensisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 30.07.2018, S. 14 f.). Das Strafurteil bietet keinen Anhalt für ein derartiges Verhalten von M. Nach den Ermittlungen der Polizei trafen die Angaben des Klägers nicht zu. M. hatte vor dem Kläger noch keine sexuelle Beziehung und insbesondere keine weitere während ihres Zusammenseins mit ihm (siehe u.a. die polizeiliche Vernehmung der Geschädigten vom 20.12.2017, S. 4 f., 8 f. sowie die polizeilichen Zeugenvernehmungen der von dem Kläger genannten beiden Männer, mit denen M. etwas „gehabt habe“, ... A. vom 09.01.2018 und ... W. vom 11.01.2018). Seine Haltung gegenüber M. hat der Kläger im Übrigen bis heute nicht verändert (siehe hierzu unten e). |
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| c) Die am 11.02.2017 gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB begangene gefährliche Körperverletzung und die am 19.04.2017 verübte versuchte räuberische Erpressung (§§ 253, 255, 22, 23 StGB) lassen in der konkreten Art und Weise der Durchführung der Taten ein hohes Aggressionspotential erkennen. Gegenüber dem Strafgericht ließ sich der Kläger bezüglich dieser Taten dahingehend ein, er habe nichts gemacht bzw. - beim Vorfall am 19.04.2017 - eine halbe Flasche Wodka getrunken. Eine Übernahme von Verantwortung für seine Handlungen war im Strafverfahren auch insoweit nicht zu erkennen. Zwar verhinderte der Kläger bei dem Körperverletzungsdelikt letztlich einen noch größeren Schaden für das Opfer dadurch, dass er seinen Mittäter von einem weiteren Angriff zurückhielt, jedoch waren schon die zuvor gemeinschaftlich durchgeführten Faustschläge und - als das Opfer schon auf dem Boden lag - weiteren Tritte geeignet, erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Bei der Handlung vom 19.04.2017 ging es „nur“ um eine Zigarette und die Tat kam auch über das Versuchsstadium nicht hinaus; die erlebte Bedrohung durch den Kläger, der kein erkennbarer Anlass vorausging, verängstigte das Opfer, eine Jugendliche von 17 Jahren, die der Kläger vom Sehen kannte, jedoch nachhaltig über das eigentliche Tatgeschehen hinaus. Bei beiden Taten sah das Strafgericht eine alkoholbedingte Enthemmung. Dass ihm Regeln und Grenzen gleichgültig waren, verdeutlichen auch die Taten des versuchten Betrugs und die Diebstahlsdelikte. |
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| d) Das Landgericht ... hielt selbst für den Fall, dass der Kläger bei allen Taten bereits das 18. Lebensjahr vollendet hätte, in Anbetracht der bei ihm vorliegenden Entwicklungs- und Reifeverzögerung die Anwendung von Jugendstrafrecht für angezeigt. Es begründete die Verhängung der Jugendstrafe mit gravierenden schädlichen Neigungen und führte aus, dass mit Blick auf den sexuellen Missbrauch zudem die Schwere der Schuld die Verhängung einer Jugendstrafe gebiete. Das Strafgericht stellte dem Kläger für den Fall, dass es ihm nicht gelingt, die bei ihm bestehende Alkohol- und Drogenproblematik sowie sein defizitäres soziales Verhalten zu bearbeiten, das Einhalten von Regeln sowie die Übernahme von Verantwortung für seine Taten und sein Leben zu erlernen, eine schlechte Kriminalprognose aus (siehe hinsichtlich der Einzelheiten Strafurteil, S. 17 ff. unter V). |
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| e) Dem Kläger ist bis heute die Einsicht in sein strafrechtliches Verhalten und dessen Aufarbeitung nicht gelungen. Dies gilt vor allem für den schweren sexuellen Missbrauch. |
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| Ausweislich der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ... vom 11.03.2021 können seit Juli 2020 regelmäßige Gespräche (ca. alle drei Wochen) zur Tat- und Persönlichkeitsaufarbeitung mit dem Kläger geführt werden, da ab April 2020 bei ihm „ein Hauch von Einsicht in die Eigenverantwortung eigenen Handelns herauszuhören“ gewesen sei. Dabei handelt es sich bei diesen Gesprächen der Stellungnahme zufolge nicht um Therapiegespräche im eigentlichen Sinne, sondern es geht um die Schaffung einer Grundlage für künftige Therapiegespräche. Für eine Therapie nach der Entlassung sieht der Psychologische Dienst der Justizvollzugsanstalt eine gewisse Eigenmotivation, da der Kläger erkannt habe, dass er es nach der Entlassung aus dem Strafvollzug nicht leicht haben werde. |
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| Aus der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ... vom 11.03.2021 ist allerdings ersichtlich, dass dem Kläger unverändert eine selbstkritische Betrachtungsweise bezüglich der abgeurteilten Sexualstraftaten nicht möglich ist. Er gibt nach wie vor an, er habe erst zwei Monate nach Beginn der Beziehung erfahren, dass die Freundin 13 Jahre alt gewesen sei; das Opfer habe ihm eine runtergehauen, weil er es danach abgelehnt habe, mit ihr zusammen zu sein, da sie keine 15 Jahre alt sei. Die Negierung der Verantwortung für das Sexualdelikt zeigt sich zudem in seinen Angaben in der Berufungsverhandlung. So erklärte er, er habe nicht gewusst, dass es strafbar sei, Sex mit einer 13-jährigen zu haben. Außerdem habe M. ausgesehen wie eine 20-jährige. Sie habe vor ihm und auch während der Beziehung zu ihm noch andere Sexualpartner gehabt. Er habe Schluss mit M. gemacht und nicht sie mit ihm. Die Schwangerschaft sei nicht durch ihn entstanden. Ungeachtet dessen, dass die klägerische Darstellung der Sexualstraftat, die die Oberpsychologierätin der Justizvollzugsanstalt festgehalten hat, in den Einzelheiten von seinen Angaben in der Berufungsverhandlung abweicht, kommt jedoch übereinstimmend zum Ausdruck, dass er nach wie vor jegliche Schuld von sich weist. Dies wird nicht dadurch relativiert, dass der Kläger auf Frage des Senats meinte, in Afghanistan wäre ein Mann bestraft worden, hätte er eine der Schwestern des Klägers mit 13 Jahren unverheiratet geschwängert, und er finde das bei M. auch nicht gut. |
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| Ferner verdeutlicht die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 11.03.2021, dass der Kläger deutliche Defizite in der Wertebildung und im Regelverständnis aufweist, auf Lügen, Egoismus und „Besitzergreifen“ gesetzt hat und darauf, sich die Welt „zurechtzubiegen“. Dem Psychologischen Dienst zufolge gelingt es dem Kläger - mit Ausnahme der verurteilten Sexualstraftaten - teilweise einzuräumen, dass er aggressiv, unzufrieden und egoistisch gewesen sei, gestohlen oder etwas kaputt gemacht oder gelogen habe. Dass Externalisierung von Verantwortung aber immer noch ein fester Bestandteil der Vorgehensweise des Klägers ist, ergibt sich nicht nur aus dieser Stellungnahme, wonach der Kläger Alkoholisierung als Ursache von Taten ansieht, sondern zeigt sich zudem in seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat. |
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| Weshalb ihm - anders als mit der Jugendstrafe u.a. intendiert (Strafurteil, S. 20 unter V. 3.) - im Strafvollzug kein erfolgreicher Schulbesuch gelungen ist, erklärt der Kläger allein mit seiner Situation als Sexualstraftäter. Er trug in der Berufungsverhandlung vor, im Jugendstrafvollzug habe es Probleme mit anderen Gefangenen gegeben, weil er Sexualstraftäter sei, und deswegen habe es da mit der Schule nicht geklappt. Auch in der jetzigen Strafanstalt liege die Ursache, warum er die Schule nicht habe machen können, darin, dass er Sexualstraftäter sei und von den anderen deswegen schlecht behandelt werde. Dieser Vortrag blendet völlig aus, dass die Verantwortung für den nicht erreichten Hauptschulabschluss und insbesondere auch für den Abbruch des Jugendstrafvollzugs beim Kläger selbst liegt. Für Gegenteiliges enthält die umfangreiche Gefangenenpersonalakte keine Erkenntnisse. |
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| Der Kläger war im Jugendstrafvollzug vom 10.12.2018 bis 08.03.2019 der Schule (LPA) zugewiesen. Dieser Einstufung lag zugrunde, dass damals der Stand des Klägers in Mathematik dem 1./2. Schuljahr entsprach, der Stand in Deutsch hinsichtlich des Textverständnisses auf dem Niveau des 4. Schuljahres und im Übrigen Rechtsschreibung und Grammatik mangelhaft waren (Gefangenenpersonalakte Bd. I, S. 121). Der Kurs endete nicht deshalb, weil der Schulbesuch mit einer Gefährdung von einzelnen Teilnehmern verbunden gewesen wäre, sondern allein lehrerbedingt. Zum Besuch des Hauptschulkurses ab Juli 2019 kam es jedenfalls deshalb nicht mehr, weil der Kläger zuvor in eine Strafanstalt für Erwachsene verlegt wurde. Der Schulbesuch im Jugendstrafvollzug zeichnete sich durch ein manipulatives, grenzüberschreitendes Verhalten des Klägers aus. So fiel er im Unterricht im Rahmen eines Methodenspiels zur Erlernung der deutschen Sprache durch ein schriftlich fixiertes sexualisiertes Verhalten auf; damit konfrontiert leugnete er jedoch jegliche Verantwortung. Der Unterricht wurde von ihm als Kontaktbörse genutzt, in dem er ständig quatschte, Grenzen austestete, andere für sich in puncto Hausaufgaben arbeiten ließ und jüngere und psychisch auffällige Mitgefangene benutze, um sie z.B. zum Klauen von Tabak oder zu anderen Diensten zu veranlassen (so wörtlich Fortschreibung des Erziehungsplanes vom 15.04.2019, S. 1 ff.; siehe auch Stellungnahme der Sozialtherapeutischen Abteilung vom 24.05.2019 , wonach der Kläger durch fehlende Motivation, Leugnung und Fehlen von Verantwortungsübernahme - auch was die Schule betrifft - negativ auffiel). |
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| Im Erwachsenenvollzug wurde der Kläger zunächst in den Vorkurs Hauptschule eingeteilt. Ungeachtet der Tatsache, dass der Kläger keine ausreichenden Noten erzielte und seine Hausaufgaben nicht selbst erledigte, erklärte sich die Schule bereit, ihn erneut in den Kurs aufzunehmen, jedoch mit Probezeit zur Beobachtung seines Sozialverhaltens und eigener Hausaufgabenerstellung (Fortschreibung Vollzugsplan vom 25.02.2020, S. 1). Nach der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 11.03.2020 war bedingt durch Corona eine Weiterführung des Schulbesuchs erst am 07.10.2020 möglich, was der Kläger wegen Befürchtungen (nicht verifizierbar), als Sexualstraftäter Probleme mit Mitgefangenen zu bekommen, abgelehnt hat; auf Rückfrage wurde eine Wiedereingliederung wegen fehlendem Engagement auch von der Schule nicht befürwortet (siehe ferner Fortschreibung des Vollzugsplans vom 24.09.2020, S. 3). |
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| Zwar können in einer Vollzugsanstalt Übergriffe - und sogar in einer massiven Form - von anderen Inhaftierten gerade auf Sexualstraftäter vorkommen (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 02.03.2021 - 12 S 3587/20 -, juris Rn. 15 f.). In der Justizvollzugsanstalt, in der der Kläger inhaftiert ist, geschah solches am 03.11.2020 (Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 14.04.2021, S. 3). Abgesehen davon, dass gegen Übergriffe konsequent eingeschritten wird, ist nach der weiteren Auskunft der Anstaltsleitung der Justizvollzugsanstalt ... vom 14.04.2021 Sexualstraftätern eine Beschulung uneingeschränkt zugänglich; ggfs. besteht für Gefangene sogar die Möglichkeit einer Art „Homeschooling“ in der Zelle. Es hängt somit von dem Einzelnen ab, ob er die Möglichkeiten der Beschulung nutzt. |
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| Allein schon die zeitlichen Verortungen sprechen dafür, dass der Kläger vorkommende Übergriffe von Mitgefangenen auf (einen) Sexualstraftäter benutzt, um retroperspektiv ein Schulversagen nicht eingestehen zu müssen. Ausgehend davon, dass es ihm schon in einem persönlichen, strafrechtlich irrelevanten Bereich nach wie vor nicht gelingt, von einer Externalisierung Abstand zu nehmen, zeichnet sich auch hinsichtlich der Straftaten eine nachhaltige Verantwortungsübernahme nicht ab. Dass es hieran mangelt, verdeutlicht zudem sein Vorbringen auf Fragen zu seinen Straftaten und deren Ursachen. Soweit er sich zu seinen Straftaten in der Berufungsverhandlung verhalten hat, waren die Antworten oberflächlich, in dem er sich als damals jung, dumm und nicht reif darstellte sowie versicherte, er bereue dies und werde dies nie wieder in seinem Leben machen. Dies entspricht im Wesentlichen auch seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht etwa ein Jahr zuvor. Es lässt sich nicht erkennen, dass der Kläger die Haft genutzt hätte, um sich mit seiner eigenen Straffälligkeit und deren Ursachen adäquat auseinanderzusetzen. Auffällig ist außerdem, dass der Umgang des Klägers innerhalb der Haft vorwiegend mit jüngeren Mitgefangenen erfolgt (Fortschreibung des Erziehungsplans vom 15.04.2019, S. 1; Fortschreibung des Vollzugsplans vom 24.09.2020, S. 2 und vom 25.02.2020, S. 2) - und damit mit einem Personenkreis, der - letztlich ebenso wie sein Opfer der Sexualstraftat - tendenziell schwächer und leichter zu beeinflussen ist. |
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| f) Des Weiteren sind die Ursachen der Straffälligkeit unverändert vorhanden. |
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| Die beim Kläger indizierte Sozialtherapie konnte aufgrund seines eigenen Verhaltens nicht durchgeführt werden; der Aufenthalt in der sozialtherapeutischen Abteilung des Jugendstrafvollzugs musste abgebrochen werden. Aus den Ausführungen zur diagnostischen und prognostischen Einschätzung in der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 11.03.2021 wird deutlich, dass ausgehend von einer von Unzulänglichkeiten, Überforderung und Haltlosigkeit geprägten Biographie des Klägers eine dissoziale Entwicklung entstand, die von Unzufriedenheit, emotionaler Bedürftigkeit und Aggression getragen ist, die der Kläger jedoch über ein pseudoselbstbewusstes, auf Durchsetzung bedachtes Verhalten überspielte oder mit Suchtmittelkonsum verdrängte. Diese Persönlichkeitsstruktur ist nach wie vor gegeben. Aus Sicht der Vollzugsanstalt besteht keine vorrangig erhöhte Rückfallgefahr speziell für ein Sexualdelikt, jedoch eine erhöhte Rückfallgefahr für insgesamt aggressive Delikte, sofern der Kläger nicht über Anleitung und Kontrolle im Rahmen einer klaren Struktur verfügt. |
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| Dass bei dem Kläger keine pädophilen Neigungen bestehen, hat schon das Strafverfahren gezeigt. Allerdings sieht der Senat vor dem Hintergrund der nicht aufgearbeiteten Straftaten und der nicht durchgeführten psychotherapeutischen Behandlung sowie der Alkoholproblematik und eines seit dem 13. Lebensjahr praktizierten Konsums von vorwiegend Haschisch und Marihuana (allerdings hier in Deutschland auch gelegentlich Ecstasy oder Kokain ) die sehr ernstzunehmende Gefahr, dass der Kläger in frühere Verhaltensmuster mit damit einhergehender Delinquenz zurückfällt. Dies bedeutet nicht nur, dass sich Körperverletzungsdelikte oder andere Delikte, denen Aggressionen innewohnen können (wie Nötigung, räuberische Erpressung) wiederholen, sondern schließt es ein, dass er zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse eine unreife, von ihm manipulierbare Minderjährige benutzt oder sexuelle Verhaltensweisen an den Tag legt, die von Aggressionen begleitet sein können. Zwar sieht der Senat, dass der Kläger nach einem zunächst sehr auffälligen Verlauf der Inhaftierung, bei dem es immer wieder auch zu disziplinarischen Maßnahmen gekommen ist (vgl. die zusammenfassende Darstellung des Vollzugsverlaufs in der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ... vom 11.03.2021), seit Februar 2020 einen beanstandungsfreien Vollzug aufweist und sich sein Verhalten gegenüber Bediensteten ebenfalls gebessert hat. Abgesehen davon, dass die Akzeptanz von Regeln im Vollzug eine Selbstverständlichkeit ist, ist daraus nicht zu schließen, dass es dem Kläger unter den Bedingungen der Freiheit gelingt, sich nunmehr und insbesondere in von ihm als schwierig empfundenen Situationen an Regeln zu halten. |
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| g) Die vom Kläger ausgehende Rückfallgefahr verdeutlicht auch der Beschluss des Amtsgerichts ... vom 29.03.2021 - 6 VRJs 178/19 -. Nach diesem Beschluss hat das Vollstreckungsgericht keine Gründe gesehen, die für ein Entfallen der kraft Gesetzes nach § 68f Abs.1 StGB eintretenden Führungsaufsicht sprechen (vgl. zur Verfassungsmäßigkeit des Eintritts der Führungsaufsicht nach § 68f Abs.1 StGB nach Verbüßung einer Einheitsjugendstrafe BVerfG, Beschluss vom 26.02.2008 - 2 BvR 2143/07 -, juris Rn. 5 ff.; Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 68f Rn. 4a). Das Amtsgericht ist zur Überzeugung gelangt, es könne aufgrund der Einstellung des Klägers, der Vollzugserfahrung und seiner Persönlichkeit nicht erwartet werden, dass er auch ohne Führungsaufsicht in Zukunft keine Straftaten mehr begehen werde. Sowohl die Justizvollzugsanstalt ... als auch die GZS KURS hatten sich zuvor dagegen ausgesprochen, dass die Führungsaufsicht entfällt. Bei der GZS KURS handelt es sich um die Gemeinsame Zentralstelle beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg gemäß Ziffer 3 der Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums, des Justizministeriums und des Sozialministeriums zu einer ressortübergreifenden Konzeption zum Umgang mit besonders rückfallgefährdeten Sexualstraftäterinnen und Sexualstraftätern (VwV KURS) vom 13.10.2020 - Az.: 3-1211.2/313 - (GABl. 2020, 749). |
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| Dieser Beschluss stellt dem Kläger für die Dauer der dreijährigen Führungsaufsicht nicht nur einen hauptamtlichen Bewährungshelfer zur Seite, sondern enthält zusätzlich flankierende Weisungen nach § 68b Abs. 1 StGB, die strafbewehrt sind, sowie nicht strafbewerte Weisungen nach § 68b Abs. 2 StGB. Zu nennen sind u.a. das Verbot des Konsums illegaler Drogen aller Art und von Alkohol, Maßnahmen zur Kontrolle der Abstinenz, die Wahrnehmung von Terminen bei der Suchtberatung sowie die Anweisung zur Vorstellung bei einer forensischen Ambulanz mit dem Ziel einer psychotherapeutischen Behandlung. Dass auch das Vollstreckungsgericht eine relevante Rückfallwahrscheinlichkeit für ein einschlägiges Sexualdelikt sieht, verdeutlichen die verschiedenen Verbote zum Kontakt im weiteren Sinne mit weiblichen Kindern unter 14 Jahren (im Einzelnen Ziffer 4 e. bis g. des Beschlusses). Die Schlüssigkeit dieser Umgangsverbote wird nicht dadurch infrage gestellt, dass der Kläger gleichzeitig angewiesen wird, nach seiner Entlassung Wohnung bei seinem Bruder zu nehmen (Ziffer 3 des amtsgerichtlichen Beschlusses), in dessen Haushalt auch Töchter leben, denn es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sexuelle Aktivitäten des Klägers innerhalb der eigenen Familie stattfinden könnten. Als weitere Präventionsmaßnahme ist zudem der regelmäßige Kontakt zwischen dem Kläger und dem für seinen Wohnort polizeilich zuständigen Fachkoordinator KURS angeordnet (im Einzelnen Ziffer 4 c. des Beschlusses). Den für den Wohnort zuständigen Polizeidienststellen obliegt u.a. die Festlegung und Koordinierung der gefahrenabwehrrechtlichen Maßnahmen bei Risikoprobanden (Ziffer 5.8. VwV KURS). |
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| h) Es gibt im Leben des Klägers bislang auch keine Faktoren, aus denen geschlossen werden könnte, sie wären verlässlich geeignet, dem nach der Persönlichkeit des Klägers bestehenden Rückfallrisiko entgegenzuwirken. Der Senat sieht in der vom Kläger beschriebenen derzeitigen Beziehung zu einer 26 Jahre alten Frau aufgrund der ihr immanenten Ungewissheiten und der nicht realitätsnahen Erwartungen keinen Umstand, der sich prognostisch zu seinen Gunsten auswirkt. Nach den Angaben des Klägers in der Berufungsverhandlung handelt es sich bei dieser Frau um eine Strafgefangene in der Schweiz, die sich in einem Vollzugsmodell befindet, welches ihr erlaubt, über das Wochenende nach Hause zu gehen, und die der Kläger über eine Kontaktanzeige in einer im Gefängnis verfügbaren Zeitung kennengelernt hat. Der Kontakt erfolgt bisher brieflich und per Telefon. Der Kläger erklärte, die Frau wisse, dass er im Gefängnis sitze und warum, weshalb sie im Gefängnis sei, wisse er bislang nicht; er habe nicht gefragt. Es sei für sie beide okay, dass er etwas jünger sei. Sie seien am Überlegen, ob er in die Schweiz komme, um sich besser kennenzulernen und zu heiraten; wenn das nicht gehe, komme sie eventuell nach Deutschland. |
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| Es ist ferner nicht zu erwarten, dass vom Bruder des Klägers entscheidende Impulse für eine künftige Straffreiheit kämen. So hat sich der Kläger bereits vor seiner Inhaftierung „nichts von seinem Bruder sagen lassen“; während der Inhaftierung hat es ausweislich der Besuchsliste kaum Besuche des Bruders in der Haftanstalt gegeben. Im Übrigen ergibt sich aus der Ausländerakte des Bruders, dass dieser nach den Feststellungen bei einer polizeilichen Verkehrskontrolle am 25.04.2018 um 11.30 Uhr unter Drogeneinfluss (THC) seinen Pkw führte. Außerdem weist die Auskunft aus dem Zentralregister vom 17.04.2019 eine Verurteilung vom 17.12.2018 wegen Betrugs in drei Fällen zu einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je 20 Euro aus. Dem Strafbefehl lag zugrunde, dass er eine geringfügige Beschäftigung bei einem Pizza Service aufgenommen hatte, ohne seine Einkünfte dem Jobcenter mitzuteilen. Die uneingeschränkte Eignung des Bruders, den Kläger zu einer straffreien Lebensführung anzuleiten, liegt daher keineswegs auf der Hand. |
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| Des Weiteren ist nicht ersichtlich, dass der Kläger sich von seinem früheren sozialen Umfeld losgesagt hätte, welches die Begehung von Straftaten insbesondere aufgrund gemeinsamen Alkohol- und Drogenkonsums begünstigt hat. So haben ihn afghanische Freunde aus diesem Kreis in der Vollzugsanstalt besucht. |
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| Der Kläger hat keinen Hauptschulabschluss erlangt oder eine sonstige Qualifikation erreicht, die nunmehr Ausgangspunkt für einen strukturierten Alltag sein könnte. Er hat zwar in der Berufungsverhandlung angegeben, dass er eine Umschulung zur Fachkraft für Lagerlogistik machen wolle, was der Sozialarbeiter mit dem Arbeitsamt organisiert habe, und parallel abends den Hauptschulabschluss erreichen wolle. Das Bemühen um einen Schul-, Ausbildungs- oder Arbeitsplatz gehört zu den Weisungen, die dem Kläger im Rahmen der Führungsaufsicht erteilt worden sind (vgl. Ziffer 4 h des Beschlusses des Amtsgerichts ... vom 29.03.2021). Auch für eine Therapie ist er seinen Angaben zufolge motiviert. Nach den Erkenntnissen, die sich aus den Gefangenenpersonalkaten ergeben, und insbesondere nach dem persönlichen Eindruck, den der Senat vom ihm während der Verhandlung gewonnen hat, ist der Kläger bislang nicht in einer Weise nachgereift oder durch die Haft geprägt, dass verlässlich damit zu rechnen wäre, seinen Bekundungen würden aus eigenem Antrieb die entsprechenden positiven Taten folgen. Die Aktivitäten, die der Kläger nunmehr realisieren möchte, erfordern eine Disziplin, die er bisher nicht gezeigt hat, weshalb es der Senat für nicht wahrscheinlich hält, dass er ein solches Pensum bewältigt. |
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| 3) Der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegende Folgeantrag führt dazu, dass die Ausweisung den Vorgaben des § 53 Abs. 4 AufenthG genügen muss. |
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| Gemäß § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Nach § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG wird von der Bedingung abgesehen, wenn (1.) ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3 eine Ausweisung rechtfertigt oder (2.) nach Nr. 2 eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist. |
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| Das Regierungspräsidium hat § 53 Abs. 4 AufenthG dem Erlass der angefochtenen Verfügung vom 18.06.2019 zugrunde gelegt. Die gerichtliche Prüfung der Ausweisungsverfügung anhand dieses Maßstabs ist nicht deshalb entbehrlich geworden, weil der Bescheid des Bundesamts vom 21.09.2017 im Laufe des Berufungsverfahrens unanfechtbar und damit das Asylverfahren ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes abgeschlossen worden ist. Denn der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats vorliegende Folgeantrag vom 17.03.2021 unterfällt ebenfalls dieser Regelung. |
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| Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt (§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG). |
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| Soweit Regelungen des Aufenthaltsgesetzes an einen „Asylantrag“ anknüpfen, können diese auch den Folgeantrag erfassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.07.2016 - 1 C 23.15 -, juris Rn. 12 ff. - zu § 10 Abs. 1 AufenthG; Senatsbeschluss vom 26.03.2019 - 12 S 502/19 -, juris Rn. 9 ff. - zu § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 AufenthG). Ob der Folgeantrag ein Asylantrag im Sinne des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ist, bestimmt sich nach allgemeinen Auslegungskriterien. Hiervon ausgehend wird auch der Folgeantrag als Asylantrag im Sinne des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG angesehen (Neidhardt, HTK-AuslR / § 53 AufenthG / Abs. 4 Rn. 4 ; für die entsprechenden Vorgängerregelungen: VG Augsburg, Urteil vom 19.09.2006 - Au 1 K 06.346 -, juris Rn. 26 § 56 Abs. 4 AufenthG in der bis 31.12.2015 geltenden Fassung> sowie VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.01.2002 - 10 S 777/01 -, juris Rn. 33 ; Bayerischer VGH, Beschluss vom 18.07.1994 - 11 CS 94.1887 -, InfAuslR 1994, 346; VG Gießen, Urteil vom 30.03. 2000 - 7 E 290/96 -, juris Rn. 2, 17; wohl auch VG Ansbach, Beschluss vom 25.05.1994 - AN 17 S 94.37623 -, juris ; GK-AuslR, § 48 Rn. 117 f. ; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, § 40 Rn. 328 § 48 Abs. 3 AuslG in der ab 01.07.1992 geltenden Fassung>; anderer Ansicht Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 311 , demzufolge § 53 Abs. 4 AufenthG auf einen Erstantrag zugeschnitten sei). |
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| aa) Aus dem systematischen Verhältnis zwischen § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG und § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG lässt sich nicht schließen, der Folgeantrag unterfalle generell nicht § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Bei einem Folgeantrag liegt - im Fall des insgesamt unanfechtbar negativ abgelehnten ersten Schutzbegehrens (§ 13 Abs. 2, § 24 Abs. 2 AsylG) - bereits eine vollziehbare Abschiebungsandrohung vor. Dieses Verhältnis ist aber nicht die Konstellation, die § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG regelt. Nach dieser Norm kommt es darauf an, ob eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vor dem unanfechtbaren Abschluss des jeweiligen Asylverfahrens vollziehbar „geworden ist“. Erfasst wird damit beispielsweise nach §§ 30, 36 AsylG die - im Eilverfahren gerichtlich bestätigte - Abschiebungsandrohung wegen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 17.02.2021 - 2 LC 311/20 -, juris Rn. 83; Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 251 ; Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 141 ff.). Führt ein Folgeantrag nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, so bedarf es nach § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG zum Vollzug der Abschiebung keiner erneuten Fristsetzung und Abschiebungsandrohung oder -anordnung. Daraus folgt indes nicht zwingend, die Vorschrift des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG wäre nur auf den Erstantrag zugeschnitten, weil andernfalls bei einem unzulässigen Folgeantrag, dem keine Abschiebungsandrohung beigegeben wird, mangels Eingreifens von § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ein weitergehendes Schutzniveau gegeben wäre als bei einem Erstantrag (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 311 ). Abgesehen davon, dass im Fall des § 71 Abs. 5 Satz 1 AufenthG der Erlass einer Abschiebungsandrohung zwar nicht vorgeschrieben, rechtlich allerdings auch nicht verwehrt ist und im Lichte des Unionsrechts ggfs. sogar geboten sein kann (vgl. näher Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 315 ff. ), lässt sich § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG jedenfalls sinngemäß anwenden für die Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AufenthG oder auf den die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ablehnenden Bescheid (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 311 ). |
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| bb) Zwar ist mit der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Erst- und Folgeantrag im nationalen Recht eine Schlechterstellung des Folgeantragstellers hinsichtlich des Aufenthaltsstatus und der Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung intendiert, insbesondere indem Regelungen zum Asylverfahren nach dem Asylgesetz nicht oder nur modifiziert Anwendung finden (näher Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 103 ff. ). Auch die Richtlinie 2013/32/EU vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes - Verfahrensrichtlinie - (ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 60) sieht nach Art. 40 ff. eine besondere Struktur für die Prüfung von Folgeanträgen vor (vgl. hierzu etwa Schlussanträge des Generalanwalts vom 11.02.2021 - C-921/19 - LH -, juris Rn. 32 ff.). Jeder Folgeantrag ist jedoch ein (weiterer) Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 13 AsylG (Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 103 ; siehe auch die Definition in Art. 2 lit. q Richtlinie 2013/32/EU). In Konsequenz dessen gilt, dass auf einen zulässigen Folgeantrag hin ein Drittstaatsangehöriger internationalen Schutz erhält, wenn bei ihm die vom Unionsrecht für die Erlangung des Status der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes aufgestellten Anforderungen (vgl. Kapitel II ff. Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikations- oder Anerkennungsrichtlinie - ) vorliegen. |
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| cc) § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Asylsuchender gegenüber anderen Ausländern nur für den Fall schutzwürdiger ist, dass er tatsächlich die Voraussetzungen für den internationalen Schutz erfüllt, weshalb die Ausweisung greift, wenn sein Schutzbegehren unanfechtbar erfolglos bleibt. Gewährleistet wird dies dadurch, dass der Beginn der (inneren) Wirksamkeit der Ausweisung durch den Nichteintritt des Ereignisses der Anerkennung als Asylberechtigter, der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Zuerkennung des internationalen Schutzes bedingt ist. Mit dieser Konstruktion wird vermieden, dass ungeachtet eines laufenden Verfahrens beim Bundesamt durch die Ausweisung eine Ausreisepflicht nach dem Aufenthaltsgesetz entsteht. Des Weiteren erfolgt die Bedingung mit Rücksicht auf den besonderen Ausweisungsschutz und den Anspruch auf Titelerteilung, den Drittstaatsangehörige haben, wenn ihnen ein internationaler Schutzstatus zuerkannt wird (vgl. § 25 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 24 Richtlinie 2011/95/EU). Der aufschiebenden Bedingung während eines laufenden Verfahrens nach dem Asylgesetz bedarf es daher nicht in einer Konstellation, in dem die Ausweisung auch dann zulässig wäre, wenn bereits eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorläge (vgl. § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG sowie unten 4) oder eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist (53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG), womit umschrieben ist, dass das Schutzbegehren eindeutig keine Aussicht auf Erfolg hat und daher - auch als Ergebnis des ggfs. durchgeführten vorläufigen Rechtsschutzverfahrens - die Vollstreckung der Ausreisepflicht schon vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung des Bundesamts zulässig ist. Mit Blick auf die genannten Zwecke macht es keinen Unterschied, ob ein Erst- oder ein Folgeantrag vorliegt. |
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| dd) Ob auf einen Asylantrag oder einen Folgeantrag hin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes erfolgt oder ggfs. ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG festgestellt wird, ist allein der Kompetenz des Bundesamts überantwortet - mit den sich dann ggfs. aus § 6 Satz 1 AsylG, § 24 Abs. 2 i.V.m. § 42 AsylG ergebenden Bindungswirkungen in positiver oder negativer Hinsicht. Die Einbeziehung auch des Folgeantrags in § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG entspricht den gesetzlich normierten Zuständigkeiten und Abgrenzungen der Prüfungsinhalte zwischen einem Asylverfahren einerseits und einem Ausweisungsverfahren andererseits, mit denen auch sichergestellt wird, dass widersprüchliche Bewertungen und Ergebnisse verschiedener Behörden insbesondere bezogen auf den Herkunftsstaat vermieden werden. |
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| ee) Ein Verständnis des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG dahingehend, dass der Folgeantrag erfasst wird, gewährleistet außerdem, dass der Ausländer nicht den Weg des Wiederaufgreifens des Verfahrens (§ 51 Abs. 1 VwVfG) beschreiten muss, wenn der noch während des Ausweisungsverfahrens gestellte Folgeantrag nach Eintritt der Bestandskraft der Ausweisung zu einem Schutzstatus führt. § 25 Abs. 1 Satz 2 AufenthG und § 25 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, nach welchen einem Asylberechtigten oder einem Ausländer, dem vom Bundesamt ein internationaler Schutzstatus zuerkannt worden ist, keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, wenn er aufgrund eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 AufenthG ausgewiesen worden ist, sehen eine aufenthaltsrechtliche Sperrwirkung vor, die jedenfalls nach dem Wortlaut über die Wirkungen der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG geregelten Titelerteilungssperre hinausgeht. Ob diese auch nach Maßgabe des § 11 Abs. 4 AufenthG aufgehoben werden könnte, ist zumindest nicht eindeutig zugunsten des Betroffenen zu beantworten (dies wohl bejahend Röcker in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 25 Rn. 20; dies - in Auseinandersetzung mit BVerwG, Urteil vom 06.03.2014 <- 1 C 2.13 -, juris Rn. 10 - zu § 25 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F.> - verneinend Wittmann in: GK-AufenthG, § 25 Rn. 52 ). |
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| ff) Auch die Entstehungsgeschichte der Norm kann als Argument für die Erfassung des Folgeantrags in § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG herangezogen werden. |
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| Mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung 27.07.2015 (BGBl. I S. 1386) kam - auf Vorschlag des Innenausschusses (BT-Drs. 18/5420 vom 01.07.2015, S. 15, 27) - die jetzige Fassung des § 53 Abs. 4 in das Aufenthaltsgesetz. Diese entspricht dem bisherigen Normtext in § 56 Abs. 4 in der bis 31.12.2015 geltenden Fassung. Damit wurde die zunächst bestehende Absicht nach dem Gesetzentwurf, die Stellung eines Asylantrags in § 55 AufenthG als besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse zu bewerten, nicht verwirklicht. § 56 Abs. 4 AufenthG - ursprünglich in der Fassung des Zuwanderungsgesetzes (BGBl. 2004 I S. 1950) - griff die vor dem 01.01.2005 geltende Regelung des § 48 Abs. 3 AuslG auf und ergänzt ihren Anwendungsbereich um die Ausländer, deren Asylverfahren unanfechtbar ohne die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs.1 abgeschlossen wurde (siehe die Begründung des Gesetzesentwurfs BT-Drs. 15/420, S. 91). |
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| § 48 Abs. 3 AuslG lautete ab dem 01.07.1992 und bis 31.12.2004 dahingehend, dass ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nur unter der Bedingung ausgewiesen werden kann, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn (1.) ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 1 eine Ausweisung rechtfertigt, oder (2.) eine nach den Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist. Begründet wurde dies mit folgender Überlegung (Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens, BT-Dr. 12/2062 vom 12.02.1992, S. 43): |
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| „Die Vorschrift enthält notwendige Folgeänderungen aus der Neuregelung des Asylverfahrensrechts. § 48 Abs. 3 AuslG regelt die Ausweisung von Asylbewerbern. Nach seiner bisherigen Fassung gilt er nur für die Asylbewerber, die einen beachtlichen Asylantrag gestellt haben, während für Ausländer, die einen unbeachtlichen Asylantrag gestellt haben, uneingeschränkt dieselben Vorschriften gelten wie für Ausländer, die keinen Asylantrag gestellt haben. Da nach dem neuen Asylverfahrensrecht die Unbeachtlichkeitsprüfung dem Bundesamt und nicht mehr der Ausländerbehörde obliegt, kann diese vor der Entscheidung des Bundesamtes nicht mehr zwischen beachtlichen und unbeachtlichen Asylanträgen unterscheiden. Deshalb muss im § 48 Abs. 3 AuslG auf diese Differenzierung verzichtet werden. Dementsprechend werden in § 48 Abs. 3 Satz 1 AuslG durch die Streichung des Wortes „beachtlichen" die unbeachtlichen mit den beachtlichen Asylanträgen und durch die Neufassung des § 48 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AuslG die als unbeachtlich abgelehnten den als offensichtlich unbegründet abgelehnten Asylanträgen gleichgestellt.“ |
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| Auf die Frage, ob ein Asylantrag eine bestimmte Qualität aufweisen bzw. eine bestimmte Hürde genommen haben musste, kam es für den Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 3 AuslG in der Fassung vom 01.07.1992 nicht mehr an (vgl. zur früheren Begrenzung der Geltung des Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 3 AuslG a.F. auf beachtliche Asylanträge das Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26.06.1992 sowie die Begründung hierfür im Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drs. 11/6321 vom 27.01.1990, S. 74). |
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| gg) Der hier vorliegende Folgeantrag ohne vorherige Ausreise führt nach nationalem Recht nur zur vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung kraft Gesetzes nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG und löst - bis zur Einleitung eines weiteren Asylverfahrens durch das Bundesamt - die Aufenthaltsgestattung des § 55 Abs. 1 AsylG nicht aus (vgl. etwa OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.11.2019 - 13 ME 331/19 -, juris Rn. 14; Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 144 ff. ; siehe aber für den zwischenzeitlich ausgereisten Folgeantragsteller § 71 Abs. 2 Satz 2 AsylG i.V.m. § 55 AsylG). |
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| Soweit angenommen wird, § 53 Abs. 4 AufenthG gelte erst dann für den Folgeantragsteller, wenn nach Maßgabe des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ein weiteres Asylverfahren durchgeführt wird (Hailbronner, AuslR, § 53 AufenthG Rn. 246 ; Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 135; wohl auch Hocks in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 19 Rn. 758, der erst den gestatteten Aufenthalt des Asylsuchenden als besonders geschützt ansieht), ist dies kein geeignetes Abgrenzungskriterium, weil die Entscheidung des Bundesamts zur Durchführung eines neuen Asylverfahrens nicht gesondert getroffen und verlautbart werden muss (vgl. Bergmann in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 71 AsylG Rn. 14, 42), weshalb der genaue Zeitpunkt des Übergangs nicht in allen Fällen zweifelsfrei bestimmt werden kann. Im Übrigen kommt es ausgehend vom Zweck des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auf die Frage, ob der Aufenthalt des Folgeantragstellers geduldet oder gestattet ist, letztlich nicht an. Unabhängig davon ist auch bei einem nicht ausgereisten Folgeantragsteller nach Art. 9 Richtlinie 2013/32/EU zunächst ein Recht auf Verbleib im Bundesgebiet anzunehmen (vgl. näher Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 154 ff. ). |
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| hh) Der Einbeziehung des Folgeantragstellers in den Schutz des § 53 Abs. 4 AufenthG lässt sich nicht entgegenhalten, damit bestehe die Gefahr, dass eine Ausweisung durch die Stellung eines Folgeantrags unterlaufen werden könne, weshalb eine restriktive Auslegung der Norm geboten sei. Abgesehen davon, dass selbst die nachträgliche Stellung eines ersten Asylantrags Auswirkungen auf das Ausweisungsverfahren hat, kann auch noch in einem bereits anhängigen Klageverfahren der veränderten Sachlage (Asylantrag des Ausländers) etwa durch Hinzufügung der in § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vorgesehenen Bedingung durch die Behörde Rechnung getragen werden; trotz des Wortes „kann“ handelt es sich nicht um eine Ermessensbestimmung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.05.2007 - 13 S 152/07 -, juris Rn. 4 ff.; Bauer in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 53 Rn. 102). Im Übrigen kann durch eine ordnungsgemäße Umsetzung der zwingenden und fakultativen Bestimmungen der Richtlinie 2013/32/EU zum Folgeantrag (vgl. zu den Anforderungen an die Umsetzung etwa Schlussanträge des Generalanwalts vom 15.04.2021 - C-18/20 -, juris Rn. 64 ff., 88 ff., insb. 109) - wie etwa zu den Ausnahmen vom Recht auf Verbleib im Mitgliedstaat während des Verwaltungsverfahrens nach Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 41 Richtlinie 2013/32/EU (siehe hierzu Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 154.1 ) - dafür Sorge getragen werden, dass Folgeanträge nicht zum Zwecke der Verzögerung eingesetzt werden können. |
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| Das Bundesamt hat auf den Folgeantrag hin mit Bescheid vom 25.03.2021 unter Heranziehung von § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG entschieden, dass der Asylantrag unzulässig ist. Es fehle an der nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG erforderlichen Änderung der Sachlage (siehe im Einzelnen Bescheid S. 3 f.). Dem Bescheid zufolge (S. 7) bedarf es gemäß § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG keiner erneuten Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung, da die erlassene Abschiebungsandrohung weiter gültig und vollziehbar ist. |
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| Gegen den am 30.03.2021 zugestellten Bescheid hat der Kläger mit Schrift-sätzen vom 06.04.2021 Klage erhoben und einen Eilantrag gestellt, mit dem er beantragt, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Afghanistan vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Klageverfahren nicht erfolgen darf. Über das Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz ist in dem für die Ausweisung maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats nicht entschieden. |
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| Ungeachtet der Frage, ob der Eilantrag noch sachdienlich auszulegen wäre, ist jedenfalls der Verbleib des Klägers im Bundesgebiet unionsrechtlich bis zur Entscheidung über das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gesichert, weshalb zumindest derzeit kein Fall des § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG vorliegt. Zwar ist diese Regelung eine rein nationale, dies entbindet aber nicht von der Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben für asylrechtliche Sachverhalte, an die § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG anknüpft. |
|
| Bei der hier der Sache nach vorliegenden Entscheidung des Bundesamts nach Art. 33 Abs. 2 lit. d) Richtlinie 2013/32/EU, wonach die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, sieht Art. 46 Abs. 6 lit. b) i.V.m. Abs. 8 dieser Richtlinie vor, dass der Antragsteller bis zum Abschluss des - hier von ihm in Gang gesetzten - vorläufigen Rechtsschutzverfahrens gegen die Entscheidung der Asylbehörde im Mitgliedsstaat verbleiben darf. Ob sich der Antragsteller über die Beendigung des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes hinaus bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens im Mitgliedstaat aufhalten darf, bestimmt sich hingegen nach der in jenem Eilverfahren getroffenen Entscheidung (Senatsbeschluss vom 26.10.2020 - 12 S 2380/20 -, juris Rn. 13 und unter Hinweis u.a. auf Vedsted-Hansen in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2nd. Ed., 2016, Part D IV, Art. 46 Rn. 4 - zu Art. 46 Abs. 6 und Abs. 8 Richtlinie 2013/32/EU). Vom Vorhandensein einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung aus dem ersten Asylverfahren darf daher jedenfalls so lange nicht ausgegangen werden, wie das gerichtliche Eilverfahren nicht zu Lasten des Folgeantragstellers entschieden ist. Erst danach könnten die Überlegungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in seinem Urteil vom 15.02.2016 (C- 601/15 PPU -, juris Rn. 75) greifen, wonach jedenfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115/EG vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger - Rückführungsrichtlinie - (ABl. 2008 L 348, S. 98) verlangt, dass ein nach dieser Richtlinie eingeleitetes Verfahren, in dessen Rahmen eine Rückkehrentscheidung, gegebenenfalls einhergehend mit einem Einreiseverbot, ergangen ist, in dem Stadium, in dem es wegen der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz unterbrochen wurde, wieder aufgenommen werden kann, sobald dieser Antrag erstinstanzlich abgelehnt wurde; die Mitgliedstaaten dürfen nämlich die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels, das darin besteht, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zu schaffen, nicht beeinträchtigen (vgl. hierzu auch Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 315.3 ). |
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| c) Der Beifügung einer Bedingung nach § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bedarf es aber deshalb nicht, weil nach § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt (nachfolgend 4). Soweit im Gesetzestext Absatz 3 in Bezug genommen wird, handelt es sich um ein Redaktionsversehen. |
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| aa) Mit dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 ist der einheitliche Maßstab in § 53 Abs. 3 AufenthG für die Ausweisung von Asylberechtigten, Konventionsflüchtlingen, assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen und Inhabern einer Daueraufenthaltserlaubnis-EU, der eine vom Ausländer ausgehende gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung fordert, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist, durch differenzierte Regelungen ersetzt worden. § 53 Abs. 3 AufenthG betrifft nur noch den Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU besitzt. § 53 Abs. 3a AufenthG regelt nunmehr die Ausweisung eines Ausländers, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt. § 53 Abs. 3b AufenthG gilt für einen Ausländer, der die Rechtsstellung eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG genießt. § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG wurde nicht verändert; Überlegungen des Gesetzgebers hierzu lassen sich dem Gesetzgebungsvorgang nicht entnehmen (vgl. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht BT-Drs.19/10047 vom 10.05.2019, S. 12 f., 34 f. ; BR-Drs. 179/19 vom 18.04.2019, S. 5; 31 f. zu Nr. 10; BT-Drs. 19/10506 vom 29.05.2019 ). Aus dem Protokoll der Anhörung im Innenausschuss (57. Sitzung vom 03.06.2019, Protokoll-Nr. 19/57) ergeben sich ebenfalls keine Hinweise darauf, dass § 53 Abs. 4 AufenthG angesprochen worden wäre. |
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| bb) Mit dem Argument, aus der Entstehungsgeschichte des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht lasse sich kein Anhaltspunkt dafür erkennen, der Gesetzgeber habe in § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG versehentlich die Verweisung auf Absatz 3 beibehalten, wird der Maßstab des Absatzes 3 als nach wie vor relevante gesetzgeberische Entscheidung betrachtet, und ein Grund für die Beschränkung des Asylantragstellers auf den Maßstab des Absatzes 3 darin gesehen, dass mit der Einreichung eines Asylantrags regelmäßig noch unklar sei, ob der vorgebrachte Schutzgrund eine Flüchtlingsanerkennung oder subsidiäre Schutzberechtigung zu begründen geeignet sei (siehe näher Hailbronner, AuslR, § 53 AufenthG Rn. 248 f. ; ebenso den Verweis auf Absatz 3 annehmend Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 139 f.; wohl auch Bayerischer VGH, Beschluss vom 13.01.2020 - 10 ZB 19.1599 -, juris Rn. 13; VG Saarland, Beschluss vom 28.01.2021 - 6 K 1038/19 - n.v. 2 D 51/21 -, juris Rn. 9, 12>). |
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| cc) Allerdings hat der Gesetzgeber seit Jahrzehnten ein Regelungsregime vorgesehen, nach dem für die unbedingte Ausweisung eines Asylantragstellers die Maßstäbe gelten, die für die Ausweisung eines Asylberechtigten bzw. - im Zuge der Europäisierung des Asylrechts - eines anerkannten Flüchtlings zu beachten sind. Die Ausweisung eines Asylantragstellers kam schon unter der Geltung von §§ 10, 11 AuslG 1965 in Betracht. Da seine Rechtsstellung nicht über die eines anerkannten Asylberechtigten hinausgehen kann, war eine Ausweisung aus den Erwägungen heraus möglich, die auch für eine Ausweisung von Asylberechtigten griffen (vgl. BVerwG, Urteile vom 19.05.1981 - 1 C 169.79 -, juris Rn. 13 ff., und - 1 C 227/79 -, juris Rn. 12 ff., BVerwG, Beschluss vom 15.08.1985 - 1 B 65.85 -, juris Rn. 3 ff.; Renner, Grenzfragen des Asylrechts und des allgemeinen Ausländerrechts, NVwZ 1983, 649, 654 f.). Nach § 48 Abs. 1 AuslG 1990 konnte ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt oder einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen über die Rechtsstellung für Flüchtlinge vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Dieser Maßstab galt nach § 48 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AuslG 1990 auch für die unbedingte Ausweisung eines Asylantragstellers. § 56 Abs. 1 und Abs. 4 AufenthG 2005 enthielten dem korrespondierende Regelungen. Entsprechendes sah § 53 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG in der bis 20.08.2019 geltenden Fassung vor. Der Gesetzgeber hat anlässlich der Novellierungen durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreispflicht durch nichts zu erkennen gegeben, dass er nunmehr zu anderen Regeln greifen und die entsprechende rechtliche Synchronisierung zwischen der unbedingten Ausweisung eines Asylantragstellers und der Ausweisung eines Asylberechtigten bzw. anerkannten Flüchtlings insoweit aufheben wollte. Im Übrigen hätte es bei einer Entscheidung zur Aufrechterhaltung des Maßstabs nach Absatz 3 im Rahmen des § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG mit Blick auf den direkt von Absatz 3 jetzt allein erfassten Personenkreis zudem nahegelegen, dass der Gesetzgeber in § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG eine Formulierung gewählt hätte, wonach Absatz 3 „entsprechend“ gilt. |
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| Darüber hinaus hat bereits das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass es allein sachgerecht ist, die unbedingte Ausweisung während eines laufenden Asylverfahrens an dem Maßstab zu messen, der für den anerkannten Flüchtling gilt, mithin an § 53 Abs. 3a AufenthG. Hierdurch wird sichergestellt, dass der besondere Ausweisungsschutz, den der Ausländer durch das Asylverfahren über die Zuerkennung eines Schutzstatus erlangen kann, nicht durch eine - der rechtskräftigen Entscheidung über den Schutzstatus vorgelagerten - Ausweisungsverfügung unterlaufen oder umgangen werden kann. Dass der Gesetzgeber diese Sachgerechtigkeit bewusst anlässlich des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht aufgegeben hätte, lässt sich auch mit Blick auf seine Motive zur Neufassung des Ausweisungsmaßstabs für anerkannte Flüchtlinge (vgl. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht BT-Drs.19/10047 vom 10.05.2019 S. 34 sowie nachfolgend 4) nicht feststellen. |
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| Der Fortbestand der Verweisung in § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG auf Absatz 3 beruht daher auf einem redaktionellen Versehen des Gesetzgebers, der Sache nach gemeint ist die Inbezugnahme von Absatz 3a (so auch Katzer in: BeckOK Migrationsrecht, § 53 Rn. 94 ff. ; Neidhardt, HTK-AuslR / § 53 AufenthG / Abs. 4 Rn. 11 ; Bauer in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 53 Rn. 103). |
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| dd) Es überschreitet entgegen der Annahme des Klägers nicht die Grenzen einer zulässigen Inhaltsbestimmung, wenn dem Gesetz mit dem Verweis auf Absatz 3a ein anderer Wortlaut beigemessen wird. Eine Norm, die die Ausweisung und damit Gefahrenabwehrrecht regelt, unterliegt nicht der für eine Strafnorm geltenden und letztlich aus Art. 103 Abs. 2 GG abgeleiteten Wortlautgrenze (vgl. zur Wortlautgrenze im Strafrecht BVerfG, Beschluss vom 07.03.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 23 ff.). Dass der Betroffene die Ausweisung aufgrund der Beschränkung seiner Freiheitsrechte als eine „zweite Strafe“ ansieht, führt zu keiner anderen Betrachtung. Eine Auslegung gegen den Wortlaut einer Norm ist nicht ausgeschlossen, wenn - wie hier - andere Indizien deutlich belegen, dass ihr Sinn im Gesetzestext unzureichend Ausdruck gefunden hat (BVerfG, Beschlüsse vom 25.04.2016 - 1 BvR 1147/12 -, juris Rn. 7, und vom 27.01.1998 - 1 BvL 22/93 -, juris Rn. 34; siehe auch Sagan, Qualität von Gesetzen und richterliche Rechtsfortbildung als kommunizierende Röhren?, jM 2020, 52, 53 ff.). Das unveränderte Beibehalten der bisherigen Verweisung ist nach dem tatsächlichen Anliegen des Gesetzgebers ein Versehen; dies erschließt sich aus dem Zweck und der Historie der Regelungen (siehe zur Bestimmung eines Redaktionsversehens BVerwG, Urteil vom 27.03.2014 - 2 C 2.13 -, juris Rn. 23; Wank, Juristische Methodenlehre, 2020, § 6 Rn. 216; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 387 f.). |
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| 4) Der Gefahrenmaßstab nach § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ist erfüllt. Der Kläger stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, weil er wegen einer schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist. |
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| a) Die im Aufenthaltsgesetz nicht definierte „schwere Straftat“ im Sinne des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ist nicht im Lichte der Begründung des Gesetzesentwurfs zu § 53 Abs. 3a AufenthG dahingehend zu bestimmen, dass es sich um eine „besonders schwere Straftat“ gemäß Art. 14 Abs. 4 lit. b) Richtlinie 2011/95/EU handeln muss. Vielmehr ergibt sich aus der Gesamtschau des Wortlauts und der Absicht, die der Gesetzgeber mit der Einführung des § 53 Abs. 3a AufenthG verfolgt, dass die Anforderungen des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG kohärent mit denen nach Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU sind, nach welchem zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung eine Ausweisung gestatten. |
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| aa) Die Begründung zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht führt bezüglich § 53 Abs. 3a AufenthG Folgendes aus (BT-Drs 19/10047 vom 10.05.2019, S. 34): |
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| „Die Schwellen des Ausweisungsschutzes für Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge werden auf den Kern der europa- und völkerrechtlichen Vorgaben zurückgeführt. Damit werden die Möglichkeiten, bei schutzberechtigten Intensivstraftätern im Einzelfall ein Überwiegen des öffentlichen Ausreiseinteresses zu begründen, erleichtert. Die europa- beziehungsweise völkerrechtlichen Vorgaben für den Ausweisungsschutz von Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen ergeben sich aus Artikel 33 Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention sowie aus Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie (EU) 2011/95 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes („Qualifikationsrichtlinie“) sowie der Rechtsprechung zu Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention). Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie sieht die Möglichkeit der Aberkennung des Schutzstatus vor, wenn a) es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass der Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält; b) der Flüchtling eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. Artikel 33 Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention sieht einen Ausschluss vom Verbot der Ausweisung vor, wenn der Flüchtling aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde. Diese Durchbrechung des Refoulement-Verbots ist als Ausnahmeregelung im Sinne einer ultima ratio eng auszulegen. Folgt der Ausweisung die Abschiebung, sind völkerrechtliche Abschiebungsverbote, insbesondere Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, zu beachten. Die Tatbestandsalternativen „er aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr anzusehen ist“ bilden den Regelungsbereich der Ausweisung von Gefährdern beziehungsweise Terrorverdächtigen ab. Da dem Wortlaut nach die Gefahr von dem Ausländer selbst ausgehen muss („er“), ist klargestellt, dass entsprechend den oben genannten völkerrechtlichen bzw. europarechtlichen Vorgaben eine Ausweisung wie bisher nur aus spezialpräventiven, nicht aber aus generalpräventiven Gründen möglich ist.“ |
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| Gemäß dieser Begründung erfolgt für den Ausweisungsmaßstab eine Orientierung an Art. 33 Abs. 2 GFK und Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/9/EU. Allerdings greift der Gesetzestext weder den Wortlaut der einen noch der anderen Bestimmung vollständig auf. Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU seinerseits ist der unionsrechtliche Hintergrund für das Unterbleiben der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 AufenthG oder deren Widerruf oder Rücknahme (§ 73 Abs. 1, Abs. 2a AsylG). Unionsrechtlich ist der Schutz vor Zurückweisung nach der Richtlinie 2011/95/EU weiter als der nach Art. 33 Abs. 2 GFK (vgl. EuGH, Urteil vom 14.05.2019 - C-391/16 u.a. -, juris Rn. 96 ff.). |
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| bb) Mit Blick auf die Gesetzesbegründung wird angenommen, dass der Gesetzgeber nunmehr den Maßstab des Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU für die Ausweisung eines anerkannten Flüchtlings und der weiteren in § 53 Abs. 3a AufenthG genannten Personen gewählt und damit tatsächlich die Anforderungen an deren Ausweisung gegenüber der bisherigen Rechtslage erhöht hat (Hoppe, Die Instanzrechtsprechung zum Recht der Ausweisung und der Aufenthaltsbeendigung einschließlich der Duldung, 1.4, in: Berlit/Hoppe/Kluth, Jahrbuch des Migrationsrechts für die Bundesrepublik Deutschland 2020, S. 118 f. ; Bauer in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, § 53 Rn. 97 f.; Thym, Geordnete Rückkehr und Bleiberecht im Dschungel des Migrationsrechts, ZAR 2019, 353, 356). Diese Auffassung stützt sich auch darauf, dass der Gesetzentwurf zu § 53 Abs. 3a AufenthG ungeachtet des im Rahmen der Anhörung hierzu erfolgten Hinweises, für die Ausweisung sei Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU der unzutreffende Maßstab, heranzuziehen sei vielmehr Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (siehe im Einzelnen Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 03.06.2019 zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, S. 9 ff. unter 2., Ausschuss-Drs. 19(4)286 B), unverändert verabschiedet worden ist. |
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| cc) Es steht dem Gesetzgeber zwar frei, höhere Hürden für die Beendigung des rechtmäßigen Aufenthalts zu normieren, als das Unionsrecht vorsieht, denn Art. 21 und 24 Richtlinie 2011/95/EU machen keine zwingenden Vorgaben für das nationale Recht („kann“). Allerdings spricht das in der Begründung zu § 53 Abs. 3a AufenthG klar formulierte gesetzgeberische Ziel, die Schwellen des Ausweisungsschutzes auf „den Kern der europa- u. völkerrechtlichen Vorgaben“ zurückzuführen, gegen eine Anhebung der Ausweisungshürden über die völker- und unionsrechtlichen Vorgaben hinaus. |
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| Die Ausweisung eines anerkannten Flüchtlings kann stets nur inlandsbezogen erfolgen. Solange der vom Bundesamt zuerkannte Schutzstatus besteht, ist der Erlass einer Abschiebungsandrohung weder nach nationalem Recht noch nach Unionsrecht zulässig (vgl. Art. 3 Nr. 4, Art. 6 sowie Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG; siehe auch BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 48; EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 44 ff., Rn. 73). Mit der inlandsbezogenen Ausweisung intendiert ist der Verlust eines vorhandenen Aufenthaltstitels bzw. die Verhinderung einer rechtlichen Verfestigung des Aufenthalts im Bundesgebiet, nicht aber die Aufenthaltsbeendigung in den Herkunftsstaat. Das in einem solchen Fall unionsrechtlich Erforderliche ist die Beachtung des Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris; BVerwG, Urteile vom 25.07.2017 - 1 C 12.16 -, juris Rn. 23, und vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 49). Dass der Gesetzgeber nicht beabsichtigt hat, die Eingriffsschwelle des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ungeachtet dessen derjenigen des Art. 14 Abs. 4 lit. b Richtlinie 2011/95/EU anzupassen, schlägt sich im Wortlaut hinreichend nieder. § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG spricht nicht von einer besonders schweren Strafe, sondern nur von einer schweren Strafe, und setzt auch keine verhängte Mindeststrafe voraus, wie dies bei § 60 Abs. 8 AufenthG der Fall, bei dem sich der Gesetzgeber auf Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern, BT-Drs. 18/7537 vom 16.02.2016, S. 8 f.). |
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| § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ist daher im Lichte von Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU auszulegen und anzuwenden (ebenso Dörig, Handbuch Migrations- u. Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 55 ff.; Katzer in: BeckOK Migrationsrecht, § 53 Rn. 78, 81 ; Neidhardt, HTK-AuslR / § 53 AufenthG / Abs. 3a Rn. 7 f. ; Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 208 ff. ; Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 2 Rn. 36 i.V.m. Rn. 27 ff. ). |
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| b) Da eine Maßnahme nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU nicht zur Aberkennung eines Flüchtlingsstatus und erst recht nicht zu einer Zurückweisung nach Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU führt, ist das Vorliegen einer besonders schweren Straftat nicht erforderlich (EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 73). Die zu Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 (Qualifikationsrichtlinie oder Anerkennungsrichtlinie a.F.) ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann auf Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU übertragen werden. Soweit in dieser Richtlinie nunmehr der Begriff der „nationalen Sicherheit“ statt der „öffentlichen Sicherheit“ in der Vorgängerfassung verwendet wird, hat dies keine inhaltlichen Auswirkungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 50; hiervon ebenfalls ausgehend Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 03.06.2019 zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, S. 10 f. unter 2., Ausschuss-Drs. 19(4)286 B). |
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| Der Gerichtshof hat im Urteil vom 24.06.2015 Bezug auf seine Rechtsprechung zu den Begriffen der „öffentlichen Sicherheit“ und „öffentlichen Ordnung“ in Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 - Unionsbürgerrichtlinie bzw. Freizügigkeitsrichtlinie - genommen. Auch wenn diese Richtlinie andere Ziele als die Richtlinie 2004/83/EG verfolgt und es den Mitgliedstaaten freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern (EuGH, Urteil vom 22.05.2012 - C-348/09 -, juris Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann der Umfang des Schutzes, den eine Gesellschaft ihren grundlegenden Interessen gewähren will, nicht je nach der Rechtsstellung der Person, die ihre Interessen beeinträchtigt, unterschiedlich ausfallen (EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 77). Nach der in Bezug genommenen Rechtsprechung zur Unionsbürgerrichtlinie umfasst der Begriff „öffentliche Sicherheit“ sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit des Staates. Der Ausdruck der „zwingenden Gründe“ deutet auf einen besonders hohen Schweregrad der Beeinträchtigung hin. Der Begriff der „öffentlichen Ordnung“ wird dahin ausgelegt, dass er jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (näher EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 78 ff.; BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 51). |
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| c) Eine Verurteilung wegen einer schweren Straftat im Sinne von § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ist nicht immer schon dann anzunehmen, wenn eine Bestrafung vorliegt, die ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 AufenthG begründet (a.A. Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 217 , der annimmt, für eine Gefährdung der Allgemeinheit reiche dies aus). Auch wenn den Mitgliedstaaten ein gewisser Beurteilungsspielraum bei dem eingeräumt ist, was die öffentliche Sicherheit oder Ordnung fordern, ist dies kein „Freibrief“ für beliebige Festlegungen. Allein die Verortung in § 54 Abs. 1, 1a oder 1b AufenthG reicht zudem deshalb nicht aus, weil sie keine - unionsrechtlich gebotene - Prüfung aller Umstände des Einzelfalls enthält (vgl. näher Dörig in: ders., Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 63; siehe auch EuGH, Urteil vom 13.09.2018 - C-369/17 -, juris Rn. 58 - zu Art. 17 Abs. 1 lit b) Richtlinie 2011/95/EU). |
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| d) Im vorliegenden Fall handelt es sich bei dem vom Kläger begangenen schweren sexuellen Missbrauchs in sechs Fällen um eine schwere Straftat im Sinne des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG. Dies erschließt sich aus den obigen Ausführungen unter 2b und d), in die alle Umstände des Einzelfalles eingeflossen sind und aus denen sich ergibt, dass die Tat objektiv und subjektiv schwerwiegend gewesen ist; der Kläger hat elementare Rechte eines Kindes zur Befriedigung seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse verletzt. Auch die vom Kläger gemeinschaftlich mit einem anderen Täter begangene gefährliche Körperverletzung, die massive Verletzungen beim Opfer im Kopfbereich bewirkt hat, und die versuchte räuberische Erpressung stellen aufgrund des ihnen innewohnenden hohen Aggressionspotentials selbstständig neben dem sexuellen Missbrauch eine schwere Straftat dar (siehe oben 2c und d). Dass der Kläger bei der Körperverletzung alkoholisiert war, lässt die Tat nicht in einem milderen Licht erscheinen; seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit war zu keinem Zeitpunkt beeinträchtigt. Auf die Qualifizierung der durch das Landgericht ... weiter abgeurteilten Taten kommt es insoweit nicht mehr an. |
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| Mit der rechtskräftigen Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten liegt auch eine taugliche Verurteilung im Sinne der Regelung vor. Es bedarf nach dem Gesetzeswortlaut keiner bestimmten Art der Verurteilung oder einer bestimmten Strafhöhe (siehe bereits oben 4 a cc). Im Unterschied zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, der nur im Falle einer Freiheitsstrafe einschlägig sein kann, ist die Jugendstrafe von § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG umfasst. Da auch bei realkonkurrierenden Delikten die Jugendstrafe nur einheitlich verhängt wird (§ 31 JGG) und - anders als im Erwachsenenstrafrecht (§§ 53, 54 StGB) - keine Einzelstrafe vor der Bildung einer Gesamtstrafe ausgewiesen wird, ist der gesetzgeberischen Entscheidung zur Einbeziehung der Jugendstrafe immanent, dass es nicht erforderlich ist, der konkret verwirklichten schweren Straftat eine genaue Strafhöhe zuzuordnen. Aus dem der Norm zugrundeliegenden Unionsrecht folgt nichts anderes. |
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| e) Der Kläger ist auch eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG. Wie sich aus dem Wortlaut („weil“) ergibt, bedarf es einer Verbindung zwischen der konkreten schweren Straftat, für die der Ausländer verurteilt wurde, und der Gefahr, die von ihm ausgeht. Mit der Gefahr für die Allgemeinheit sind die Fälle umschrieben, die von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU unter der Variante der öffentlichen Ordnung erfasst werden (Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 2 Rn. 31 <5/2021>; wohl auch Dörig in: ders., Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 63). Im vorliegenden Fall besteht die hohe Gefahr, dass der Kläger erneut wegen einer Sexualstraftat oder mit einem Aggressionsdelikt - etwa in Form einer gefährlichen Körperverletzung - straffällig wird. Aus den obigen Ausführungen (unter 2d bis h) erschließt sich zugleich, dass das Verhalten des Klägers eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaats berührt. Die Gefahr eines schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes oder eines anderen Sexualdelikts gegenüber einer jungen weiblichen Person bedroht ebenso wie die Gefahr, zufällig Opfer eines Aggressionsdelikts - etwa in Gestalt einer schweren Körperverletzung - zu werden, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung. Solches wird nicht dadurch infrage gestellt, dass der Kläger aktuell noch in Haft ist (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 13.07.2017 - C-193/16 -, juris Rn. 27); mit Blick auf die zukünftigen Maßnahmen der Führungsaufsicht, mit denen beabsichtigt ist, das vom Kläger ausgehende Risiko zu reduzieren, gilt nichts anderes. |
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| 5) Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen für ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse, die der Gesetzgeber in § 55 Abs. 1 AufenthG enumerativ aufgeführt hat. Eines der ausdrücklich benannten scherwiegenden Bleibeinteressen nach § 55 Abs. 2 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Wie der Wortlaut („insbesondere“) verdeutlicht, sind die dort aufgezählter Interessen nicht abschließend erfasst. Die Beziehung zwischen dem nunmehr 22 Jahre alten Kläger und seinem etwa 13 Jahre älteren Bruder ist jedoch nicht in einer Art und Weise ausgestaltet, die zu einem (unbenannten) schwerwiegenden Bleibeinteresse führen würde. Die ursprünglich bestehende Vormundschaft des Bruders war mit Eintritt der Volljährigkeit des Klägers beendet. Der Kläger ist als junger Erwachsener nicht notwendig auf die Unterstützung durch seinen Bruder angewiesen, insbesondere nicht krankheitsbedingt. Es liegen auch im Übrigen keine Elemente einer Abhängigkeit vor, die über die üblichen gefühlmäßigen Bindungen unter volljährigen Verwandten hinausgingen. Eine noch heute bestehende, durch den Bruder gewährte emotionale Lebenshilfe für den Kläger im Sinne eines „Vaterersatzes“ und deren Akzeptanz durch diesen kann der Senat nach den Einlassungen des Klägers und seiner sich aus den Akten ergebenden Biographie nicht feststellen. |
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| 6) Die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3a AufenthG i.V.m. Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU und Art. 8 EMRK gebotene Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses einerseits und des privaten Bleibeinteresses andererseits anhand aller Umstände des Einzelfalls unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. zu den Maßstäben etwa BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 58 i.V.m. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.01.2016 - 11 S 889/15 -, juris Rn.141 ff.; Dörig in: ders., Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 40 ff.) führt dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung die privaten Interessen des Klägers deutlich überwiegt. |
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| a) Zu Lasten des Klägers sind die konkrete Schwere der begangenen Straftaten, deren Aburteilung zum Entstehen des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG geführt hat, sowie die von ihm ausgehende hohe Wiederholungsgefahr für eine Sexualstraftat oder ein Delikt, das durch Aggressionen bedingt ist (siehe im Einzelnen oben unter 2 und 4), zu berücksichtigen. Der Personenkreis, der von solchen Straftaten betroffen sein kann, lässt sich nicht eingrenzen. Obwohl die Taten im Jahre 2017 begangen worden sind und damit bereits mehrere Jahre zurückliegen, sind die Persönlichkeits- und Lebensumstände, die zu diesen Straftaten geführt haben, unverändert gegeben. Eine Nachreifung des im März 1999 geborenen Klägers unter den Bedingungen des Vollzugs, die als Ergebnis seine zukünftige Rechtstreue erwarten lassen würde, lässt sich nicht feststellen. Der Kläger hat nicht die Möglichkeiten des Strafvollzugs genutzt, um entwicklungs- und persönlichkeitsbedingte Defizite aufzuarbeiten bzw. die Gefahr der Wiederholung von Straftaten, jedenfalls schwerwiegender, durch die Teilnahme an einer Therapie zu senken. |
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| Die Bedeutung des Grads der Wiederholungsgefahr im Rahmen der Abwägung ist nicht deshalb zu Gunsten des Klägers zu relativieren, weil ihm - nachdem er in der letzten Phase des Strafvollzugs eine gewisse Eigenmotivation entwickelt hat - keine Therapie im Vollzug mehr angeboten werden konnte. Zwar hat sich der Kläger nach der Vollzugsplankonferenz vom 25.02.2020 beim Psychologischen Dienst für Gespräche zur Tat- und Persönlichkeitsaufbereitung angemeldet. Diese konnten allerdings aufgrund von Wartezeit erst ab Juli 2020 begonnen werden und werden - coronabedingt - auch in größeren Abständen durchgeführt (Fortschreibung des Vollzugsplans vom 24.09.2020, S. 1, 3). Für eine indizierte Sozialtherapie in der Justizvollzugsanstalt ... war die verbleibende Haftzeit schon im Zeitpunkt der Fortschreibung des Vollzugsplans vom 25.02.2020 zu kurz - zumal zuvor eine deutliche Veränderung beim Kläger bezüglich Motivation, Verantwortungsübernahme und Veränderungsbereitschaft hätte erreicht werden müssen (a.a.O., S. 2). Abgesehen davon dass dem Kläger durch die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Abteilung der Jugendstrafvollzugsanstalt die Möglichkeit eingeräumt worden war, eine Therapie durchzuführen, die er nicht ergriffen hat, ergibt sich im Übrigen weder aus dem nationalen Recht noch aus Konventions- oder Unionsrecht eine Verpflichtung, eine Ausweisung bis zum Abschluss von noch bevorstehenden oder bereits eingeleiteten therapeutischen oder sonstigen Maßnahmen zurückzustellen, die sich auf den betroffenen Ausländer beziehen und (auch) dem Zweck dienen, von ihm ausgehende Gefahren zu vermindern (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.03.2021 - 11 S 2932/20 -, juris Rn. 9 f.; BVerwG, Beschluss vom 11.09.2015 - 1 B 39.15 -, juris Rn. 21). Dass für den Kläger ausnahmsweise etwas anderes gelten könnte, ist nicht ersichtlich. |
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| b) Bleibeinteressen nach § 55 AufenthG, die zu Gunsten des Klägers in die Abwägung einzustellen wären, sind nicht gegeben. Allerdings ist der Kläger als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling im Alter von 16 Jahren Anfang Dezember 2015 nach Deutschland eingereist und lebt seitdem ununterbrochen im Bundesgebiet, ab 01.08.2016 bis zu seiner Inhaftierung am 20.12.2017 bei seinem Bruder und dessen Familie. Kontakt zu seinem Bruder hält er aus der Haft heraus. Außerdem wird er nach Haftentlassung wieder in die Wohnung der brüderlichen Familie einziehen. Der Aufenthalt des Klägers vor seiner Inhaftierung ist aufgrund der Asylantragstellung gestattet gewesen. Wie die Anhörung in der mündlichen Verhandlung gezeigt hat, verfügt der Kläger inzwischen über gute Kenntnisse der deutschen Sprache, die eine Alltagskommunikation mit ihm ermöglichen. Ausweislich der von ihm verfassten Schriftstücke in der Gefangenenpersonalakte gelingt es ihm auch, sich auf Deutsch schriftlich verständlich zu äußern. Außerdem ist der Kläger mit 22 Jahren in einem Alter, in dem er noch nachreifen kann. Zudem beabsichtigt er nach seiner Haftentlassung nunmehr Bildungsangebote im Bundesgebiet zu nutzen und eine Therapie zu absolvieren. |
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| Soweit sich der Kläger darauf beruft, zu seinen Gunsten müsse im Rahmen der Abwägung auch eingestellt werden, dass er nach den vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 17.12.2020 (A 11 S 2042/20, juris Rn. 34 ff.) getroffenen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan, insbesondere in Kabul, und auch wegen einer Verfolgung durch die Taliban nicht in sein Heimatland zurückkehren könne, besteht hierfür im Rahmen der allein inlandsbezogenen Ausweisung kein Anlass. Denn der Gesetzgeber hat sich entschieden, im nationalen Recht für die unbedingte Ausweisung während eines laufenden Asylverfahrens den identischen Maßstab vorzusehen, der unionsrechtlich für die Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen mit zuerkanntem Flüchtlingsschutz gilt. Nach § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG i.V.m. Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU darf die Ausweisung nicht mit einer Abschiebungsandrohung einhergehen, d.h. sie ist nicht die Grundlage für eine Rückführung des Ausländers in seinen Herkunftsstaat, weshalb es nicht darauf ankommt, welche Bindungen er dorthin hat und welche Verhältnisse er im Heimatstaat vorfindet. |
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| Bei der inlandsbezogenen Ausweisung gibt es zudem Bleibeinteressen im engeren Wortsinn für die Abwägung nicht, sondern nur das Interesse der Vermeidung an den Folgewirkungen der Ausweisung (Dörig in: ders., Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 46; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.04.2018 - 7 A 11529/17 -, juris Rn. 64 und nachfolgend BVerwG, Urteil vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 28 m.w.N), wobei die Folgewirkungen sich für einen anerkannten Flüchtling und einen im Asylverfahren befindlichen Ausländer teilweise unterscheiden. Gemeinsame Folgewirkungen sind, dass der Ausländer nur noch geduldet wird (§ 60a AufenthG) und eine Legalisierung seines Aufenthalts fortan nicht mehr in Betracht kommt, sowie Aufenthaltsbeschränkungen und Meldeauflagen verhängt werden können (vgl. § 56 AufenthG). Während der anerkannte Flüchtling auch im Falle einer Ausweisung aufgrund des Fortbestands seines Schutzstatus die nach Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU hieran anknüpfenden Rechte im Übrigen grundsätzlich behält (vgl. näher BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 55), verbleibt es bei der Ausweisung während des Asylverfahrens bei den Rechten, die sich aus der Richtlinie 2013/33/EU vom 26.06.2013 (Aufnahmerichtlinie) ergeben, d.h. der Ausländer ist etwa auf Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beschränkt. Generell keine relevante Folge einer Ausweisung während eines laufenden Asylverfahrens ist die Anwendbarkeit der Bestimmung des § 30 Abs. 3 Nr. 6 AsylG. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer nach §§ 53, 54 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig ist. Die Vorschrift, die im Wortlaut allein an §§ 53, 54 AufenthG a.F. anknüpft, hat keinen Anwendungsfall mehr, da eine Anpassung an das ab 01.01.2016 geltende Ausweisungsrecht mit seiner gänzlich anderen Struktur unterblieben ist (Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 30 Rn. 139 ; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 30 AsylG Rn. 17). |
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| c) Im Rahmen der Gesamtabwägung überwiegen die öffentlichen Interessen an einer Ausweisung aufgrund der hohen Gefahr der Begehung von Sexual- bzw. Aggressionsstraftaten, was einem Grundinteresse der Gesellschaft widerspricht, die bestehenden, bislang wenig ausgeprägten Bindungen des Klägers an das Bundesgebiet. Dabei geht der Senat zu Gunsten des Klägers davon aus, dass er sich ungeachtet dessen, dass sein Aufenthalt im Bundesgebiet nie legalisiert war, auf das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK berufen kann (so auch OVG Bremen, Beschluss vom 02.03.2021 - 2 B 328/20 -, juris Rn. 40 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2010 - 11 S 2359/10 -, juris Rn. 31 ff.; a. A. BVerwG, Urteil vom 26.10.2010 - 1 C 18.09 -, juris Rn. 14; Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 76 ). Der Kläger hat mittlerweile die deutsche Sprache alltagstauglich erlernt. Aber trotz seines bislang ca. fünfeinhalb Jahre dauernden Aufenthalts in Deutschland liegen keine darüberhinausgehenden Integrationsleistungen in sozialer, kultureller oder wirtschaftlicher Hinsicht vor. Während des etwa zweijährigen Aufenthalts im Bundesgebiet vor seiner Inhaftierung hat er seine Zeit vorwiegend mit Bekannten und Freunden überwiegend afghanischer Herkunft verbracht oder mit der afghanischen Familie seines Bruders; auch in der Haft besteht der Umgang vorwiegend mit Personen afghanischer Herkunft fort. Einen Schulabschluss oder gar eine Berufsausbildung hat er bisher nicht erreicht. Eine Erwerbstätigkeit vor seiner Haft ist nicht erfolgt, obwohl ihm eine Beschäftigung erlaubt worden war. Die durch die inlandsbezogene Ausweisung eintretenden Folgen, wie insbesondere die fehlende Möglichkeit der Legalisierung des Aufenthalts, treffen den Kläger vor diesem Hintergrund nicht unverhältnismäßig. |
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| d) Das Ergebnis der Gesamtabwägung in Gestalt des Überwiegens des öffentlichen Interesses an der Ausweisung würde sich selbst dann nicht ändern, wenn man der Auffassung wäre, auch bei einer inlandsbezogenen Ausweisung dürfte die Frage der Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Reintegration des Ausländers in den Heimatstaat nicht ausgeblendet werden (so wohl OVG Bremen, Urteil vom 17.02.2021 - 2 LC 311/20 -, juris Rn. 79 ff., insb. Rn. 81 - zu § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG). Dem dürfte die Überlegung zugrunde liegen, dass selbst wenn die inlandsbezogene Ausweisung nicht Grundlage einer zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung ist, der Ausländer durch die fehlende Möglichkeit, seinen Aufenthalt zu legalisieren, in eine Lage geraten kann, die ihn veranlasst, Deutschland zu verlassen. Für die Einbeziehung der Situation im Heimatstaat könnte zudem sprechen, dass § 53 Abs. 2 AufenthG dazu verpflichtet, bei der Abwägung nach Absatz 1 nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere unter anderem die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat zu berücksichtigen, und dass in dieser Norm keine Differenzierung zwischen inlandsbezogener und nicht-inlandsbezogener Ausweisung angelegt ist. Auch die Rechtfertigung des mit der Ausweisung verbundenen Eingriffs in Art. 8 EMRK und die Sicherung der Verhältnismäßigkeit anhand der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten sog. „Boultif-Üner-Kriterien“ (vgl. EGMR, Urteile vom 02.08.2001 - 54273/00 -, infAuslR 2001, 476, und vom 18.10.2006 - 46410/99 <Üner> -, NVwZ 2007, 1279, sowie deren Weiterentwicklung in den Urteilen vom 22.03.2007 - 1683/03 -, InfAuslR 2007, 221, und vom 23.06.2008 - 1638/03 -, InfAuslR 2008, 333) beinhalten unter anderem die Ermittlung und Würdigung der Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen auch zum Herkunftsstaat (vgl. hierzu etwa EGMR Urteil vom 20.12.2018 - 18706/16 -, FamRZ 2019, 1896 Rn. 52). |
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| Der Kläger hat bis zu seiner Ausreise nach Deutschland mit seiner Familie in Kabul gelebt. Er hat in Afghanistan ca. neun Jahre lang die Schule besucht und spricht Paschtu und Urdu. Er ist von den kulturellen Gegebenheiten seines Heimatlandes bis in das 16. Lebensjahr hinein unmittelbar geprägt worden. Auch wenn der Vater mittlerweile verstorben ist und der Kläger in der Berufungsverhandlung angegeben hat, dass zu seiner erkrankten Mutter kein Kontakt mehr bestehe und er in Afghanistan auch keine weiteren nahen Verwandten mehr habe, ist er jedoch Teil einer Großfamilie, zu der mehrere Onkel und Cousins gehören. Der Kläger hat nicht jegliche Bindungen an Afghanistan verloren. |
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| Für die Abwägung kommt es hingegen nicht auf die allgemeinen Lebensumstände in Afghanistan an, wie sie der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 17.12.2020 (A 11 S 2042/20, juris Rn. 34 bis 101) zutreffend festgestellt hat. Dies ist eine Folge dessen, dass der Ausweisung der Maßstab zugrunde liegt, der für einen anerkannten Flüchtling gilt, und damit - hypothetisch - eine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat zugrunde gelegt wird. Die obergerichtliche Rechtsprechung, nach der Nachteile und Gefahren, die dem Ausländer im Herkunftsstaat drohen, im Rahmen der Ausweisung nur unter der Prämisse berücksichtigt werden, dass sie nicht die Schwelle zu einem vom Bundesamt zu prüfenden zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernis überschreiten, und Situationen im Heimatstaat, die ihrer Art nach objektiv geeignet sein mögen, internationalen Schutz oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu begründen, mit Blick auf die ausschließliche Zuständigkeit des Bundesamts nicht Gegenstand der Abwägung nach §§ 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG sein können (OVG Bremen, Urteil vom 17.02.2021 - 2 LC 311/20 -, juris Rn. 79 ff. - zu § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG; ähnlich auch OVG Bremen, Urteil vom 30.09.2020 - 2 LC 166/20 -, juris Rn. 59 ff. - zu § 6 FreizügG/EU; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.05.2003 - 13 S 1113/02 -, juris Rn. 23 - zu § 48 Abs. 3 Satz 1 AuslG 1990), spielt im vorliegenden Fall daher keine Rolle. |
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| Die Berufung bleibt hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots ohne Erfolg. |
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| Der Vertreter des Beklagten hat in der Berufungsverhandlung durch protokollierte Erklärung Ziffer 2 des Bescheids vom 18.06.2019 neu gefasst. Danach wird gegen den Kläger aufgrund der Ausweisung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von viereinhalb Jahren ab der Ausreise festgesetzt; weitere Regelungen zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gibt es nicht mehr. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass allein die jetzige Fassung des Einreise- und Aufenthaltsverbots Gegenstand der Entscheidung des Senats ist. |
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| 1) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot, das mit der Ausweisung angeordnet worden ist, ist nicht deshalb rechtswidrig, weil die Ausweisungsverfügung vom 18.06.2019 keine Abschiebungsandrohung enthält. |
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| Der Senat teilt nicht die Auffassung des Generalanwalts in seinen Schlussanträgen vom 10.02.2021 in der Rechtssache C-546/19 (BZ), der das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.05.2019 (1 C 14.19 -, juris) zugrunde liegt. Dem Generalanwalt zufolge fällt ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das gegen einen Drittstaatsangehörigen zeitgleich mit einer aufgrund einer früheren strafrechtlichen Verurteilung erlassenen Ausweisungsverfügung verhängt wurde, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG. Zudem steht nach seiner Rechtsauffassung diese Richtlinie der Aufrechterhaltung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots entgegen, das gegen einen Drittstaatsangehörigen zeitgleich mit einer aufgrund einer früheren strafrechtlichen Verurteilung erlassenen Ausweisungsverfügung verhängt wurde, wenn die Rückkehrentscheidung aufgehoben wurde; dies gilt auch, wenn die Ausweisungsverfügung bestandskräftig geworden ist (nach Ergehen der Entscheidung des Senats hat sich der Gerichtshof der Europäischen Union dem Votum des Generalanwalts angeschlossen, EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 42 ff.). |
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| a) Die Qualifikation des an eine Ausweisung anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots als Einreiseverbot im Sinne des Art. 3 Nr. 6, Art. 11 Richtlinie 2008/115/EG, das zwingend eine bestehende Rückkehrentscheidung nach Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG, also eine Abschiebungsandrohung nach nationalem Recht (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 09.05.2019 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 30 ff.), voraussetzt, beruht auf einer nicht vollständigen Erfassung des nationalen Ausweisungsrechts, das zudem bislang das rechtliche Instrumentarium der inlandsbezogenen Ausweisung kennt. |
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| Das Aufenthaltsgesetz knüpft verschiedene Wirkungen einer Ausweisung allein an deren Erlass. Das betrifft etwa das Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 2, Alt. 1 AufenthG, die Befreiung vom Erfordernis des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 5 AufenthG, die Versagung einzelner spezieller Aufenthaltstitel (§ 37 Abs. Nr. 1 AufenthG; § 25 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG) und das Eingreifen von Überwachungsmaßnahmen nach § 56 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG. Der allgemeine Ausschluss eines ausgewiesenen Ausländers von einer Titelerteilung (und damit auch von einer Aufenthaltsverfestigung) unabhängig vom Aufenthaltszweck wird jedoch durch die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Abs. 2 AufenthG erreicht. Dieses entfaltet seine Wirkungen unabhängig von der tatsächlichen Ausreise auf dem Bundesgebiet. Bei der inlandsbezogenen Ausweisung ist die Ausweisung nicht Grundlage einer Aufenthaltsbeendigung in den Herkunftsstaat, weshalb die Länge dieses nationalen Einreise- und Aufenthaltsverbots und damit die Dauer vom Ausschluss eines Aufenthaltstitels auch lediglich nach typisierenden Annahmen bestimmt werden kann (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 11.11.2013 - 1 B 11.13 -, juris Rn. 3, und Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 -, juris Rn. 42). Nur wenn sich der Ausländer entschließt, aus eigener Initiative auszureisen, verhindert das Einreise- und Aufenthaltsverbot für den sich dann außerhalb der Bundesrepublik Deutschland Aufhaltenden aus Gründen der Gefahrenabwehr zugleich dessen Wiedereinreise. Eine Abschiebungsandrohung und ein hierauf für den Fall der Abschiebung bezogenes Einreise- und Aufenthaltsverbot, welche unstreitig der Richtlinie 2008/115/EG unterfallen, wobei Letzteres seine Wirkung erst ab dem Zeitpunkt entfaltet, zu dem der Betroffene den Mitgliedstaat verlassen hat (EuGH, Urteil vom 17.09.2020 - C-806/18 -, juris Rn. 33), ergehen hingegen allein in den Fällen, in denen bei einem Ausgewiesenen auch eine Aufenthaltsbeendigung in den Heimatstaat oder einen anderen Staat zulässig ist; in einem solchen Fall gibt es ein nationales und ein unionsrechtliches Einreise- und Aufenthaltsverbote mit unterschiedlichen Wirkungen. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedenfalls in der Vergangenheit dieses System nicht beanstandet (BVerwG, Urteil vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 42 i.V.m. 9 und 15; vgl. nunmehr allerdings Fleuß, Die ausländerrechtliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2020, ZAR 2021, 156, 159, wonach gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gegen einen Ausländer, der unter anderem ausgewiesen worden sei, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen sei; dieses ebenfalls in der Form eines eigenständigen, der Bestandskraft fähigen behördlichen Verwaltungsakts ergehende Einreise- und Aufenthaltsverbot sei als Einreiseverbot im Sinne des Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG zu qualifizieren.). |
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| b) Die Richtlinie 2008/115/EG beruht ausschließlich auf Art. 63 Nr. 3 lit. b EGV, der einwanderungspolitische Maßnahmen in den Bereichen illegale Einwanderung und illegaler Aufenthalt, einschließlich der Rückführung solcher Personen, die sich illegal im Mitgliedstaat aufhalten, vorsieht. Kompetenziell erfasst diese Regelung gesetzgeberische und operative Maßnahmen zur Unterbindung der illegalen Einwanderung ebenso wie inhaltliche Vorgaben zur Beendigung des illegalen Aufenthalts, wenn Drittstaatsangehörige sich unrechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten; die Regelungsbefugnis zum illegalen Aufenthalt umfasst auch die Abschiebung und Rückführung (Weiß in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 63 EGV Rn. 58 ff.; siehe auch zum wortgleichen Art. 79 Abs. 2 lit. c AEUV Thym in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 79 Rn. 32 ff. ). Ausgehend von dieser Kompetenznorm sieht die Richtlinie 2008/115/EG - ebenso wie der vorausgegangene Kommissionsentwurf - keine Regelungen zur Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.05.2019 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 30 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012 - 11 S 2328/11 -, juris Rn. 147 ff.; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 292 ; Bauer in: Bergmann/Dienelt, AuslR., 13. Aufl. 2020, Vor §§ 53-56 Rn. 29; siehe auch Kommissionsvorschlag, Dokument KOM (2005)391 endg. vom 01.09.2005, S. 5, 7). |
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| Die Richtlinie 2008/115/EG ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll - als Kehrseite des Einreiseverbots - durch dessen grundsätzliche Befristung den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. Richtlinie 2008/115/EG bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012 - 11 S 2328/11 -, juris Rn. 149). Gegenteiliges folgt auch nicht aus Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115/EG. Danach sollen durch diese Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen. Diese Regelung räumt den Mitgliedstaaten lediglich die Befugnis ein, in einem Verwaltungsakt etwa über die Beendigung des legalen Aufenthalts durch Ausweisung zu entscheiden und gleichzeitig eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu erlassen; sie enthält aber keine inhaltlichen Vorgaben für die Ausweisung. |
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| Die Harmonisierung der Gründe und des Verfahrens für die Beendigung eines Aufenthalts durch Ausweisung hätte auf Art. 63 Nr. 3 lit. a EGV (nunmehr Art. 79 Abs. 2 lit. a AEUV) gestützt werden müssen, der u.a. Einreise und Aufenthaltsvoraussetzungen betrifft (so ausdrücklich zu Art. 79 Abs. 2 lit. a AEUV Thym in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 79 Rn. 25 ). Diese Ermächtigungsgrundlage ist jedoch für die Richtlinie 2008/115/EG nicht herangezogen worden. |
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| c) Die Europäische Gemeinschaft (bzw. heute die Europäische Union) besitzt keine Allzuständigkeit und auch keine „Kompetenz-Kompetenz“, d.h. sie kann nicht verbindlich über die eigene Zuständigkeit entscheiden. Art. 63 Nr. 3 lit. a und lit. b EGV sind Ausdruck dessen, dass die europäischen Rechtssetzungsorgane einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung in den Verträgen bedürfen. Jede Kompetenzausübung der Union muss dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, dem Subsidiaritätsprinzip und der Verhältnismäßigkeit nach Maßgabe des Art. 5 EUV - bzw. zuvor Art. 5 EGV - genügen (vgl. Bergmann in: Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, 5. Aufl. 2015, Abschnitt „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“, S. 783; Grupp in: Bergmann, a.a,O., Abschnitt „Konkurrierende Zuständigkeit“, S. 596; Calliess in: Callies/Ruffert, EUV, AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 5 EUV Rn. 2 ff.). |
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| Hat die Union - wie hier mit Blick auf die Möglichkeit ausgehend von Art. 63 Nr. 3 lit.a EGV die Ausweisung allgemein zu regeln - von einer ihr eingeräumten Kompetenz keinen Gebrauch gemacht, verbleibt es dabei, dass die Mitgliedstaaten weiterhin zur Rechtssetzung befugt sind (Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art. 5 Rn. 20 f). Sie können bestimmen, unter welchen Voraussetzungen sie eine Ausweisung erlassen und welche Wirkungen sie ihr beimessen. Begrenzungen können sich insoweit ergeben, als für den betroffenen Ausländer nach speziellen Richtlinien besondere unionsrechtliche Anforderungen für die Ausweisung zu beachten sind (vgl. etwa Art. 12 Richtlinie 2003/109/EG ). |
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| d) Aufgrund der den Mitgliedstaaten verbleibenden Zuständigkeit bleibt es ihnen unbenommen, die Ausweisung nach ihrer nationalen Rechtsordnung so auszugestalten, dass sie eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellt (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU -, InfAuslR 2011, 320, Rn. 50, oder zu Griechenland EuGH, Urteil vom 14.09.2017 - C-184/16 -, juris Rn. 17 ff.) oder - wie dies für Deutschland gilt - ein anderes Regelungsregime vorzusehen. Die Ausweisung im deutschen Recht beendet nur die Legalität des Aufenthalts. Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt dem Betroffenen nicht die Ausreisepflicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 16.05.2012 - 11 S 2328/11 -, juris Rn. 150, und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 -, juris Rn. 86). |
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| e) Der Auslegungsgedanke des „effet utile“ zwingt nicht dazu anzunehmen, die Richtlinie 2008/115/EG müsse - vor dem Hintergrund eines nach ihrem Zweck konzipierten weiten Anwendungsbereichs - den Umgang mit den Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von einem Ausländer ausgehen, auch unter dem Aspekt der Ausweisung vollständig regeln. Hiergegen spricht schon die nach ihrem Art. 2 Abs. 2 lit. b für die Mitgliedstaaten vorgesehene Möglichkeit des opt-outs. |
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| f) Der Generalanwalt ist der Auffassung, ausgehend von Art. 3 Nr. 2 Richtlinie 20087115/EG sei jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befinde, was bei der Ausweisung der Fall sei, schon allein deswegen dort illegal aufhältig; er unterfalle somit dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Ist kein Gebrauch vom opt-out nach Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG gemacht worden und wird dem Ausländer kein Aufenthaltstitel erteilt, muss zwingend eine Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG ergehen (vgl. Schlussanträge vom 10.02.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 58 ff., 80; dem Generalanwalt folgend EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. Rn. 44 ff.; 55 ff.). Es liefe sowohl dem Gegenstand der Richtlinie 2008/115/EG, wie er in deren Art. 1 angeführt ist, als auch dem Wortlaut von Art. 6 der Richtlinie zuwider, das Bestehen eines Zwischenstatus von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befänden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterlägen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung (mehr) bestünde (vgl. Schlussanträge vom 10.02.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 81; EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 57). |
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| Dies zugrunde gelegt, dürfte die inlandsbezogene Ausweisung nicht mehr praktiziert werden können (vgl. EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 56), was wiederum nach nationalem Recht Auswirkungen auf die Prüfungsinhalte der Abwägung im Rahmen der Entscheidung über eine Ausweisung hat - und damit einen Bereich betrifft, der nicht durch Sekundärrecht der Union geregelt ist. Es ist zudem Sache des Mitgliedstaats zu regeln, welche Voraussetzungen er für eine Ausweisung während eines laufenden Asylverfahrens vorsieht. Würde im Fall der Ausweisung während des Asylverfahrens eine Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung gefordert, stünde dies nicht in Einklang mit dem Umstand, dass sich der Betreffende unionsrechtlich während des Asylverfahrens grundsätzlich nach Art. 9 der Richtlinie 2013/32/EU - sowie nach Maßgabe des Art. 46 dieser Richtlinie während des gerichtlichen Verfahrens - berechtigt im Mitgliedstaat aufhalten darf (vgl. auch EuGH, Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16 -, juris). Der Erlass zweier Rückkehrentscheidungen - die eine mit Blick auf eine Ausweisung, die andere aufgrund eines insgesamt negativen Asylverfahrens - gleichzeitig oder sukzessiv entspricht nicht der Intention der Richtlinie 2008/115/EG (vgl. dazu auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.12.2012 - 11 S 2303/12 -, juris Rn. 5). |
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| Im Übrigen berücksichtigt die Rechtsansicht, es gebe von der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein Rückkehrverfahren einzuleiten, wenn sie kein Aufenthaltsrecht gewährten, keine Ausnahme, nicht, dass die nach Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU zulässige Ausweisung bei einem anerkannten Flüchtling den Fortbestand seines Status unberührt lässt, und daher keine Abschiebungsandrohung ergehen darf (vgl. EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 44). Die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung ist nicht nur eine Frage der Abschiebung (Art. 9 Abs. 1 lit. a Richtlinie 2008/115/EG), sondern kann nach Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG bereits dem Erlass einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen. Auch das Wohl eines Kindes im Sinne des Art. 5 dieser Richtlinie kann dazu führen, dass eine Rückkehrentscheidung gegenüber dem Sorgeberechtigten unterbleibt (vgl. auch EuGH, Urteil vom 11.03.2021 - C-112/20 -, juris Rn. 24 ff.) und Gefahrenabwehr durch eine inlandsbezogene Ausweisung erfolgt. Würde man dem Generalanwalt und dem Gerichtshof folgen, wonach der Mitgliedstaat nur die Möglichkeit habe, ein Rückkehrverfahren einzuleiten oder den Aufenthalt zu legalisieren, würde dies - wenn keine Rückkehrentscheidung erlassen werden dürfte - Gefahrenabwehr ad absurdum führen. |
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| Soweit der Generalanwalt und der Gerichtshof ausführen, zur Verhinderung einer Aufenthaltsverfestigung sei es zielführend, unter Aufrechterhaltung der Rückkehrentscheidung die Abschiebung nach Art. 9 Abs. 1 lit. a Richtlinie 2008/115/EG aufzuschieben, wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde (Schlussanträge vom 10.02.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 87, und Urteil vom 03.06.2021, a.a.O., Rn. 59), dürfte es vor dem Hintergrund des Zwecks der Richtlinie jedenfalls fraglich sein, ob es eine Rückkehrentscheidung „auf Vorrat“ geben darf. Die Fälle des Aufschubs der Abschiebung nach Art. 9 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 Richtlinie 2008/115/EG zeichnen sich dadurch aus, dass grundsätzlich vorübergehende Situationen erfasst werden. Anders liegt es aber dann, wenn schon im Zeitpunkt der Prüfung der Rückkehrentscheidung bekannt ist, dass eine Abschiebung auf unabsehbare Zeit nicht durchgeführt werden kann, weil dem Betroffene dauerhaft der Grundsatz der Nichtzurückweisung zur Seite steht. Der Gerichtshof hat ausgehend von Art. 5 lit. a, Art. 6 Abs.1, Art. 8 Abs. 1 und Art. 10 der Richtlinie 2008/115/EG besondere Anforderungen für die Rückkehrentscheidung unbegleiteter Minderjähriger formuliert (siehe näher EuGH vom 14.01.2021 - C-441/19 -, juris). Das von der Richtlinie angestrebte effiziente Rückkehrverfahren (EuGH, a.a.O., Rn. 79) kann nicht erreicht werden, wenn von vornherein eindeutig feststeht, dass einer Rückkehrentscheidung auf Dauer keine Vollstreckungsmaßnahmen folgen dürfen. |
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| Auch der Hinweis des Generalanwalts, dem deutschen Gesetzgeber stehe es jedenfalls frei, durch das opt-out nach Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG national ein Einreiseverbot ohne Rückkehrentscheidung vorzusehen (vgl. Schlussanträgen vom 10.02.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 55, 68, 86; siehe auch EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 46, 48) würde nicht zu einer adäquaten Lösung führen, weil Deutschland aus Rechtsgründen hiervon keinen Gebrauch machen kann. |
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| Nach Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG können die Mitgliedstaaten beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. Der vom Generalanwalt unter Rn. 68 erfolgte Verweis auf das opt-out am Beispiel des französischen Rechts ist schon deshalb nicht zielführend, weil die 2. Alternative des Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115, die auf eine Rückkehrverpflichtung abstellt, die „infolge einer strafrechtlichen Sanktion“ ausgelöst wurde, nur Fälle betrifft, in denen - wie im französischen Recht - die Rückkehrpflicht unmittelbar aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion (als Nebenfolge) ausgelöst wird, und nicht Entscheidungen erfasst, die im Verwaltungswege erlassen werden. Zwar könnte der Wortlaut „infolge“ daraufhin deuten, dass auch Rückkehrentscheidungen, die im Verwaltungswege erlassen werden, letztlich aber an eine strafrechtliche Verurteilung anknüpfen, unter diese Regelung fallen können (vgl. beispielhaft auch die englische Textfassung „as a consequence of a criminal law sanction“ oder die italienische „come conseguenza di una sanzione penale“; dies auch jedenfalls für die frühere Ist-Ausweisung nach § 53 AufenthG a.F. annehmend Franßen-de la Cerda, Die Vergemeinschaftung der Rückführungspolitik - das Inkrafttreten der EU-Rückführungsrichtlinie, ZAR 2008, 377, 381; weitergehend Augustin, Die Rückführungsrichtlinie der Europäischen Union, 2016, S. 164 ff.). Für die Auffassung, dass die 2. Alternative des Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG, die auf eine Rückkehrverpflichtung abstellt, die „infolge einer strafrechtlichen Sanktion“ ausgelöst wurde, nur Fälle betrifft, in denen die Rückkehrpflicht unmittelbar aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion als Nebenfolge ausgelöst wird, spricht aber vor allem die Bedeutung der Regelung und ihre Entstehungsgeschichte (vgl. näher VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 -11 S 2029/16 -, juris Rn. 83 ff.; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 302 ). |
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| Die Kommission hat während der Beratungen im Rat stets deutlich gemacht, dass die verschiedenen Stufen „Beendigung des legalen Aufenthalts“ und (deswegen danach) „illegaler Aufenthalt“ zu unterscheiden sind und die Rückführungsrichtlinie nur den letzteren Fall erfasst. Verschiedene Mitgliedstaaten, deren Strafrecht bei Delikten von Ausländern auch den Verlust des Aufenthaltsrechts als Strafe oder Nebenstrafe vorsieht, befürchteten, dass durch die Rückführungsrichtlinie in die ihrer alleinigen Kompetenz obliegende Angelegenheit des nationalen Strafrechts eingegriffen würde. Obwohl sowohl das Europäische Parlament als auch andere Mitgliedstaaten die Auffassung der Kommission, dass die Beendigung des legalen Aufenthalts - auch mit Mitteln des Strafrechts - schon gar nicht vom Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie erfasst ist, stützten und eine solche Klausel für nicht notwendig erachteten, verlangten diese Länder ausdrücklich eine Optionsregelung. Letztlich ist dem aus Gründen des politischen Pragmatismus entsprochen worden, weil andernfalls die Gefahr des Scheiterns der Richtlinie gedroht hätte (Lutz, The Negotiations on the Return Directive, 2010, unter 2.2.2, S. 32; siehe auch Franßen-de la Cerda, a.a.O., ZAR 2008, 377, 381; Lutz in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2nd Edition. 2016, Part C VII Art. 2 Rn. 15 f.). Im Übrigen spricht auch der Umstand, dass erhebliche Bewertungsunsicherheiten auftreten würden, wenn man für die 2. Alt des Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG eine Verwaltungsentscheidung genügen lassen würde, die allein oder jedenfalls maßgeblich auf eine vorangegangene strafrechtliche Sanktion gestützt wäre (wie etwa die Versagung der Erteilung eines Aufenthaltstitels aufgrund des Bestehens eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen einer Straftat), für die Auslegung im Sinne der Entstehungsgeschichte. |
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| Weder der Generalanwalt noch der Gerichtshof gehen auf die Problematik der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG ein. |
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| 2) Die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist ebenfalls nicht zu beanstanden. |
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| Der Beklagte hat für die Bestimmung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das an eine Ausweisung anknüpft und für das nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ein Ermessen der Ausländerbehörde vorgesehen ist, zugrunde gelegt, dass im Falle des wegen einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesenen Klägers die Frist zehn Jahre nicht überschreiten soll (§ 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, der § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 3 AufenthG a.F. entspricht). Er ist zutreffend davon ausgegangen, dass innerhalb dieses Fristenrahmens (§ 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) das Prüfprogramm, das das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 10.07.2012 (1 C 19.11, juris) zu § 11 AufenthG in der bis 31.07.2015 geltenden Fassung entwickelt hat, weiter zu beachten ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 81 unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 27.16 -, juris Rn. 23; Maor in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 11 Rn. 15, 21 ff.; Dollinger in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 11 Rn. 38; sowie oben unter A II 2). |
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| Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK, gemessen und ggf. relativiert werden. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles einer umfassenden Abwägung aller betroffenen Belange (BVerwG, Urteile vom 22.02.2017 - 1 C 27.16 -, juris Rn. 23 ff., und vom 22.02.2017- 1 C 3.16 -, juris Rn. 66). |
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| Der Ausländerbehörde ist keine Einschätzungsprärogative bei der im ersten Schritt zu leistenden Gefahrenprognose eingeräumt, hieran ändern auch die gesetzlichen Rahmenvorgaben zur Frist (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) nichts (näher Hoppe in: Dörig, Handbuch Migrations- u. Integrationsrecht, 2. Aufl., 2020, § 7 Rn. 149 ff.). Kontrolliert wird von Verwaltungsgerichten nach § 114 Satz 1 VwGO daher, ob der Bestimmung der Länge der Frist eine zutreffende Prognose der Wiederholungsgefahr zugrunde liegt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 82 ff.; VG München, Beschluss vom 23.09.2020 - M 24 S 20.3270 -, juris Rn. 57), was wiederum voraussetzt, dass die hierfür herangezogenen Tatsachengrundlagen vollständig und fehlerfrei sind. Eine Ermessensentscheidung ist grundsätzlich nur dann rechtmäßig, wenn die Behörde den entscheidungserheblichen und für eine sachgemäße Wahrnehmung der Letztverantwortlichkeit maßgeblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und in ihre Erwägungen eingestellt hat. Hat die Behörde wesentliche Umstände übersehen oder konnte sie diese noch nicht berücksichtigen und kommt es nicht zu einer Nachbesserung im gerichtlichen Verfahren nach § 114 Satz 2 VwGO oder werden erhebliche Punkte fehlgewichtet, führt dies wegen Ermessensdefiziten zur Rechtswidrigkeit der Ermessensentscheidung (Riese in: Schoch/Schneider, VwGO, § 114 Rn. 53 f. ; Wolff in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl.2018, § 114 Rn. 170 ff., 181 f.). In der Sache unterscheidet sich daher die Kontrolldichte des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes bei der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf der ersten Stufe im Ergebnis nicht signifikant von der Rechtslage, die vor dem 01.08.2015 galt, und bei der hinsichtlich der Fristlänge kein behördliches Ermessen bestand. |
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| Der Beklagte hat angenommen, dass auf der ersten Stufe ein Zeitraum von fünf Jahren erforderlich ist, damit dem Zweck der spezialpräventiven Gefahrenabwehr Rechnung getragen werden kann. Er ist hierbei zu Gunsten des Klägers davon ausgegangen, es werde prognostisch aufgrund des Alters noch eine Nachreifung eintreten. Ausgehend von der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr (siehe oben B I 2) lässt dies keinen Ermessensfehler zu Lasten des Klägers erkennen. |
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| Die auf der zweiten Stufe vorgenommene Reduzierung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots mit Blick auf die persönlichen Interessen des Klägers lediglich um sechs Monate ist nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat eingestellt, dass der Kläger durch seinen Bruder und dessen Familie einen sozialen Anknüpfungspunkt in Deutschland hat, er andererseits auch nicht zwingend auf die Unterstützung und Hilfe durch den Bruder angewiesen ist. Soweit die Prozessbevollmächtigte des Klägers beanstandet, die Ermessenserwägungen würden der besonderen Geschwisterbeziehung zu dem Bruder als einziger Bezugsperson, der Bedeutung des fast 13 Jahre älteren Bruders als „Vaterersatz“ nicht gerecht, ist zum einen schon nicht erkennbar, dass der ältere Bruder tatsächlich in einer vom Kläger akzeptierten Weise eine Art „Vaterrolle“ übernommen hätte, zum anderen lässt es keine Fehlgewichtung erkennen, wenn der Beklagte darauf abstellt, dass der Kläger als mittlerweile 22-jähriger, der sich schon vor seiner Inhaftierung nicht mehr regelmäßig im Haushalt seines Bruders aufgehalten und sich dessen Einfluss entzogen hat, selbstständig leben könne. Auch im Übrigen gibt es keine weiteren Tatsachen, deren Berücksichtigung zu Gunsten des Klägers sich aufdrängen würde. Entgegen der Auffassung der Prozessbevollmächtigen des Klägers ist die von ihr beschriebene desaströse Situation in Afghanistan kein Ermessensgesichtspunkt, der in die Entscheidung über die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots einzustellen wäre. Mit der Begrenzung der Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird schutzwürdigen Bindungen im Bundesgebiet Rechnung getragen. Die Festlegung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots intendiert aber nicht, dem Ausländer eine Perspektive einzuräumen, um der Situation im Heimatstaat erneut zu entkommen. |
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| Die Berufung bleibt daher auch mit dem Haupt- und Hilfsantrag der Klage hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots von viereinhalb Jahren ab Ausreise ohne Erfolg. |
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| Beschluss vom 15. April 2021 |
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| Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt. |
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| Der Beschluss ist unanfechtbar. |
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| Die Berufung des Klägers ist zulässig (A), aber nicht begründet (B). |
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| Die Berufung ist nach der für den Verwaltungsgerichtshof bindenden Zulassung durch das Verwaltungsgericht (§ 124a Abs. 1 Sätze 1 und 2 VwGO) statthaft. Die Zulassung umfasst die Ausweisung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot, die jeweils selbstständige Streitgegenstände darstellen (vgl. BVerwG, Urteile vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 9 f., und vom 22.02.2017 - 1 C 27.16 -, juris Rn. 6, 15; Beschluss vom 03.09.2018 - 1 B 56.18 -, juris Rn. 8; Dollinger in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 11 AufenthG Rn. 129). |
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| Hinsichtlich des Streitgegenstands der Ausweisung liegt eine form- und fristgerechte (§ 124a Abs. 3 Sätze 2 und 3 VwGO) sowie inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen des § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO noch genügende Berufungsbegründung vor. Die Berufungsbegründung enthält einen bestimmten Antrag und es wird aus der Begründung mit Schriftsatz vom 07.09.2020 hinreichend erkennbar, inwieweit und warum das angegriffene Urteil nach Ansicht des Klägers tatsächlich und rechtlich unrichtig ist (vgl. zu den entsprechenden Anforderungen BVerwG, Beschluss vom 09.07.2019 - 9 B 29.18 -, juris Rn. 3; Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 107; Happ in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 27). |
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| Soweit für den Streitgegenstand des Einreise- und Aufenthaltsverbots innerhalb der Berufungsbegründungfrist im Schriftsatz vom 07.09.2020 zwar dessen Aufhebung beantragt, aber keine eigenständige Begründung vorgetragen worden ist, steht dies der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegen. Zwar muss bei einer Mehrheit von Streitgegenständen bzw. bei Hilfsansprüchen eine Begründung für jeden gegeben werden, andernfalls ist das Rechtsmittel für den nicht begründeten Teil unzulässig (Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 124a Rn. 35 m.w.N.; Rudisile in: Schoch/Schneider, VwGO, § 124a Rn. 54 ; Kuhlmann in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 124a Rn. 33; siehe auch BGH, Beschluss vom 29.11.2017 - XII ZB 414/17 -, juris Rn. 9). Dies gilt aber ausnahmsweise dann nicht, wenn die Entscheidung über einen Streitgegenstand von der Entscheidung über einen anderen notwendig abhängt (Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 113) oder der Hilfsanspruch zwingender Bestandteil der Hauptsache ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 15). Diese Ausnahme greift für das Verhältnis zwischen einer Ausweisung und Aufhebung beziehungsweise Verkürzung eines deswegen bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots. Auch unter der Geltung des § 11 AufenthG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 (BGBl. I S. 1294) ist das Begehren auf Aufhebung oder Verkürzung des befristet erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots als Minus notwendiger Bestandteil des Begehrens auf Aufhebung der Ausweisung und kann von den Beteiligten (grundsätzlich) nicht aus dem Verfahren ausgegliedert werden. |
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| 1) Das Bundesverwaltungsgericht hat für § 11 Abs. 1 AufenthG in der bis 20.08.2019 geltenden Fassung, wonach für die Ausweisung ein kraft Gesetzes bestehendes Einreise- und Aufenthaltsverbot bestand, dessen Wirkungen mit der Ausweisungsverfügung zu befristen waren, angenommen, dass das Befristungsbegehren betreffend die Wirkungen der Ausweisung als Minus notwendiger Bestandteil des Begehrens auf Aufhebung einer Ausweisung ist und von den Beteiligten nicht aus dem Verfahren ausgegliedert werden kann (BVerwG, Urteile vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 15, sowie vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 17 unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 -, juris Rn. 28 ff. und in Korrektur des vorausgegangenen Urteils des VGH Baden-Württemberg vom 13.01.2016 - 11 S 889/15 -, juris Rn. 155, in dem entschieden worden war, dass die Befristungsentscheidung mangels Berufungsantrag und -begründung nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sei). Der erkennende Gerichtshof hat sich dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts angeschlossen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, juris Rn. 33). |
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| Das vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte prozessuale Verhältnis von der Anfechtung der Ausweisung und der Befristung ihrer Wirkungen ist unter anderem von dem materiellen Gedanken geprägt, dass typischerweise eine zeitlich befristete Ausweisung zur Erreichung der mit dieser ordnungsrechtlichen Maßnahme verfolgten präventiven Zwecke genügt, und angesichts der einschneidenden Folgen für die persönliche Lebensführung des Ausländers und die ihn ggf. treffenden sozialen, familiären und wirtschaftlichen Nachteile die Befristung der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung auch der Sicherung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung dient; eine schon mit der Ausweisung einhergehende Befristung ihrer Wirkung ermöglicht dem Ausländer zudem eine verlässliche Grundlage für seine weitere Lebensplanung (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 -, juris Rn. 31 ff. zur Fassung des § 11 Abs. 1 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 22.11.2011 und unter Weiterentwicklung von BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 -, juris Rn. 28 f.). |
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| 2) Nach der Neufassung des § 11 AufenthG durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 (BGBl. I S. 1294), die bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts galt, ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht mehr unmittelbare gesetzliche Rechtsfolge der Ausweisung oder der Abschiebung bzw. Zurückschiebung, sondern wird nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als selbstständiger Verwaltungsakt erlassen. § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG sieht die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von Amts wegen bei seinem Erlass vor. Zudem ist das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG keine unmittelbare Rechtsfolge der Ausweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung mehr, sondern eine solche des Einreise- und Aufenthaltsverbots. |
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| Im Vergleich zur Befristung der gesetzlichen Sperrwirkungen haben sich die materiell-rechtlichen Vorgaben für das behördlich verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot von einer bestimmten Dauer nicht geändert. Es geht nach wie vor um die Konturierung und Begrenzung der Wirkungen der Ausweisung primär unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr und sekundär mit Blick auf die persönlichen Belange der von einer Ausweisung Betroffenen. Für die Ermittlung der Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots erfolgt zunächst die Bestimmung des Fristenrahmens (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Innerhalb des Fristenrahmens ist das Prüfprogramm, das das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 10.07.2012 (1 C 19.11, juris) zu § 11 AufenthG in der bis 31.07.2015 geltenden Fassung entwickelt hat, weiter zu beachten (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 80 f.; Maor in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 11 Rn. 15, 21 ff.). Auch die Tatsache, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht mehr ipso iure eintritt, sondern nunmehr der Rechtsform eines Verwaltungsakts bedarf, spricht nicht dagegen, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur fehlenden Ausgliederbarkeit des Befristungsbegehrens im Falle einer Ausweisung auf die Neufassung des § 11 AufenthG zu übertragen. Zwar verlagert sich nach der gesetzlichen Konzeption mit dem Wegfall eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots die bisher mit der Ausweisung verbundene kraft Gesetzes eintretende Wirkung u.a. der Fernhaltung des Ausländers auf das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot; inhaltlich ändert sich hierdurch jedoch nichts, da die Ausweisung zwingend mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot zu verbinden ist (vgl. Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 20 ). Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht bereits für die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 angenommen, dass in einer behördlichen Befristungsentscheidung, auch soweit sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgrund einer Ausweisung betrifft, ein konstitutiv angeordnetes befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbots zu sehen ist (BVerwG, Beschlüsse vom 06.05.2020 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 11 ff., und vom 09.05.2019 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 27 unter Hinweis auf Urteile vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 42, und vom 21.08.2018 - 1 C 21.17 -, juris Rn. 25). |
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| Ob ausnahmsweise das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot dann nicht Gegenstand eines gegen die Ausweisung gerichteten Rechtsschutzes wird, wenn der Betreffende ausdrücklich zu erkennen gibt, er wolle dieses nicht in das Verfahren einbeziehen (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.09.2020 - OVG 11 N 83.18 -, juris Rn. 9 ff.), bedarf keiner Entscheidung, denn solches trifft für den vorliegenden Fall nicht zu. |
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| Die Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg. |
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| Maßgebender Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage sowohl hinsichtlich der Ausweisung als auch hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist derjenige der mündlichen Verhandlung des Senats (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 16, und vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 18; OVG Niedersachsen, Urteil vom 06.05.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 35, 53; Hoppe in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 173). Der Entscheidung sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25.02.2008 (BGBl I S. 162) zugrunde zu legen, zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie weiterer Gesetze vom 09.12.2020 (BGBl. I S. 2855). Danach erweisen sich die Ausweisung (I) und das viereinhalbjährige Einreise- und Aufenthaltsverbot (II) als rechtmäßig. |
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| Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (im Einzelnen BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 21 ff.). Die Ausweisung setzt nach § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls voraus, die vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geleitet wird. Der Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erhält durch die §§ 54 und 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, jeweils qualifiziert als „besonders schwerwiegend" (Absatz 1) oder als „schwerwiegend" (Absatz 2) (BVerwG, Urteile vom 25.07.2017 - 1 C 12.16 -, juris Rn. 15, und vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 17). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sind jedoch neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die in § 54 AufenthG fixierten Tatbestände erfüllen zwei Funktionen: Sie sind gesetzliche Umschreibungen spezieller öffentlicher Interessen an einer Ausweisung im Sinne von § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG und weisen diesen Ausweisungsinteressen zugleich ein besonderes Gewicht für die durch § 53 Abs. 1 Halbs. 2 AufenthG geforderte Abwägung zu. Ein Rückgriff auf die allgemeine Formulierung eines öffentlichen Ausweisungsinteresses in § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG ist entbehrlich, wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist. Allerdings bedarf es auch bei Verwirklichung eines Tatbestandes nach § 54 AufenthG stets der Feststellung, dass die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht (BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 26). |
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| Für verschiedene rechtlich privilegierte Personengruppen hat der Gesetzgeber den Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG ergänzende Vorschriften erlassen, die erhöhte Ausweisungsvoraussetzungen festlegen (BVerwG, Urteile vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 46, und vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 32 - jew. zu § 53 Abs. 3 in der bis 20.08.2019 geltenden Fassung). Dies erfordert ggfs. auch - in einem zweiten Schritt - die Prüfung, ob der vom Gesetzgeber jeweils definierte nationale Schutz dem einschlägigen unionsrechtlichen Maßstab für die jeweilige unionsrechtlich betroffene Personengruppe genügt. Zudem bedarf es in einem solchen Fall einer Abwägung unter Wahrung einer unionsrechtlich geprägten Verhältnismäßigkeitsprüfung. |
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| 1) Der Kläger erfüllt aufgrund der Verurteilung durch das Landgericht ... den Tatbestand des Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Danach wiegt ein Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer u.a. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Mit dieser Vorschrift, in der der Gesetzgeber bei der Bewertung des Ausweisungsinteresses die Freiheits- und Jugendstrafe trotz unterschiedlicher Strafzwecke und -ziele im Erwachsenen- und Jugendstrafrecht (vgl. §§ 2, 17 JGG) und trotz abweichender Strafrahmen (siehe § 18 JGG) gleichbehandelt, bewegt er sich innerhalb des ihm zustehenden Gestaltungs- und Wertungsrahmens (vgl. Hoppe in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 74). |
|
| Das Landgericht ... hat den Kläger mit rechtskräftigem Urteil vom 12.09.2018 wegen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen, der Nötigung in zwei Fällen, der gefährlichen Körperverletzung, des versuchten Betrugs, der versuchten räuberischen Erpressung sowie des Diebstahls in drei Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren sechs Monaten verurteilt. Bei sämtlichen der realkonkurrierenden Straftaten handelt es sich um Vorsatztaten. |
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| Ob die Verurteilung des Klägers auch ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. b) AufenthG wegen einer vorsätzlichen Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit, nach dessen lit. c) in Form eines Sexualdelikts oder gemäß lit. d) in der Variante des serienmäßigen Eigentumsdelikts erfüllt, kann nicht festgestellt werden, weil die hier erforderliche genaue Zuordnung der jeweils mindestens einjährigen Jugendstrafe zum konkret abgeurteilten Delikt aufgrund der hier nach § 105 JGG i.V.m. § 31 JGG einheitlich festgesetzten Jugendstrafe nicht möglich ist (vgl. Hoppe in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 79). Für die Entscheidung über die Ausweisung hat dies keine Folgen, denn selbst wenn durch eine strafrechtliche Verurteilung mehrere Tatbestände des § 54 AufenthG erfüllt werden, führt dies nicht zu einer typisierten Verstärkung des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.11.2017 - 11 S 1555/16 -, juris Rn. 38). |
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| 2) Die der Ausweisungsverfügung vom 18.06.2019 zugrunde gelegte spezialpräventiv motivierte Ausweisung bezweckt die Abwehr einer vom persönlichen Verhalten des Ausländers ausgehenden Gefährdung der im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG genannten Schutzgütern; dies setzt die Feststellung einer Wiederholungsgefahr voraus. Im vorliegenden Fall besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut Delikte aus dem Bereich der Sexualkriminalität begehen wird. Entsprechendes gilt im Übrigen für andere, durch aggressives, gewalttätiges Verhalten bestimmte Straftaten. |
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| a) Für die Beurteilung, ob nach dem Verhalten des Ausländers damit zu rechnen ist, dass er erneut die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG gefährdet, bedarf es einer Prognose, bei der der Grad der Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen und Art und Ausmaß möglicher Schäden zu ermitteln und zueinander in Bezug zu setzen sind. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. näher BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, juris Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 23.06.2020 - 11 S 990/19 -, juris Rn. 13, und vom 11.02.2019 - 12 S 2789/18 -, juris Rn. 8; Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 22). Auch bei schwersten Gewaltdelikten ist jedoch eine grenzenlose Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nicht zulässig und nicht bereits jede entfernte Möglichkeit begründet eine Wiederholungsgefahr (OVG Bremen, Beschluss vom 12.03.2020 - 2 B 19/20 -, juris Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, Rn. 18). |
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| Bei der gerichtlichen Überprüfung einer Ausweisungsverfügung darf sich das Gericht nicht darauf beschränken, die von der Ausländerbehörde angestellte Prognose auf ihre Tragfähigkeit zu untersuchen. Es hat vielmehr eine eigenständige, auf die Umstände im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bezogene Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. |
|
| Das Gericht bewegt sich bei der erforderlichen Gefahrenprognose regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall ausnahmsweise die Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderlich machen würden, liegen nicht vor (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, juris Rn. 12, und Beschlüsse vom 11.09.2015 - 1 B 39.15 -, juris Rn. 12, vom 01.03.2016 - 1 B 30.16 -, juris Rn. 7, und vom 09.12.2019 - 1 B 74.19 -, juris Rn. 5). Weder aus dem im Strafverfahren eingeholten forensisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 30.07.2018 noch aus den in den Gefangenenpersonalakten dokumentierten Vorgängen ergeben sich Hinweise auf eine aktuelle psychische Störung des Klägers, die es erforderlich machen könnte, spezielle Sachkunde für die Erstellung der Gefahrenprognose in Anspruch zu nehmen. Der am 06.06.2018 in der Justizvollzugsanstalt ... als Folge einer Anpassungsstörung unternommene Selbstmordversuch (vgl. Urteil des Landgerichts ... S. 19 unter V. 3.) und die am 13.06.2019 in der Justizvollzugsanstalt ... geäußerten konkreten Suizidgedanken hatten jeweils eine medizinische Behandlung zur Folge. Nach der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ...-... vom 11.03.2021 stabilisierte sich der Kläger nach dem Vorfall vom 13.06.2019 bis zum 20.09.2019 (siehe auch den Vermerk des Psychologischen Dienstes vom 17.06.2019, Gefangenenpersonalakte Bd. I, S. 218, wonach der Kläger bereits an diesem Tag wieder in die normale Zelle seines Traktes zurückverlegt wurde); danach ist es nicht mehr zu einer auffälligen psychischen Destabilisierung gekommen. Der Umstand, dass zur Biographie des Klägers das Erlebnis der Flucht aus Afghanistan als unbegleiteter Minderjähriger gehört (vgl. insoweit auch die im psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 30.07.2018 dokumentierte biographische Anamnese unter III.2.), gibt ebenfalls keinen Anhalt für die Notwendigkeit der Einholung einer sachverständigen Stellungnahme durch das Gericht. |
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| Bei der zu treffenden Prognose sind alle individuellen Umstände des Einzelfalls einzustellen. In die Prüfung sind daher unter anderem Art und Schwere der Tathandlung, Art und Ausmaß potentieller Schäden, das Nachtatverhalten, Aspekte eines Täter-Opfer-Ausgleichs, die Höhe der verhängten Strafe und die Entwicklung der Persönlichkeit des Klägers und seiner Lebensumstände bis zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt einzubeziehen; zu berücksichtigen ist auch der Verlauf des Vollzugs einer Haftstrafe (BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, juris Rn. 12; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.11.2017 - 11 S 1555/16 -, juris Rn. 48, und Beschlüsse vom 23.06.2020 - 11 S 990/19 -, juris Rn. 14, und vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 40; Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 24). |
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| b) Gegenstand der strafrechtlichen Verurteilung durch das Landgericht ...- ... sind unter anderem sechs Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes nach §§ 176 Abs. 1, 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB, weil der Kläger als 18-jähriger zwischen August und Anfang Oktober 2017 sechs Mal mit der im Zeitpunkt der Taten 13 Jahre alten M. Geschlechtsverkehr praktizierte. Hierbei handelt es sich sowohl, was die abstrakte Einordnung des Delikts in das Rechtssystem anbelangt, als auch hinsichtlich der konkreten Art und Weise des Vorgehens des Klägers und seiner Motivation um eine schwerwiegende Tat. |
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| aa) § 176 Abs. 1 StGB sieht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor, wenn eine Person sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt. Nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB wird der sexuelle Missbrauch von Kindern in den Fällen des § 176 Abs. 1 und 2 mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft, wenn eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Diese zum Zeitpunkt der Tat geltenden Strafbestimmungen sind in der Folgezeit nicht verändert worden. |
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| Schutzgut der Strafvorschriften der §§ 176 ff. StGB ist die sexuelle Selbstbestimmung als Abwehrrecht mit dem Inhalt, nicht zum Objekt fremdbestimmter sexueller Handlungen zu werden. Mitgeschützt ist hierbei die ungestörte sexuelle Entwicklung von Personen unter 14 Jahren im Hinblick auf eine Beeinträchtigung ihrer Gesamtentwicklung. § 176 StGB bestimmt eine absolute Grenze für den sexualbezogenen Umgang mit Kindern; entsprechende Kontakte mit unter 14-jährigen sind ausnahmslos verboten. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich die sexuelle Identität einer Person und damit ihre Fähigkeit, über ihr Sexualverhalten zu bestimmen, als Teil der Gesamtpersönlichkeit entwickelt, und dass fremdbestimmte Eingriffe in die kindliche Sexualität in besonderer Weise geeignet sind, Folgeschäden bei Kindern herbeiführen zu können (Eisele in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 176 Rn. 1a; Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 176 Rn. 2). Als Qualifikationstatbestand ist § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aufgrund seines höheren Unrechtsgehalts nicht mehr nur ein Vergehen, sondern ein Verbrechen (vgl. Eisele in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 176a Rn. 1; Hecker in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 12 Rn. 2). Zwar gibt es bei der Bemessung der Jugendstrafe keine Bindung an die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts (vgl. § 105 JGG i.V.m. § 18 JGG), sie dürfen andererseits als Ausdruck gesetzlicher Bewertung des Tatunrechts aber auch nicht ganz außer Betracht bleiben (Sonnen in: Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 8. Aufl. 2020, § 18 Rn. 11). |
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| Der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch ist zudem ein europäisches Anliegen. Dies verdeutlicht beispielhaft die Richtlinie 2011/93/EU vom 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. L 335 vom 17.12.2011, S. 1 ff.). Dieser liegt u.a. die Erwägung zugrunde, dass sexueller Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern, einschließlich Kinderpornographie, schwere Verstöße insbesondere gegen die in Art. 24 GRCh festgelegten Rechte des Kindes auf Schutz und Fürsorge darstellen. Das Übereinkommen des Europarats vom 25.10.2007 zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch, das Deutschland ratifiziert hat (vgl. BGBl. II 2015, S. 26 ff.), verpflichtet die Vertragsparteien, u.a. den sexuellen Missbrauch eines Kindes unter Strafe zu stellen. Auch das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 (BGBl. 1992 II, S. 121, 990) - UN-Kinderrechtskonvention (KRK) -, welchem über Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Rang eines Bundesgesetzes zukommt, regelt in Art. 34 die Verpflichtung der Vertragsstaaten, das Kind vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs zu schützen. Zu diesem Zweck treffen die Vertragsstaaten insbesondere alle geeigneten innerstaatlichen, zweiseitigen und mehrseitigen Maßnahmen, um zu verhindern, dass Kinder a) zur Beteiligung an rechtswidrigen sexuellen Handlungen verleitet oder gezwungen werden, b) für die Prostitution oder andere rechtswidrige sexuelle Praktiken ausgebeutet werden, c) für pornographische Darbietungen und Darstellungen ausgebeutet werden. |
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| bb) Nach den Feststellungen der Jugendstrafkammer hatte der Kläger bereits beim ersten Gespräch mit M. erfahren, dass diese am 05.11.2003 geboren und damals daher noch 13 Jahre alt war. Die Beziehung zwischen beiden war zunächst von WhatsApp-Nachrichten und Treffen in der Innenstadt von R. geprägt. In Kenntnis nicht nur des Alters des Mädchens, sondern auch des Umstands, dass Geschlechtsverkehr mit ihr aufgrund ihres Alters verboten war, führte der Kläger ab August 2017 mit dem unreifen, sich seinen Wünschen fügenden Mädchen den Beischlaf durch. Das Alter des eine Werkrealschule besuchenden Mädchens war ihm ebenso gleichgültig wie Kontrazeption. Die Initiative zum Geschlechtsverkehr ging vom Kläger aus. Er bezweckte die Befriedigung seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse, derentwegen er sich auch über Verhütung hinwegsetzte und die Verantwortung hierfür auf M. schob, weil sie ihn nicht jedes Mal auf die Benutzung eines Kondoms hingewiesen habe. Der Geschlechtsverkehr, der über Monate hinweg praktiziert wurde, ereignete sich nicht in Situationen einer Enthemmung durch Alkohol oder Drogen. Der Kläger steuerte seinen Konsum so, dass er etwa im Beisein von M. nicht trank, und nutzte den Umstand aus, dass das Mädchen sich in ihn verliebt hatte. So unterblieb etwa die Nutzung eines Kondoms, weil es sich für ihn „nicht so gut anfühlte“; auch befriedigte M., obwohl sie das eigentlich nicht wollte, weil es ihr befremdlich war, den Kläger auf sein Verlangen hin mit dem Mund bis zum Samenerguss (siehe zu alldem auch Ermittlungsbericht des Polizeipräsidiums R. vom 17.01.2018 insbesondere unter 4 sowie Geschädigten-Vernehmungen durch die Polizei vom 29.11.2017 und 20.12.2017). |
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| Die Beziehung gestaltete sich so, dass der Kläger M. zunehmend für sich vereinnahmte und über ihr Leben entschied, indem er ihr den Kontakt zu ihrer bis dahin besten Freundin und anderen Jungen verbot und sie durch Kontrollanrufe überwachte. Wie aus den in den Strafakten enthaltenen Lichtbildern ersichtlich ist, war der Kläger, der 1,81 m groß ist (Gefangenenpersonalakte Bd. II, Personenbeschreibung vom 20.12.2017), dem Kind auch körperlich überlegen. Zwar wurde der Kläger während der Beziehung gegenüber M. nicht gewalttätig und fügte ihr - wie sein Abbruch des Versuchs von Analverkehr verdeutlicht - nicht bewusst Schmerzen zu (vgl. Geschädigten-Vernehmungen durch die Polizei vom 20.12.2017, S. 5 f.). Jedoch beschrieb M. ihn als eine Person, die schnell aggressiv werden könne, wenn man ihn reize. Zur Durchsetzung seines Willens gegenüber M. griff der Kläger vor allem zu den Mitteln des psychischen Drucks und der Manipulation. Dies betraf allgemeine, identitätsprägende Umstände, wie etwa die Wahl von Kleidung oder von Freunden, die er nicht mehr allein M. überlassen wollte, aber auch die Beziehung selbst. So ritzte er sich mit einer Rasierklinge in den Unterarm und drohte sich umzubringen, wenn sie ihn verließe, was sie zunächst veranlasste, bei ihm zu bleiben, weil sie wollte, dass ihm nichts passiere, und sich sogar selbst zu ritzen (vgl. insgesamt Strafurteil S. 9 unter II.; Geschädigten-Vernehmungen durch die Polizei vom 29.11.2017, S. 8 f.; Vernehmung der Mutter von M. durch die Polizei am 28.11.2017, S. 5). Der Kläger verstand sich als diejenige Person, die über M. bestimmte. Dies verdeutlicht auch sein Verhalten am 09. und 10.10.2017 im Zusammenhang mit der von M. initiierten Trennung. So drohte er, „ihr Leben kaputt zu machen“, wenn sie bei ihrem Entschluss bliebe, nicht mehr mit ihm zusammen zu sein, und versuchte sie unter Einsatz seiner körperlichen Kräfte gegen ihren Willen zu küssen. Dass der Kläger insoweit erfolglos blieb, war lediglich dem Umstand zu verdanken, dass sich beide Situationen im Bereich eines Zentralen Omnibusbahnhofs tagsüber ereigneten und am 09.10.2017 die Nachfrage einer Passantin und am 10.10.2017 die durch die Mutter von M. erfolgte Alarmierung der Polizei den Kläger veranlassten, M. gehen zu lassen. Wie wenig M. dem Kläger entgegenzusetzen hatte, verdeutlicht auch die Tatsache, dass es noch zu heimlichen Treffen der beiden bis Ende Oktober 2017 kam - u.a. war M. bei dem Diebstahl der Geldbörse durch den Kläger am 23.10.2017 in dessen Nähe -, obwohl sowohl der Bruder des Klägers als auch die Mutter von M. gefordert hatten, dass sich die beiden nicht mehr sehen sollten. |
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| Wie für den Kläger aufgrund des jedenfalls viermal ungeschützt bis zum Samenerguss durchgeführten vaginalen Geschlechtsverkehrs vorhersehbar war, kam es zu einer am 14.10.2017 in der sechsten Schwangerschaftswoche festgestellten Schwangerschaft (vgl. das Schreiben der M. behandelnden Frauenärztin vom 12.06.2018, Strafakten Bd. I, S. 420). Hierdurch geriet M. in die Situation, als Kind über den Fortbestand der Schwangerschaft entscheiden zu müssen. Die nach gemeinsamer Beratung mit dem Jugendamt, der Frauenärztin, einem Psychologen und ihrer Mutter getroffene Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch bedeutete für M. nicht nur eine psychische Belastung; vielmehr traten nach dem ambulant durchgeführten Eingriff physische Probleme auf, die im Nachgang eine Notoperation erforderlich machten. Dass die psychischen und physischen Folgen des Missbrauchs von M. bewältigt werden konnten, beruht auf der Hilfe Dritter. Der Kläger hat hieran keinen Anteil. |
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| Dem Kläger fehlte während des Ermittlungs- und Strafverfahrens jede Bereitschaft, sich zu einem eigenen Fehlverhalten zu bekennen und Empathie für M. als Opfer seiner strafrechtlichen Handlungen zu entwickeln. Er schob - durch ein dem jeweiligen Ermittlungsstand angepasstes Aussageverhalten - die Verantwortung für die sexuellen Kontakte auf M., sein Alkoholproblem und sein soziales Umfeld (vgl. Strafurteil, S. 11 ff. unter III. 2.) und sah sich vielmehr selbst als das Opfer an. Der Kläger negierte jegliche Schutzwürdigkeit von M. und bestritt seine Verantwortung für die Schwangerschaft, indem er sie als eine Person darstellte, die während der Beziehung mit ihm auch mit zwei weiteren Männern Geschlechtsverkehr gehabt habe (Beschuldigtenvernehmung vom 20.12.2017, S. 7; vgl. ferner seine Einlassung zu den Tatvorwürfen im forensisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 30.07.2018, S. 14 f.). Das Strafurteil bietet keinen Anhalt für ein derartiges Verhalten von M. Nach den Ermittlungen der Polizei trafen die Angaben des Klägers nicht zu. M. hatte vor dem Kläger noch keine sexuelle Beziehung und insbesondere keine weitere während ihres Zusammenseins mit ihm (siehe u.a. die polizeiliche Vernehmung der Geschädigten vom 20.12.2017, S. 4 f., 8 f. sowie die polizeilichen Zeugenvernehmungen der von dem Kläger genannten beiden Männer, mit denen M. etwas „gehabt habe“, ... A. vom 09.01.2018 und ... W. vom 11.01.2018). Seine Haltung gegenüber M. hat der Kläger im Übrigen bis heute nicht verändert (siehe hierzu unten e). |
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| c) Die am 11.02.2017 gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB begangene gefährliche Körperverletzung und die am 19.04.2017 verübte versuchte räuberische Erpressung (§§ 253, 255, 22, 23 StGB) lassen in der konkreten Art und Weise der Durchführung der Taten ein hohes Aggressionspotential erkennen. Gegenüber dem Strafgericht ließ sich der Kläger bezüglich dieser Taten dahingehend ein, er habe nichts gemacht bzw. - beim Vorfall am 19.04.2017 - eine halbe Flasche Wodka getrunken. Eine Übernahme von Verantwortung für seine Handlungen war im Strafverfahren auch insoweit nicht zu erkennen. Zwar verhinderte der Kläger bei dem Körperverletzungsdelikt letztlich einen noch größeren Schaden für das Opfer dadurch, dass er seinen Mittäter von einem weiteren Angriff zurückhielt, jedoch waren schon die zuvor gemeinschaftlich durchgeführten Faustschläge und - als das Opfer schon auf dem Boden lag - weiteren Tritte geeignet, erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Bei der Handlung vom 19.04.2017 ging es „nur“ um eine Zigarette und die Tat kam auch über das Versuchsstadium nicht hinaus; die erlebte Bedrohung durch den Kläger, der kein erkennbarer Anlass vorausging, verängstigte das Opfer, eine Jugendliche von 17 Jahren, die der Kläger vom Sehen kannte, jedoch nachhaltig über das eigentliche Tatgeschehen hinaus. Bei beiden Taten sah das Strafgericht eine alkoholbedingte Enthemmung. Dass ihm Regeln und Grenzen gleichgültig waren, verdeutlichen auch die Taten des versuchten Betrugs und die Diebstahlsdelikte. |
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| d) Das Landgericht ... hielt selbst für den Fall, dass der Kläger bei allen Taten bereits das 18. Lebensjahr vollendet hätte, in Anbetracht der bei ihm vorliegenden Entwicklungs- und Reifeverzögerung die Anwendung von Jugendstrafrecht für angezeigt. Es begründete die Verhängung der Jugendstrafe mit gravierenden schädlichen Neigungen und führte aus, dass mit Blick auf den sexuellen Missbrauch zudem die Schwere der Schuld die Verhängung einer Jugendstrafe gebiete. Das Strafgericht stellte dem Kläger für den Fall, dass es ihm nicht gelingt, die bei ihm bestehende Alkohol- und Drogenproblematik sowie sein defizitäres soziales Verhalten zu bearbeiten, das Einhalten von Regeln sowie die Übernahme von Verantwortung für seine Taten und sein Leben zu erlernen, eine schlechte Kriminalprognose aus (siehe hinsichtlich der Einzelheiten Strafurteil, S. 17 ff. unter V). |
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| e) Dem Kläger ist bis heute die Einsicht in sein strafrechtliches Verhalten und dessen Aufarbeitung nicht gelungen. Dies gilt vor allem für den schweren sexuellen Missbrauch. |
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| Ausweislich der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ... vom 11.03.2021 können seit Juli 2020 regelmäßige Gespräche (ca. alle drei Wochen) zur Tat- und Persönlichkeitsaufarbeitung mit dem Kläger geführt werden, da ab April 2020 bei ihm „ein Hauch von Einsicht in die Eigenverantwortung eigenen Handelns herauszuhören“ gewesen sei. Dabei handelt es sich bei diesen Gesprächen der Stellungnahme zufolge nicht um Therapiegespräche im eigentlichen Sinne, sondern es geht um die Schaffung einer Grundlage für künftige Therapiegespräche. Für eine Therapie nach der Entlassung sieht der Psychologische Dienst der Justizvollzugsanstalt eine gewisse Eigenmotivation, da der Kläger erkannt habe, dass er es nach der Entlassung aus dem Strafvollzug nicht leicht haben werde. |
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| Aus der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ... vom 11.03.2021 ist allerdings ersichtlich, dass dem Kläger unverändert eine selbstkritische Betrachtungsweise bezüglich der abgeurteilten Sexualstraftaten nicht möglich ist. Er gibt nach wie vor an, er habe erst zwei Monate nach Beginn der Beziehung erfahren, dass die Freundin 13 Jahre alt gewesen sei; das Opfer habe ihm eine runtergehauen, weil er es danach abgelehnt habe, mit ihr zusammen zu sein, da sie keine 15 Jahre alt sei. Die Negierung der Verantwortung für das Sexualdelikt zeigt sich zudem in seinen Angaben in der Berufungsverhandlung. So erklärte er, er habe nicht gewusst, dass es strafbar sei, Sex mit einer 13-jährigen zu haben. Außerdem habe M. ausgesehen wie eine 20-jährige. Sie habe vor ihm und auch während der Beziehung zu ihm noch andere Sexualpartner gehabt. Er habe Schluss mit M. gemacht und nicht sie mit ihm. Die Schwangerschaft sei nicht durch ihn entstanden. Ungeachtet dessen, dass die klägerische Darstellung der Sexualstraftat, die die Oberpsychologierätin der Justizvollzugsanstalt festgehalten hat, in den Einzelheiten von seinen Angaben in der Berufungsverhandlung abweicht, kommt jedoch übereinstimmend zum Ausdruck, dass er nach wie vor jegliche Schuld von sich weist. Dies wird nicht dadurch relativiert, dass der Kläger auf Frage des Senats meinte, in Afghanistan wäre ein Mann bestraft worden, hätte er eine der Schwestern des Klägers mit 13 Jahren unverheiratet geschwängert, und er finde das bei M. auch nicht gut. |
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| Ferner verdeutlicht die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 11.03.2021, dass der Kläger deutliche Defizite in der Wertebildung und im Regelverständnis aufweist, auf Lügen, Egoismus und „Besitzergreifen“ gesetzt hat und darauf, sich die Welt „zurechtzubiegen“. Dem Psychologischen Dienst zufolge gelingt es dem Kläger - mit Ausnahme der verurteilten Sexualstraftaten - teilweise einzuräumen, dass er aggressiv, unzufrieden und egoistisch gewesen sei, gestohlen oder etwas kaputt gemacht oder gelogen habe. Dass Externalisierung von Verantwortung aber immer noch ein fester Bestandteil der Vorgehensweise des Klägers ist, ergibt sich nicht nur aus dieser Stellungnahme, wonach der Kläger Alkoholisierung als Ursache von Taten ansieht, sondern zeigt sich zudem in seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat. |
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| Weshalb ihm - anders als mit der Jugendstrafe u.a. intendiert (Strafurteil, S. 20 unter V. 3.) - im Strafvollzug kein erfolgreicher Schulbesuch gelungen ist, erklärt der Kläger allein mit seiner Situation als Sexualstraftäter. Er trug in der Berufungsverhandlung vor, im Jugendstrafvollzug habe es Probleme mit anderen Gefangenen gegeben, weil er Sexualstraftäter sei, und deswegen habe es da mit der Schule nicht geklappt. Auch in der jetzigen Strafanstalt liege die Ursache, warum er die Schule nicht habe machen können, darin, dass er Sexualstraftäter sei und von den anderen deswegen schlecht behandelt werde. Dieser Vortrag blendet völlig aus, dass die Verantwortung für den nicht erreichten Hauptschulabschluss und insbesondere auch für den Abbruch des Jugendstrafvollzugs beim Kläger selbst liegt. Für Gegenteiliges enthält die umfangreiche Gefangenenpersonalakte keine Erkenntnisse. |
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| Der Kläger war im Jugendstrafvollzug vom 10.12.2018 bis 08.03.2019 der Schule (LPA) zugewiesen. Dieser Einstufung lag zugrunde, dass damals der Stand des Klägers in Mathematik dem 1./2. Schuljahr entsprach, der Stand in Deutsch hinsichtlich des Textverständnisses auf dem Niveau des 4. Schuljahres und im Übrigen Rechtsschreibung und Grammatik mangelhaft waren (Gefangenenpersonalakte Bd. I, S. 121). Der Kurs endete nicht deshalb, weil der Schulbesuch mit einer Gefährdung von einzelnen Teilnehmern verbunden gewesen wäre, sondern allein lehrerbedingt. Zum Besuch des Hauptschulkurses ab Juli 2019 kam es jedenfalls deshalb nicht mehr, weil der Kläger zuvor in eine Strafanstalt für Erwachsene verlegt wurde. Der Schulbesuch im Jugendstrafvollzug zeichnete sich durch ein manipulatives, grenzüberschreitendes Verhalten des Klägers aus. So fiel er im Unterricht im Rahmen eines Methodenspiels zur Erlernung der deutschen Sprache durch ein schriftlich fixiertes sexualisiertes Verhalten auf; damit konfrontiert leugnete er jedoch jegliche Verantwortung. Der Unterricht wurde von ihm als Kontaktbörse genutzt, in dem er ständig quatschte, Grenzen austestete, andere für sich in puncto Hausaufgaben arbeiten ließ und jüngere und psychisch auffällige Mitgefangene benutze, um sie z.B. zum Klauen von Tabak oder zu anderen Diensten zu veranlassen (so wörtlich Fortschreibung des Erziehungsplanes vom 15.04.2019, S. 1 ff.; siehe auch Stellungnahme der Sozialtherapeutischen Abteilung vom 24.05.2019 , wonach der Kläger durch fehlende Motivation, Leugnung und Fehlen von Verantwortungsübernahme - auch was die Schule betrifft - negativ auffiel). |
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| Im Erwachsenenvollzug wurde der Kläger zunächst in den Vorkurs Hauptschule eingeteilt. Ungeachtet der Tatsache, dass der Kläger keine ausreichenden Noten erzielte und seine Hausaufgaben nicht selbst erledigte, erklärte sich die Schule bereit, ihn erneut in den Kurs aufzunehmen, jedoch mit Probezeit zur Beobachtung seines Sozialverhaltens und eigener Hausaufgabenerstellung (Fortschreibung Vollzugsplan vom 25.02.2020, S. 1). Nach der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 11.03.2020 war bedingt durch Corona eine Weiterführung des Schulbesuchs erst am 07.10.2020 möglich, was der Kläger wegen Befürchtungen (nicht verifizierbar), als Sexualstraftäter Probleme mit Mitgefangenen zu bekommen, abgelehnt hat; auf Rückfrage wurde eine Wiedereingliederung wegen fehlendem Engagement auch von der Schule nicht befürwortet (siehe ferner Fortschreibung des Vollzugsplans vom 24.09.2020, S. 3). |
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| Zwar können in einer Vollzugsanstalt Übergriffe - und sogar in einer massiven Form - von anderen Inhaftierten gerade auf Sexualstraftäter vorkommen (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 02.03.2021 - 12 S 3587/20 -, juris Rn. 15 f.). In der Justizvollzugsanstalt, in der der Kläger inhaftiert ist, geschah solches am 03.11.2020 (Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 14.04.2021, S. 3). Abgesehen davon, dass gegen Übergriffe konsequent eingeschritten wird, ist nach der weiteren Auskunft der Anstaltsleitung der Justizvollzugsanstalt ... vom 14.04.2021 Sexualstraftätern eine Beschulung uneingeschränkt zugänglich; ggfs. besteht für Gefangene sogar die Möglichkeit einer Art „Homeschooling“ in der Zelle. Es hängt somit von dem Einzelnen ab, ob er die Möglichkeiten der Beschulung nutzt. |
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| Allein schon die zeitlichen Verortungen sprechen dafür, dass der Kläger vorkommende Übergriffe von Mitgefangenen auf (einen) Sexualstraftäter benutzt, um retroperspektiv ein Schulversagen nicht eingestehen zu müssen. Ausgehend davon, dass es ihm schon in einem persönlichen, strafrechtlich irrelevanten Bereich nach wie vor nicht gelingt, von einer Externalisierung Abstand zu nehmen, zeichnet sich auch hinsichtlich der Straftaten eine nachhaltige Verantwortungsübernahme nicht ab. Dass es hieran mangelt, verdeutlicht zudem sein Vorbringen auf Fragen zu seinen Straftaten und deren Ursachen. Soweit er sich zu seinen Straftaten in der Berufungsverhandlung verhalten hat, waren die Antworten oberflächlich, in dem er sich als damals jung, dumm und nicht reif darstellte sowie versicherte, er bereue dies und werde dies nie wieder in seinem Leben machen. Dies entspricht im Wesentlichen auch seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht etwa ein Jahr zuvor. Es lässt sich nicht erkennen, dass der Kläger die Haft genutzt hätte, um sich mit seiner eigenen Straffälligkeit und deren Ursachen adäquat auseinanderzusetzen. Auffällig ist außerdem, dass der Umgang des Klägers innerhalb der Haft vorwiegend mit jüngeren Mitgefangenen erfolgt (Fortschreibung des Erziehungsplans vom 15.04.2019, S. 1; Fortschreibung des Vollzugsplans vom 24.09.2020, S. 2 und vom 25.02.2020, S. 2) - und damit mit einem Personenkreis, der - letztlich ebenso wie sein Opfer der Sexualstraftat - tendenziell schwächer und leichter zu beeinflussen ist. |
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| f) Des Weiteren sind die Ursachen der Straffälligkeit unverändert vorhanden. |
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| Die beim Kläger indizierte Sozialtherapie konnte aufgrund seines eigenen Verhaltens nicht durchgeführt werden; der Aufenthalt in der sozialtherapeutischen Abteilung des Jugendstrafvollzugs musste abgebrochen werden. Aus den Ausführungen zur diagnostischen und prognostischen Einschätzung in der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 11.03.2021 wird deutlich, dass ausgehend von einer von Unzulänglichkeiten, Überforderung und Haltlosigkeit geprägten Biographie des Klägers eine dissoziale Entwicklung entstand, die von Unzufriedenheit, emotionaler Bedürftigkeit und Aggression getragen ist, die der Kläger jedoch über ein pseudoselbstbewusstes, auf Durchsetzung bedachtes Verhalten überspielte oder mit Suchtmittelkonsum verdrängte. Diese Persönlichkeitsstruktur ist nach wie vor gegeben. Aus Sicht der Vollzugsanstalt besteht keine vorrangig erhöhte Rückfallgefahr speziell für ein Sexualdelikt, jedoch eine erhöhte Rückfallgefahr für insgesamt aggressive Delikte, sofern der Kläger nicht über Anleitung und Kontrolle im Rahmen einer klaren Struktur verfügt. |
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| Dass bei dem Kläger keine pädophilen Neigungen bestehen, hat schon das Strafverfahren gezeigt. Allerdings sieht der Senat vor dem Hintergrund der nicht aufgearbeiteten Straftaten und der nicht durchgeführten psychotherapeutischen Behandlung sowie der Alkoholproblematik und eines seit dem 13. Lebensjahr praktizierten Konsums von vorwiegend Haschisch und Marihuana (allerdings hier in Deutschland auch gelegentlich Ecstasy oder Kokain ) die sehr ernstzunehmende Gefahr, dass der Kläger in frühere Verhaltensmuster mit damit einhergehender Delinquenz zurückfällt. Dies bedeutet nicht nur, dass sich Körperverletzungsdelikte oder andere Delikte, denen Aggressionen innewohnen können (wie Nötigung, räuberische Erpressung) wiederholen, sondern schließt es ein, dass er zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse eine unreife, von ihm manipulierbare Minderjährige benutzt oder sexuelle Verhaltensweisen an den Tag legt, die von Aggressionen begleitet sein können. Zwar sieht der Senat, dass der Kläger nach einem zunächst sehr auffälligen Verlauf der Inhaftierung, bei dem es immer wieder auch zu disziplinarischen Maßnahmen gekommen ist (vgl. die zusammenfassende Darstellung des Vollzugsverlaufs in der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ... vom 11.03.2021), seit Februar 2020 einen beanstandungsfreien Vollzug aufweist und sich sein Verhalten gegenüber Bediensteten ebenfalls gebessert hat. Abgesehen davon, dass die Akzeptanz von Regeln im Vollzug eine Selbstverständlichkeit ist, ist daraus nicht zu schließen, dass es dem Kläger unter den Bedingungen der Freiheit gelingt, sich nunmehr und insbesondere in von ihm als schwierig empfundenen Situationen an Regeln zu halten. |
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| g) Die vom Kläger ausgehende Rückfallgefahr verdeutlicht auch der Beschluss des Amtsgerichts ... vom 29.03.2021 - 6 VRJs 178/19 -. Nach diesem Beschluss hat das Vollstreckungsgericht keine Gründe gesehen, die für ein Entfallen der kraft Gesetzes nach § 68f Abs.1 StGB eintretenden Führungsaufsicht sprechen (vgl. zur Verfassungsmäßigkeit des Eintritts der Führungsaufsicht nach § 68f Abs.1 StGB nach Verbüßung einer Einheitsjugendstrafe BVerfG, Beschluss vom 26.02.2008 - 2 BvR 2143/07 -, juris Rn. 5 ff.; Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 68f Rn. 4a). Das Amtsgericht ist zur Überzeugung gelangt, es könne aufgrund der Einstellung des Klägers, der Vollzugserfahrung und seiner Persönlichkeit nicht erwartet werden, dass er auch ohne Führungsaufsicht in Zukunft keine Straftaten mehr begehen werde. Sowohl die Justizvollzugsanstalt ... als auch die GZS KURS hatten sich zuvor dagegen ausgesprochen, dass die Führungsaufsicht entfällt. Bei der GZS KURS handelt es sich um die Gemeinsame Zentralstelle beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg gemäß Ziffer 3 der Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums, des Justizministeriums und des Sozialministeriums zu einer ressortübergreifenden Konzeption zum Umgang mit besonders rückfallgefährdeten Sexualstraftäterinnen und Sexualstraftätern (VwV KURS) vom 13.10.2020 - Az.: 3-1211.2/313 - (GABl. 2020, 749). |
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| Dieser Beschluss stellt dem Kläger für die Dauer der dreijährigen Führungsaufsicht nicht nur einen hauptamtlichen Bewährungshelfer zur Seite, sondern enthält zusätzlich flankierende Weisungen nach § 68b Abs. 1 StGB, die strafbewehrt sind, sowie nicht strafbewerte Weisungen nach § 68b Abs. 2 StGB. Zu nennen sind u.a. das Verbot des Konsums illegaler Drogen aller Art und von Alkohol, Maßnahmen zur Kontrolle der Abstinenz, die Wahrnehmung von Terminen bei der Suchtberatung sowie die Anweisung zur Vorstellung bei einer forensischen Ambulanz mit dem Ziel einer psychotherapeutischen Behandlung. Dass auch das Vollstreckungsgericht eine relevante Rückfallwahrscheinlichkeit für ein einschlägiges Sexualdelikt sieht, verdeutlichen die verschiedenen Verbote zum Kontakt im weiteren Sinne mit weiblichen Kindern unter 14 Jahren (im Einzelnen Ziffer 4 e. bis g. des Beschlusses). Die Schlüssigkeit dieser Umgangsverbote wird nicht dadurch infrage gestellt, dass der Kläger gleichzeitig angewiesen wird, nach seiner Entlassung Wohnung bei seinem Bruder zu nehmen (Ziffer 3 des amtsgerichtlichen Beschlusses), in dessen Haushalt auch Töchter leben, denn es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sexuelle Aktivitäten des Klägers innerhalb der eigenen Familie stattfinden könnten. Als weitere Präventionsmaßnahme ist zudem der regelmäßige Kontakt zwischen dem Kläger und dem für seinen Wohnort polizeilich zuständigen Fachkoordinator KURS angeordnet (im Einzelnen Ziffer 4 c. des Beschlusses). Den für den Wohnort zuständigen Polizeidienststellen obliegt u.a. die Festlegung und Koordinierung der gefahrenabwehrrechtlichen Maßnahmen bei Risikoprobanden (Ziffer 5.8. VwV KURS). |
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| h) Es gibt im Leben des Klägers bislang auch keine Faktoren, aus denen geschlossen werden könnte, sie wären verlässlich geeignet, dem nach der Persönlichkeit des Klägers bestehenden Rückfallrisiko entgegenzuwirken. Der Senat sieht in der vom Kläger beschriebenen derzeitigen Beziehung zu einer 26 Jahre alten Frau aufgrund der ihr immanenten Ungewissheiten und der nicht realitätsnahen Erwartungen keinen Umstand, der sich prognostisch zu seinen Gunsten auswirkt. Nach den Angaben des Klägers in der Berufungsverhandlung handelt es sich bei dieser Frau um eine Strafgefangene in der Schweiz, die sich in einem Vollzugsmodell befindet, welches ihr erlaubt, über das Wochenende nach Hause zu gehen, und die der Kläger über eine Kontaktanzeige in einer im Gefängnis verfügbaren Zeitung kennengelernt hat. Der Kontakt erfolgt bisher brieflich und per Telefon. Der Kläger erklärte, die Frau wisse, dass er im Gefängnis sitze und warum, weshalb sie im Gefängnis sei, wisse er bislang nicht; er habe nicht gefragt. Es sei für sie beide okay, dass er etwas jünger sei. Sie seien am Überlegen, ob er in die Schweiz komme, um sich besser kennenzulernen und zu heiraten; wenn das nicht gehe, komme sie eventuell nach Deutschland. |
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| Es ist ferner nicht zu erwarten, dass vom Bruder des Klägers entscheidende Impulse für eine künftige Straffreiheit kämen. So hat sich der Kläger bereits vor seiner Inhaftierung „nichts von seinem Bruder sagen lassen“; während der Inhaftierung hat es ausweislich der Besuchsliste kaum Besuche des Bruders in der Haftanstalt gegeben. Im Übrigen ergibt sich aus der Ausländerakte des Bruders, dass dieser nach den Feststellungen bei einer polizeilichen Verkehrskontrolle am 25.04.2018 um 11.30 Uhr unter Drogeneinfluss (THC) seinen Pkw führte. Außerdem weist die Auskunft aus dem Zentralregister vom 17.04.2019 eine Verurteilung vom 17.12.2018 wegen Betrugs in drei Fällen zu einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je 20 Euro aus. Dem Strafbefehl lag zugrunde, dass er eine geringfügige Beschäftigung bei einem Pizza Service aufgenommen hatte, ohne seine Einkünfte dem Jobcenter mitzuteilen. Die uneingeschränkte Eignung des Bruders, den Kläger zu einer straffreien Lebensführung anzuleiten, liegt daher keineswegs auf der Hand. |
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| Des Weiteren ist nicht ersichtlich, dass der Kläger sich von seinem früheren sozialen Umfeld losgesagt hätte, welches die Begehung von Straftaten insbesondere aufgrund gemeinsamen Alkohol- und Drogenkonsums begünstigt hat. So haben ihn afghanische Freunde aus diesem Kreis in der Vollzugsanstalt besucht. |
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| Der Kläger hat keinen Hauptschulabschluss erlangt oder eine sonstige Qualifikation erreicht, die nunmehr Ausgangspunkt für einen strukturierten Alltag sein könnte. Er hat zwar in der Berufungsverhandlung angegeben, dass er eine Umschulung zur Fachkraft für Lagerlogistik machen wolle, was der Sozialarbeiter mit dem Arbeitsamt organisiert habe, und parallel abends den Hauptschulabschluss erreichen wolle. Das Bemühen um einen Schul-, Ausbildungs- oder Arbeitsplatz gehört zu den Weisungen, die dem Kläger im Rahmen der Führungsaufsicht erteilt worden sind (vgl. Ziffer 4 h des Beschlusses des Amtsgerichts ... vom 29.03.2021). Auch für eine Therapie ist er seinen Angaben zufolge motiviert. Nach den Erkenntnissen, die sich aus den Gefangenenpersonalkaten ergeben, und insbesondere nach dem persönlichen Eindruck, den der Senat vom ihm während der Verhandlung gewonnen hat, ist der Kläger bislang nicht in einer Weise nachgereift oder durch die Haft geprägt, dass verlässlich damit zu rechnen wäre, seinen Bekundungen würden aus eigenem Antrieb die entsprechenden positiven Taten folgen. Die Aktivitäten, die der Kläger nunmehr realisieren möchte, erfordern eine Disziplin, die er bisher nicht gezeigt hat, weshalb es der Senat für nicht wahrscheinlich hält, dass er ein solches Pensum bewältigt. |
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| 3) Der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegende Folgeantrag führt dazu, dass die Ausweisung den Vorgaben des § 53 Abs. 4 AufenthG genügen muss. |
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| Gemäß § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Nach § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG wird von der Bedingung abgesehen, wenn (1.) ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3 eine Ausweisung rechtfertigt oder (2.) nach Nr. 2 eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist. |
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| Das Regierungspräsidium hat § 53 Abs. 4 AufenthG dem Erlass der angefochtenen Verfügung vom 18.06.2019 zugrunde gelegt. Die gerichtliche Prüfung der Ausweisungsverfügung anhand dieses Maßstabs ist nicht deshalb entbehrlich geworden, weil der Bescheid des Bundesamts vom 21.09.2017 im Laufe des Berufungsverfahrens unanfechtbar und damit das Asylverfahren ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes abgeschlossen worden ist. Denn der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats vorliegende Folgeantrag vom 17.03.2021 unterfällt ebenfalls dieser Regelung. |
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| Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt (§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG). |
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| Soweit Regelungen des Aufenthaltsgesetzes an einen „Asylantrag“ anknüpfen, können diese auch den Folgeantrag erfassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.07.2016 - 1 C 23.15 -, juris Rn. 12 ff. - zu § 10 Abs. 1 AufenthG; Senatsbeschluss vom 26.03.2019 - 12 S 502/19 -, juris Rn. 9 ff. - zu § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 AufenthG). Ob der Folgeantrag ein Asylantrag im Sinne des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ist, bestimmt sich nach allgemeinen Auslegungskriterien. Hiervon ausgehend wird auch der Folgeantrag als Asylantrag im Sinne des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG angesehen (Neidhardt, HTK-AuslR / § 53 AufenthG / Abs. 4 Rn. 4 ; für die entsprechenden Vorgängerregelungen: VG Augsburg, Urteil vom 19.09.2006 - Au 1 K 06.346 -, juris Rn. 26 § 56 Abs. 4 AufenthG in der bis 31.12.2015 geltenden Fassung> sowie VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.01.2002 - 10 S 777/01 -, juris Rn. 33 ; Bayerischer VGH, Beschluss vom 18.07.1994 - 11 CS 94.1887 -, InfAuslR 1994, 346; VG Gießen, Urteil vom 30.03. 2000 - 7 E 290/96 -, juris Rn. 2, 17; wohl auch VG Ansbach, Beschluss vom 25.05.1994 - AN 17 S 94.37623 -, juris ; GK-AuslR, § 48 Rn. 117 f. ; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, § 40 Rn. 328 § 48 Abs. 3 AuslG in der ab 01.07.1992 geltenden Fassung>; anderer Ansicht Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 311 , demzufolge § 53 Abs. 4 AufenthG auf einen Erstantrag zugeschnitten sei). |
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| aa) Aus dem systematischen Verhältnis zwischen § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG und § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG lässt sich nicht schließen, der Folgeantrag unterfalle generell nicht § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Bei einem Folgeantrag liegt - im Fall des insgesamt unanfechtbar negativ abgelehnten ersten Schutzbegehrens (§ 13 Abs. 2, § 24 Abs. 2 AsylG) - bereits eine vollziehbare Abschiebungsandrohung vor. Dieses Verhältnis ist aber nicht die Konstellation, die § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG regelt. Nach dieser Norm kommt es darauf an, ob eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vor dem unanfechtbaren Abschluss des jeweiligen Asylverfahrens vollziehbar „geworden ist“. Erfasst wird damit beispielsweise nach §§ 30, 36 AsylG die - im Eilverfahren gerichtlich bestätigte - Abschiebungsandrohung wegen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 17.02.2021 - 2 LC 311/20 -, juris Rn. 83; Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 251 ; Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 141 ff.). Führt ein Folgeantrag nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, so bedarf es nach § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG zum Vollzug der Abschiebung keiner erneuten Fristsetzung und Abschiebungsandrohung oder -anordnung. Daraus folgt indes nicht zwingend, die Vorschrift des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG wäre nur auf den Erstantrag zugeschnitten, weil andernfalls bei einem unzulässigen Folgeantrag, dem keine Abschiebungsandrohung beigegeben wird, mangels Eingreifens von § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ein weitergehendes Schutzniveau gegeben wäre als bei einem Erstantrag (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 311 ). Abgesehen davon, dass im Fall des § 71 Abs. 5 Satz 1 AufenthG der Erlass einer Abschiebungsandrohung zwar nicht vorgeschrieben, rechtlich allerdings auch nicht verwehrt ist und im Lichte des Unionsrechts ggfs. sogar geboten sein kann (vgl. näher Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 315 ff. ), lässt sich § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG jedenfalls sinngemäß anwenden für die Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AufenthG oder auf den die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ablehnenden Bescheid (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 311 ). |
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| bb) Zwar ist mit der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Erst- und Folgeantrag im nationalen Recht eine Schlechterstellung des Folgeantragstellers hinsichtlich des Aufenthaltsstatus und der Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung intendiert, insbesondere indem Regelungen zum Asylverfahren nach dem Asylgesetz nicht oder nur modifiziert Anwendung finden (näher Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 103 ff. ). Auch die Richtlinie 2013/32/EU vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes - Verfahrensrichtlinie - (ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 60) sieht nach Art. 40 ff. eine besondere Struktur für die Prüfung von Folgeanträgen vor (vgl. hierzu etwa Schlussanträge des Generalanwalts vom 11.02.2021 - C-921/19 - LH -, juris Rn. 32 ff.). Jeder Folgeantrag ist jedoch ein (weiterer) Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 13 AsylG (Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 103 ; siehe auch die Definition in Art. 2 lit. q Richtlinie 2013/32/EU). In Konsequenz dessen gilt, dass auf einen zulässigen Folgeantrag hin ein Drittstaatsangehöriger internationalen Schutz erhält, wenn bei ihm die vom Unionsrecht für die Erlangung des Status der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes aufgestellten Anforderungen (vgl. Kapitel II ff. Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikations- oder Anerkennungsrichtlinie - ) vorliegen. |
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| cc) § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Asylsuchender gegenüber anderen Ausländern nur für den Fall schutzwürdiger ist, dass er tatsächlich die Voraussetzungen für den internationalen Schutz erfüllt, weshalb die Ausweisung greift, wenn sein Schutzbegehren unanfechtbar erfolglos bleibt. Gewährleistet wird dies dadurch, dass der Beginn der (inneren) Wirksamkeit der Ausweisung durch den Nichteintritt des Ereignisses der Anerkennung als Asylberechtigter, der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Zuerkennung des internationalen Schutzes bedingt ist. Mit dieser Konstruktion wird vermieden, dass ungeachtet eines laufenden Verfahrens beim Bundesamt durch die Ausweisung eine Ausreisepflicht nach dem Aufenthaltsgesetz entsteht. Des Weiteren erfolgt die Bedingung mit Rücksicht auf den besonderen Ausweisungsschutz und den Anspruch auf Titelerteilung, den Drittstaatsangehörige haben, wenn ihnen ein internationaler Schutzstatus zuerkannt wird (vgl. § 25 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 24 Richtlinie 2011/95/EU). Der aufschiebenden Bedingung während eines laufenden Verfahrens nach dem Asylgesetz bedarf es daher nicht in einer Konstellation, in dem die Ausweisung auch dann zulässig wäre, wenn bereits eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorläge (vgl. § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG sowie unten 4) oder eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist (53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG), womit umschrieben ist, dass das Schutzbegehren eindeutig keine Aussicht auf Erfolg hat und daher - auch als Ergebnis des ggfs. durchgeführten vorläufigen Rechtsschutzverfahrens - die Vollstreckung der Ausreisepflicht schon vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung des Bundesamts zulässig ist. Mit Blick auf die genannten Zwecke macht es keinen Unterschied, ob ein Erst- oder ein Folgeantrag vorliegt. |
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| dd) Ob auf einen Asylantrag oder einen Folgeantrag hin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes erfolgt oder ggfs. ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG festgestellt wird, ist allein der Kompetenz des Bundesamts überantwortet - mit den sich dann ggfs. aus § 6 Satz 1 AsylG, § 24 Abs. 2 i.V.m. § 42 AsylG ergebenden Bindungswirkungen in positiver oder negativer Hinsicht. Die Einbeziehung auch des Folgeantrags in § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG entspricht den gesetzlich normierten Zuständigkeiten und Abgrenzungen der Prüfungsinhalte zwischen einem Asylverfahren einerseits und einem Ausweisungsverfahren andererseits, mit denen auch sichergestellt wird, dass widersprüchliche Bewertungen und Ergebnisse verschiedener Behörden insbesondere bezogen auf den Herkunftsstaat vermieden werden. |
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| ee) Ein Verständnis des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG dahingehend, dass der Folgeantrag erfasst wird, gewährleistet außerdem, dass der Ausländer nicht den Weg des Wiederaufgreifens des Verfahrens (§ 51 Abs. 1 VwVfG) beschreiten muss, wenn der noch während des Ausweisungsverfahrens gestellte Folgeantrag nach Eintritt der Bestandskraft der Ausweisung zu einem Schutzstatus führt. § 25 Abs. 1 Satz 2 AufenthG und § 25 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, nach welchen einem Asylberechtigten oder einem Ausländer, dem vom Bundesamt ein internationaler Schutzstatus zuerkannt worden ist, keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, wenn er aufgrund eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 AufenthG ausgewiesen worden ist, sehen eine aufenthaltsrechtliche Sperrwirkung vor, die jedenfalls nach dem Wortlaut über die Wirkungen der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG geregelten Titelerteilungssperre hinausgeht. Ob diese auch nach Maßgabe des § 11 Abs. 4 AufenthG aufgehoben werden könnte, ist zumindest nicht eindeutig zugunsten des Betroffenen zu beantworten (dies wohl bejahend Röcker in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 25 Rn. 20; dies - in Auseinandersetzung mit BVerwG, Urteil vom 06.03.2014 <- 1 C 2.13 -, juris Rn. 10 - zu § 25 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F.> - verneinend Wittmann in: GK-AufenthG, § 25 Rn. 52 ). |
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| ff) Auch die Entstehungsgeschichte der Norm kann als Argument für die Erfassung des Folgeantrags in § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG herangezogen werden. |
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| Mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung 27.07.2015 (BGBl. I S. 1386) kam - auf Vorschlag des Innenausschusses (BT-Drs. 18/5420 vom 01.07.2015, S. 15, 27) - die jetzige Fassung des § 53 Abs. 4 in das Aufenthaltsgesetz. Diese entspricht dem bisherigen Normtext in § 56 Abs. 4 in der bis 31.12.2015 geltenden Fassung. Damit wurde die zunächst bestehende Absicht nach dem Gesetzentwurf, die Stellung eines Asylantrags in § 55 AufenthG als besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse zu bewerten, nicht verwirklicht. § 56 Abs. 4 AufenthG - ursprünglich in der Fassung des Zuwanderungsgesetzes (BGBl. 2004 I S. 1950) - griff die vor dem 01.01.2005 geltende Regelung des § 48 Abs. 3 AuslG auf und ergänzt ihren Anwendungsbereich um die Ausländer, deren Asylverfahren unanfechtbar ohne die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs.1 abgeschlossen wurde (siehe die Begründung des Gesetzesentwurfs BT-Drs. 15/420, S. 91). |
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| § 48 Abs. 3 AuslG lautete ab dem 01.07.1992 und bis 31.12.2004 dahingehend, dass ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nur unter der Bedingung ausgewiesen werden kann, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn (1.) ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 1 eine Ausweisung rechtfertigt, oder (2.) eine nach den Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist. Begründet wurde dies mit folgender Überlegung (Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens, BT-Dr. 12/2062 vom 12.02.1992, S. 43): |
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| „Die Vorschrift enthält notwendige Folgeänderungen aus der Neuregelung des Asylverfahrensrechts. § 48 Abs. 3 AuslG regelt die Ausweisung von Asylbewerbern. Nach seiner bisherigen Fassung gilt er nur für die Asylbewerber, die einen beachtlichen Asylantrag gestellt haben, während für Ausländer, die einen unbeachtlichen Asylantrag gestellt haben, uneingeschränkt dieselben Vorschriften gelten wie für Ausländer, die keinen Asylantrag gestellt haben. Da nach dem neuen Asylverfahrensrecht die Unbeachtlichkeitsprüfung dem Bundesamt und nicht mehr der Ausländerbehörde obliegt, kann diese vor der Entscheidung des Bundesamtes nicht mehr zwischen beachtlichen und unbeachtlichen Asylanträgen unterscheiden. Deshalb muss im § 48 Abs. 3 AuslG auf diese Differenzierung verzichtet werden. Dementsprechend werden in § 48 Abs. 3 Satz 1 AuslG durch die Streichung des Wortes „beachtlichen" die unbeachtlichen mit den beachtlichen Asylanträgen und durch die Neufassung des § 48 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AuslG die als unbeachtlich abgelehnten den als offensichtlich unbegründet abgelehnten Asylanträgen gleichgestellt.“ |
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| Auf die Frage, ob ein Asylantrag eine bestimmte Qualität aufweisen bzw. eine bestimmte Hürde genommen haben musste, kam es für den Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 3 AuslG in der Fassung vom 01.07.1992 nicht mehr an (vgl. zur früheren Begrenzung der Geltung des Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 3 AuslG a.F. auf beachtliche Asylanträge das Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26.06.1992 sowie die Begründung hierfür im Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drs. 11/6321 vom 27.01.1990, S. 74). |
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| gg) Der hier vorliegende Folgeantrag ohne vorherige Ausreise führt nach nationalem Recht nur zur vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung kraft Gesetzes nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG und löst - bis zur Einleitung eines weiteren Asylverfahrens durch das Bundesamt - die Aufenthaltsgestattung des § 55 Abs. 1 AsylG nicht aus (vgl. etwa OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.11.2019 - 13 ME 331/19 -, juris Rn. 14; Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 144 ff. ; siehe aber für den zwischenzeitlich ausgereisten Folgeantragsteller § 71 Abs. 2 Satz 2 AsylG i.V.m. § 55 AsylG). |
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| Soweit angenommen wird, § 53 Abs. 4 AufenthG gelte erst dann für den Folgeantragsteller, wenn nach Maßgabe des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ein weiteres Asylverfahren durchgeführt wird (Hailbronner, AuslR, § 53 AufenthG Rn. 246 ; Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 135; wohl auch Hocks in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 19 Rn. 758, der erst den gestatteten Aufenthalt des Asylsuchenden als besonders geschützt ansieht), ist dies kein geeignetes Abgrenzungskriterium, weil die Entscheidung des Bundesamts zur Durchführung eines neuen Asylverfahrens nicht gesondert getroffen und verlautbart werden muss (vgl. Bergmann in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 71 AsylG Rn. 14, 42), weshalb der genaue Zeitpunkt des Übergangs nicht in allen Fällen zweifelsfrei bestimmt werden kann. Im Übrigen kommt es ausgehend vom Zweck des § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auf die Frage, ob der Aufenthalt des Folgeantragstellers geduldet oder gestattet ist, letztlich nicht an. Unabhängig davon ist auch bei einem nicht ausgereisten Folgeantragsteller nach Art. 9 Richtlinie 2013/32/EU zunächst ein Recht auf Verbleib im Bundesgebiet anzunehmen (vgl. näher Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 154 ff. ). |
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| hh) Der Einbeziehung des Folgeantragstellers in den Schutz des § 53 Abs. 4 AufenthG lässt sich nicht entgegenhalten, damit bestehe die Gefahr, dass eine Ausweisung durch die Stellung eines Folgeantrags unterlaufen werden könne, weshalb eine restriktive Auslegung der Norm geboten sei. Abgesehen davon, dass selbst die nachträgliche Stellung eines ersten Asylantrags Auswirkungen auf das Ausweisungsverfahren hat, kann auch noch in einem bereits anhängigen Klageverfahren der veränderten Sachlage (Asylantrag des Ausländers) etwa durch Hinzufügung der in § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vorgesehenen Bedingung durch die Behörde Rechnung getragen werden; trotz des Wortes „kann“ handelt es sich nicht um eine Ermessensbestimmung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.05.2007 - 13 S 152/07 -, juris Rn. 4 ff.; Bauer in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 53 Rn. 102). Im Übrigen kann durch eine ordnungsgemäße Umsetzung der zwingenden und fakultativen Bestimmungen der Richtlinie 2013/32/EU zum Folgeantrag (vgl. zu den Anforderungen an die Umsetzung etwa Schlussanträge des Generalanwalts vom 15.04.2021 - C-18/20 -, juris Rn. 64 ff., 88 ff., insb. 109) - wie etwa zu den Ausnahmen vom Recht auf Verbleib im Mitgliedstaat während des Verwaltungsverfahrens nach Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 41 Richtlinie 2013/32/EU (siehe hierzu Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 154.1 ) - dafür Sorge getragen werden, dass Folgeanträge nicht zum Zwecke der Verzögerung eingesetzt werden können. |
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| Das Bundesamt hat auf den Folgeantrag hin mit Bescheid vom 25.03.2021 unter Heranziehung von § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG entschieden, dass der Asylantrag unzulässig ist. Es fehle an der nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG erforderlichen Änderung der Sachlage (siehe im Einzelnen Bescheid S. 3 f.). Dem Bescheid zufolge (S. 7) bedarf es gemäß § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG keiner erneuten Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung, da die erlassene Abschiebungsandrohung weiter gültig und vollziehbar ist. |
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| Gegen den am 30.03.2021 zugestellten Bescheid hat der Kläger mit Schrift-sätzen vom 06.04.2021 Klage erhoben und einen Eilantrag gestellt, mit dem er beantragt, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Afghanistan vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Klageverfahren nicht erfolgen darf. Über das Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz ist in dem für die Ausweisung maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats nicht entschieden. |
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| Ungeachtet der Frage, ob der Eilantrag noch sachdienlich auszulegen wäre, ist jedenfalls der Verbleib des Klägers im Bundesgebiet unionsrechtlich bis zur Entscheidung über das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gesichert, weshalb zumindest derzeit kein Fall des § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG vorliegt. Zwar ist diese Regelung eine rein nationale, dies entbindet aber nicht von der Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben für asylrechtliche Sachverhalte, an die § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG anknüpft. |
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| Bei der hier der Sache nach vorliegenden Entscheidung des Bundesamts nach Art. 33 Abs. 2 lit. d) Richtlinie 2013/32/EU, wonach die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, sieht Art. 46 Abs. 6 lit. b) i.V.m. Abs. 8 dieser Richtlinie vor, dass der Antragsteller bis zum Abschluss des - hier von ihm in Gang gesetzten - vorläufigen Rechtsschutzverfahrens gegen die Entscheidung der Asylbehörde im Mitgliedsstaat verbleiben darf. Ob sich der Antragsteller über die Beendigung des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes hinaus bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens im Mitgliedstaat aufhalten darf, bestimmt sich hingegen nach der in jenem Eilverfahren getroffenen Entscheidung (Senatsbeschluss vom 26.10.2020 - 12 S 2380/20 -, juris Rn. 13 und unter Hinweis u.a. auf Vedsted-Hansen in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2nd. Ed., 2016, Part D IV, Art. 46 Rn. 4 - zu Art. 46 Abs. 6 und Abs. 8 Richtlinie 2013/32/EU). Vom Vorhandensein einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung aus dem ersten Asylverfahren darf daher jedenfalls so lange nicht ausgegangen werden, wie das gerichtliche Eilverfahren nicht zu Lasten des Folgeantragstellers entschieden ist. Erst danach könnten die Überlegungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in seinem Urteil vom 15.02.2016 (C- 601/15 PPU -, juris Rn. 75) greifen, wonach jedenfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115/EG vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger - Rückführungsrichtlinie - (ABl. 2008 L 348, S. 98) verlangt, dass ein nach dieser Richtlinie eingeleitetes Verfahren, in dessen Rahmen eine Rückkehrentscheidung, gegebenenfalls einhergehend mit einem Einreiseverbot, ergangen ist, in dem Stadium, in dem es wegen der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz unterbrochen wurde, wieder aufgenommen werden kann, sobald dieser Antrag erstinstanzlich abgelehnt wurde; die Mitgliedstaaten dürfen nämlich die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels, das darin besteht, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zu schaffen, nicht beeinträchtigen (vgl. hierzu auch Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 71 Rn. 315.3 ). |
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| c) Der Beifügung einer Bedingung nach § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bedarf es aber deshalb nicht, weil nach § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt (nachfolgend 4). Soweit im Gesetzestext Absatz 3 in Bezug genommen wird, handelt es sich um ein Redaktionsversehen. |
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| aa) Mit dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 ist der einheitliche Maßstab in § 53 Abs. 3 AufenthG für die Ausweisung von Asylberechtigten, Konventionsflüchtlingen, assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen und Inhabern einer Daueraufenthaltserlaubnis-EU, der eine vom Ausländer ausgehende gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung fordert, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist, durch differenzierte Regelungen ersetzt worden. § 53 Abs. 3 AufenthG betrifft nur noch den Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU besitzt. § 53 Abs. 3a AufenthG regelt nunmehr die Ausweisung eines Ausländers, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt. § 53 Abs. 3b AufenthG gilt für einen Ausländer, der die Rechtsstellung eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG genießt. § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG wurde nicht verändert; Überlegungen des Gesetzgebers hierzu lassen sich dem Gesetzgebungsvorgang nicht entnehmen (vgl. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht BT-Drs.19/10047 vom 10.05.2019, S. 12 f., 34 f. ; BR-Drs. 179/19 vom 18.04.2019, S. 5; 31 f. zu Nr. 10; BT-Drs. 19/10506 vom 29.05.2019 ). Aus dem Protokoll der Anhörung im Innenausschuss (57. Sitzung vom 03.06.2019, Protokoll-Nr. 19/57) ergeben sich ebenfalls keine Hinweise darauf, dass § 53 Abs. 4 AufenthG angesprochen worden wäre. |
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| bb) Mit dem Argument, aus der Entstehungsgeschichte des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht lasse sich kein Anhaltspunkt dafür erkennen, der Gesetzgeber habe in § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG versehentlich die Verweisung auf Absatz 3 beibehalten, wird der Maßstab des Absatzes 3 als nach wie vor relevante gesetzgeberische Entscheidung betrachtet, und ein Grund für die Beschränkung des Asylantragstellers auf den Maßstab des Absatzes 3 darin gesehen, dass mit der Einreichung eines Asylantrags regelmäßig noch unklar sei, ob der vorgebrachte Schutzgrund eine Flüchtlingsanerkennung oder subsidiäre Schutzberechtigung zu begründen geeignet sei (siehe näher Hailbronner, AuslR, § 53 AufenthG Rn. 248 f. ; ebenso den Verweis auf Absatz 3 annehmend Fleuß in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 53 AufenthG Rn. 139 f.; wohl auch Bayerischer VGH, Beschluss vom 13.01.2020 - 10 ZB 19.1599 -, juris Rn. 13; VG Saarland, Beschluss vom 28.01.2021 - 6 K 1038/19 - n.v. 2 D 51/21 -, juris Rn. 9, 12>). |
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| cc) Allerdings hat der Gesetzgeber seit Jahrzehnten ein Regelungsregime vorgesehen, nach dem für die unbedingte Ausweisung eines Asylantragstellers die Maßstäbe gelten, die für die Ausweisung eines Asylberechtigten bzw. - im Zuge der Europäisierung des Asylrechts - eines anerkannten Flüchtlings zu beachten sind. Die Ausweisung eines Asylantragstellers kam schon unter der Geltung von §§ 10, 11 AuslG 1965 in Betracht. Da seine Rechtsstellung nicht über die eines anerkannten Asylberechtigten hinausgehen kann, war eine Ausweisung aus den Erwägungen heraus möglich, die auch für eine Ausweisung von Asylberechtigten griffen (vgl. BVerwG, Urteile vom 19.05.1981 - 1 C 169.79 -, juris Rn. 13 ff., und - 1 C 227/79 -, juris Rn. 12 ff., BVerwG, Beschluss vom 15.08.1985 - 1 B 65.85 -, juris Rn. 3 ff.; Renner, Grenzfragen des Asylrechts und des allgemeinen Ausländerrechts, NVwZ 1983, 649, 654 f.). Nach § 48 Abs. 1 AuslG 1990 konnte ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt oder einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen über die Rechtsstellung für Flüchtlinge vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Dieser Maßstab galt nach § 48 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AuslG 1990 auch für die unbedingte Ausweisung eines Asylantragstellers. § 56 Abs. 1 und Abs. 4 AufenthG 2005 enthielten dem korrespondierende Regelungen. Entsprechendes sah § 53 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG in der bis 20.08.2019 geltenden Fassung vor. Der Gesetzgeber hat anlässlich der Novellierungen durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreispflicht durch nichts zu erkennen gegeben, dass er nunmehr zu anderen Regeln greifen und die entsprechende rechtliche Synchronisierung zwischen der unbedingten Ausweisung eines Asylantragstellers und der Ausweisung eines Asylberechtigten bzw. anerkannten Flüchtlings insoweit aufheben wollte. Im Übrigen hätte es bei einer Entscheidung zur Aufrechterhaltung des Maßstabs nach Absatz 3 im Rahmen des § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG mit Blick auf den direkt von Absatz 3 jetzt allein erfassten Personenkreis zudem nahegelegen, dass der Gesetzgeber in § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG eine Formulierung gewählt hätte, wonach Absatz 3 „entsprechend“ gilt. |
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| Darüber hinaus hat bereits das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass es allein sachgerecht ist, die unbedingte Ausweisung während eines laufenden Asylverfahrens an dem Maßstab zu messen, der für den anerkannten Flüchtling gilt, mithin an § 53 Abs. 3a AufenthG. Hierdurch wird sichergestellt, dass der besondere Ausweisungsschutz, den der Ausländer durch das Asylverfahren über die Zuerkennung eines Schutzstatus erlangen kann, nicht durch eine - der rechtskräftigen Entscheidung über den Schutzstatus vorgelagerten - Ausweisungsverfügung unterlaufen oder umgangen werden kann. Dass der Gesetzgeber diese Sachgerechtigkeit bewusst anlässlich des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht aufgegeben hätte, lässt sich auch mit Blick auf seine Motive zur Neufassung des Ausweisungsmaßstabs für anerkannte Flüchtlinge (vgl. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht BT-Drs.19/10047 vom 10.05.2019 S. 34 sowie nachfolgend 4) nicht feststellen. |
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| Der Fortbestand der Verweisung in § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG auf Absatz 3 beruht daher auf einem redaktionellen Versehen des Gesetzgebers, der Sache nach gemeint ist die Inbezugnahme von Absatz 3a (so auch Katzer in: BeckOK Migrationsrecht, § 53 Rn. 94 ff. ; Neidhardt, HTK-AuslR / § 53 AufenthG / Abs. 4 Rn. 11 ; Bauer in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 53 Rn. 103). |
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| dd) Es überschreitet entgegen der Annahme des Klägers nicht die Grenzen einer zulässigen Inhaltsbestimmung, wenn dem Gesetz mit dem Verweis auf Absatz 3a ein anderer Wortlaut beigemessen wird. Eine Norm, die die Ausweisung und damit Gefahrenabwehrrecht regelt, unterliegt nicht der für eine Strafnorm geltenden und letztlich aus Art. 103 Abs. 2 GG abgeleiteten Wortlautgrenze (vgl. zur Wortlautgrenze im Strafrecht BVerfG, Beschluss vom 07.03.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 23 ff.). Dass der Betroffene die Ausweisung aufgrund der Beschränkung seiner Freiheitsrechte als eine „zweite Strafe“ ansieht, führt zu keiner anderen Betrachtung. Eine Auslegung gegen den Wortlaut einer Norm ist nicht ausgeschlossen, wenn - wie hier - andere Indizien deutlich belegen, dass ihr Sinn im Gesetzestext unzureichend Ausdruck gefunden hat (BVerfG, Beschlüsse vom 25.04.2016 - 1 BvR 1147/12 -, juris Rn. 7, und vom 27.01.1998 - 1 BvL 22/93 -, juris Rn. 34; siehe auch Sagan, Qualität von Gesetzen und richterliche Rechtsfortbildung als kommunizierende Röhren?, jM 2020, 52, 53 ff.). Das unveränderte Beibehalten der bisherigen Verweisung ist nach dem tatsächlichen Anliegen des Gesetzgebers ein Versehen; dies erschließt sich aus dem Zweck und der Historie der Regelungen (siehe zur Bestimmung eines Redaktionsversehens BVerwG, Urteil vom 27.03.2014 - 2 C 2.13 -, juris Rn. 23; Wank, Juristische Methodenlehre, 2020, § 6 Rn. 216; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 387 f.). |
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| 4) Der Gefahrenmaßstab nach § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ist erfüllt. Der Kläger stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, weil er wegen einer schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist. |
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| a) Die im Aufenthaltsgesetz nicht definierte „schwere Straftat“ im Sinne des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ist nicht im Lichte der Begründung des Gesetzesentwurfs zu § 53 Abs. 3a AufenthG dahingehend zu bestimmen, dass es sich um eine „besonders schwere Straftat“ gemäß Art. 14 Abs. 4 lit. b) Richtlinie 2011/95/EU handeln muss. Vielmehr ergibt sich aus der Gesamtschau des Wortlauts und der Absicht, die der Gesetzgeber mit der Einführung des § 53 Abs. 3a AufenthG verfolgt, dass die Anforderungen des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG kohärent mit denen nach Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU sind, nach welchem zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung eine Ausweisung gestatten. |
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| aa) Die Begründung zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht führt bezüglich § 53 Abs. 3a AufenthG Folgendes aus (BT-Drs 19/10047 vom 10.05.2019, S. 34): |
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| „Die Schwellen des Ausweisungsschutzes für Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge werden auf den Kern der europa- und völkerrechtlichen Vorgaben zurückgeführt. Damit werden die Möglichkeiten, bei schutzberechtigten Intensivstraftätern im Einzelfall ein Überwiegen des öffentlichen Ausreiseinteresses zu begründen, erleichtert. Die europa- beziehungsweise völkerrechtlichen Vorgaben für den Ausweisungsschutz von Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen ergeben sich aus Artikel 33 Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention sowie aus Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie (EU) 2011/95 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes („Qualifikationsrichtlinie“) sowie der Rechtsprechung zu Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention). Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie sieht die Möglichkeit der Aberkennung des Schutzstatus vor, wenn a) es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass der Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält; b) der Flüchtling eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. Artikel 33 Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention sieht einen Ausschluss vom Verbot der Ausweisung vor, wenn der Flüchtling aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde. Diese Durchbrechung des Refoulement-Verbots ist als Ausnahmeregelung im Sinne einer ultima ratio eng auszulegen. Folgt der Ausweisung die Abschiebung, sind völkerrechtliche Abschiebungsverbote, insbesondere Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, zu beachten. Die Tatbestandsalternativen „er aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr anzusehen ist“ bilden den Regelungsbereich der Ausweisung von Gefährdern beziehungsweise Terrorverdächtigen ab. Da dem Wortlaut nach die Gefahr von dem Ausländer selbst ausgehen muss („er“), ist klargestellt, dass entsprechend den oben genannten völkerrechtlichen bzw. europarechtlichen Vorgaben eine Ausweisung wie bisher nur aus spezialpräventiven, nicht aber aus generalpräventiven Gründen möglich ist.“ |
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| Gemäß dieser Begründung erfolgt für den Ausweisungsmaßstab eine Orientierung an Art. 33 Abs. 2 GFK und Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/9/EU. Allerdings greift der Gesetzestext weder den Wortlaut der einen noch der anderen Bestimmung vollständig auf. Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU seinerseits ist der unionsrechtliche Hintergrund für das Unterbleiben der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 AufenthG oder deren Widerruf oder Rücknahme (§ 73 Abs. 1, Abs. 2a AsylG). Unionsrechtlich ist der Schutz vor Zurückweisung nach der Richtlinie 2011/95/EU weiter als der nach Art. 33 Abs. 2 GFK (vgl. EuGH, Urteil vom 14.05.2019 - C-391/16 u.a. -, juris Rn. 96 ff.). |
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| bb) Mit Blick auf die Gesetzesbegründung wird angenommen, dass der Gesetzgeber nunmehr den Maßstab des Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU für die Ausweisung eines anerkannten Flüchtlings und der weiteren in § 53 Abs. 3a AufenthG genannten Personen gewählt und damit tatsächlich die Anforderungen an deren Ausweisung gegenüber der bisherigen Rechtslage erhöht hat (Hoppe, Die Instanzrechtsprechung zum Recht der Ausweisung und der Aufenthaltsbeendigung einschließlich der Duldung, 1.4, in: Berlit/Hoppe/Kluth, Jahrbuch des Migrationsrechts für die Bundesrepublik Deutschland 2020, S. 118 f. ; Bauer in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, § 53 Rn. 97 f.; Thym, Geordnete Rückkehr und Bleiberecht im Dschungel des Migrationsrechts, ZAR 2019, 353, 356). Diese Auffassung stützt sich auch darauf, dass der Gesetzentwurf zu § 53 Abs. 3a AufenthG ungeachtet des im Rahmen der Anhörung hierzu erfolgten Hinweises, für die Ausweisung sei Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU der unzutreffende Maßstab, heranzuziehen sei vielmehr Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (siehe im Einzelnen Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 03.06.2019 zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, S. 9 ff. unter 2., Ausschuss-Drs. 19(4)286 B), unverändert verabschiedet worden ist. |
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| cc) Es steht dem Gesetzgeber zwar frei, höhere Hürden für die Beendigung des rechtmäßigen Aufenthalts zu normieren, als das Unionsrecht vorsieht, denn Art. 21 und 24 Richtlinie 2011/95/EU machen keine zwingenden Vorgaben für das nationale Recht („kann“). Allerdings spricht das in der Begründung zu § 53 Abs. 3a AufenthG klar formulierte gesetzgeberische Ziel, die Schwellen des Ausweisungsschutzes auf „den Kern der europa- u. völkerrechtlichen Vorgaben“ zurückzuführen, gegen eine Anhebung der Ausweisungshürden über die völker- und unionsrechtlichen Vorgaben hinaus. |
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| Die Ausweisung eines anerkannten Flüchtlings kann stets nur inlandsbezogen erfolgen. Solange der vom Bundesamt zuerkannte Schutzstatus besteht, ist der Erlass einer Abschiebungsandrohung weder nach nationalem Recht noch nach Unionsrecht zulässig (vgl. Art. 3 Nr. 4, Art. 6 sowie Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG; siehe auch BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 48; EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 44 ff., Rn. 73). Mit der inlandsbezogenen Ausweisung intendiert ist der Verlust eines vorhandenen Aufenthaltstitels bzw. die Verhinderung einer rechtlichen Verfestigung des Aufenthalts im Bundesgebiet, nicht aber die Aufenthaltsbeendigung in den Herkunftsstaat. Das in einem solchen Fall unionsrechtlich Erforderliche ist die Beachtung des Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris; BVerwG, Urteile vom 25.07.2017 - 1 C 12.16 -, juris Rn. 23, und vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 49). Dass der Gesetzgeber nicht beabsichtigt hat, die Eingriffsschwelle des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ungeachtet dessen derjenigen des Art. 14 Abs. 4 lit. b Richtlinie 2011/95/EU anzupassen, schlägt sich im Wortlaut hinreichend nieder. § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG spricht nicht von einer besonders schweren Strafe, sondern nur von einer schweren Strafe, und setzt auch keine verhängte Mindeststrafe voraus, wie dies bei § 60 Abs. 8 AufenthG der Fall, bei dem sich der Gesetzgeber auf Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern, BT-Drs. 18/7537 vom 16.02.2016, S. 8 f.). |
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| § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ist daher im Lichte von Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU auszulegen und anzuwenden (ebenso Dörig, Handbuch Migrations- u. Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 55 ff.; Katzer in: BeckOK Migrationsrecht, § 53 Rn. 78, 81 ; Neidhardt, HTK-AuslR / § 53 AufenthG / Abs. 3a Rn. 7 f. ; Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 208 ff. ; Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 2 Rn. 36 i.V.m. Rn. 27 ff. ). |
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| b) Da eine Maßnahme nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU nicht zur Aberkennung eines Flüchtlingsstatus und erst recht nicht zu einer Zurückweisung nach Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU führt, ist das Vorliegen einer besonders schweren Straftat nicht erforderlich (EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 73). Die zu Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 (Qualifikationsrichtlinie oder Anerkennungsrichtlinie a.F.) ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann auf Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU übertragen werden. Soweit in dieser Richtlinie nunmehr der Begriff der „nationalen Sicherheit“ statt der „öffentlichen Sicherheit“ in der Vorgängerfassung verwendet wird, hat dies keine inhaltlichen Auswirkungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 50; hiervon ebenfalls ausgehend Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 03.06.2019 zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, S. 10 f. unter 2., Ausschuss-Drs. 19(4)286 B). |
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| Der Gerichtshof hat im Urteil vom 24.06.2015 Bezug auf seine Rechtsprechung zu den Begriffen der „öffentlichen Sicherheit“ und „öffentlichen Ordnung“ in Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 - Unionsbürgerrichtlinie bzw. Freizügigkeitsrichtlinie - genommen. Auch wenn diese Richtlinie andere Ziele als die Richtlinie 2004/83/EG verfolgt und es den Mitgliedstaaten freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern (EuGH, Urteil vom 22.05.2012 - C-348/09 -, juris Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann der Umfang des Schutzes, den eine Gesellschaft ihren grundlegenden Interessen gewähren will, nicht je nach der Rechtsstellung der Person, die ihre Interessen beeinträchtigt, unterschiedlich ausfallen (EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 77). Nach der in Bezug genommenen Rechtsprechung zur Unionsbürgerrichtlinie umfasst der Begriff „öffentliche Sicherheit“ sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit des Staates. Der Ausdruck der „zwingenden Gründe“ deutet auf einen besonders hohen Schweregrad der Beeinträchtigung hin. Der Begriff der „öffentlichen Ordnung“ wird dahin ausgelegt, dass er jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (näher EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 78 ff.; BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 51). |
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| c) Eine Verurteilung wegen einer schweren Straftat im Sinne von § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG ist nicht immer schon dann anzunehmen, wenn eine Bestrafung vorliegt, die ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 AufenthG begründet (a.A. Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 217 , der annimmt, für eine Gefährdung der Allgemeinheit reiche dies aus). Auch wenn den Mitgliedstaaten ein gewisser Beurteilungsspielraum bei dem eingeräumt ist, was die öffentliche Sicherheit oder Ordnung fordern, ist dies kein „Freibrief“ für beliebige Festlegungen. Allein die Verortung in § 54 Abs. 1, 1a oder 1b AufenthG reicht zudem deshalb nicht aus, weil sie keine - unionsrechtlich gebotene - Prüfung aller Umstände des Einzelfalls enthält (vgl. näher Dörig in: ders., Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 63; siehe auch EuGH, Urteil vom 13.09.2018 - C-369/17 -, juris Rn. 58 - zu Art. 17 Abs. 1 lit b) Richtlinie 2011/95/EU). |
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| d) Im vorliegenden Fall handelt es sich bei dem vom Kläger begangenen schweren sexuellen Missbrauchs in sechs Fällen um eine schwere Straftat im Sinne des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG. Dies erschließt sich aus den obigen Ausführungen unter 2b und d), in die alle Umstände des Einzelfalles eingeflossen sind und aus denen sich ergibt, dass die Tat objektiv und subjektiv schwerwiegend gewesen ist; der Kläger hat elementare Rechte eines Kindes zur Befriedigung seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse verletzt. Auch die vom Kläger gemeinschaftlich mit einem anderen Täter begangene gefährliche Körperverletzung, die massive Verletzungen beim Opfer im Kopfbereich bewirkt hat, und die versuchte räuberische Erpressung stellen aufgrund des ihnen innewohnenden hohen Aggressionspotentials selbstständig neben dem sexuellen Missbrauch eine schwere Straftat dar (siehe oben 2c und d). Dass der Kläger bei der Körperverletzung alkoholisiert war, lässt die Tat nicht in einem milderen Licht erscheinen; seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit war zu keinem Zeitpunkt beeinträchtigt. Auf die Qualifizierung der durch das Landgericht ... weiter abgeurteilten Taten kommt es insoweit nicht mehr an. |
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| Mit der rechtskräftigen Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten liegt auch eine taugliche Verurteilung im Sinne der Regelung vor. Es bedarf nach dem Gesetzeswortlaut keiner bestimmten Art der Verurteilung oder einer bestimmten Strafhöhe (siehe bereits oben 4 a cc). Im Unterschied zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, der nur im Falle einer Freiheitsstrafe einschlägig sein kann, ist die Jugendstrafe von § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG umfasst. Da auch bei realkonkurrierenden Delikten die Jugendstrafe nur einheitlich verhängt wird (§ 31 JGG) und - anders als im Erwachsenenstrafrecht (§§ 53, 54 StGB) - keine Einzelstrafe vor der Bildung einer Gesamtstrafe ausgewiesen wird, ist der gesetzgeberischen Entscheidung zur Einbeziehung der Jugendstrafe immanent, dass es nicht erforderlich ist, der konkret verwirklichten schweren Straftat eine genaue Strafhöhe zuzuordnen. Aus dem der Norm zugrundeliegenden Unionsrecht folgt nichts anderes. |
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| e) Der Kläger ist auch eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG. Wie sich aus dem Wortlaut („weil“) ergibt, bedarf es einer Verbindung zwischen der konkreten schweren Straftat, für die der Ausländer verurteilt wurde, und der Gefahr, die von ihm ausgeht. Mit der Gefahr für die Allgemeinheit sind die Fälle umschrieben, die von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU unter der Variante der öffentlichen Ordnung erfasst werden (Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 2 Rn. 31 <5/2021>; wohl auch Dörig in: ders., Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 63). Im vorliegenden Fall besteht die hohe Gefahr, dass der Kläger erneut wegen einer Sexualstraftat oder mit einem Aggressionsdelikt - etwa in Form einer gefährlichen Körperverletzung - straffällig wird. Aus den obigen Ausführungen (unter 2d bis h) erschließt sich zugleich, dass das Verhalten des Klägers eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaats berührt. Die Gefahr eines schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes oder eines anderen Sexualdelikts gegenüber einer jungen weiblichen Person bedroht ebenso wie die Gefahr, zufällig Opfer eines Aggressionsdelikts - etwa in Gestalt einer schweren Körperverletzung - zu werden, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung. Solches wird nicht dadurch infrage gestellt, dass der Kläger aktuell noch in Haft ist (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 13.07.2017 - C-193/16 -, juris Rn. 27); mit Blick auf die zukünftigen Maßnahmen der Führungsaufsicht, mit denen beabsichtigt ist, das vom Kläger ausgehende Risiko zu reduzieren, gilt nichts anderes. |
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| 5) Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen für ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse, die der Gesetzgeber in § 55 Abs. 1 AufenthG enumerativ aufgeführt hat. Eines der ausdrücklich benannten scherwiegenden Bleibeinteressen nach § 55 Abs. 2 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Wie der Wortlaut („insbesondere“) verdeutlicht, sind die dort aufgezählter Interessen nicht abschließend erfasst. Die Beziehung zwischen dem nunmehr 22 Jahre alten Kläger und seinem etwa 13 Jahre älteren Bruder ist jedoch nicht in einer Art und Weise ausgestaltet, die zu einem (unbenannten) schwerwiegenden Bleibeinteresse führen würde. Die ursprünglich bestehende Vormundschaft des Bruders war mit Eintritt der Volljährigkeit des Klägers beendet. Der Kläger ist als junger Erwachsener nicht notwendig auf die Unterstützung durch seinen Bruder angewiesen, insbesondere nicht krankheitsbedingt. Es liegen auch im Übrigen keine Elemente einer Abhängigkeit vor, die über die üblichen gefühlmäßigen Bindungen unter volljährigen Verwandten hinausgingen. Eine noch heute bestehende, durch den Bruder gewährte emotionale Lebenshilfe für den Kläger im Sinne eines „Vaterersatzes“ und deren Akzeptanz durch diesen kann der Senat nach den Einlassungen des Klägers und seiner sich aus den Akten ergebenden Biographie nicht feststellen. |
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| 6) Die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3a AufenthG i.V.m. Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU und Art. 8 EMRK gebotene Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses einerseits und des privaten Bleibeinteresses andererseits anhand aller Umstände des Einzelfalls unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. zu den Maßstäben etwa BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 58 i.V.m. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.01.2016 - 11 S 889/15 -, juris Rn.141 ff.; Dörig in: ders., Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 40 ff.) führt dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung die privaten Interessen des Klägers deutlich überwiegt. |
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| a) Zu Lasten des Klägers sind die konkrete Schwere der begangenen Straftaten, deren Aburteilung zum Entstehen des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG geführt hat, sowie die von ihm ausgehende hohe Wiederholungsgefahr für eine Sexualstraftat oder ein Delikt, das durch Aggressionen bedingt ist (siehe im Einzelnen oben unter 2 und 4), zu berücksichtigen. Der Personenkreis, der von solchen Straftaten betroffen sein kann, lässt sich nicht eingrenzen. Obwohl die Taten im Jahre 2017 begangen worden sind und damit bereits mehrere Jahre zurückliegen, sind die Persönlichkeits- und Lebensumstände, die zu diesen Straftaten geführt haben, unverändert gegeben. Eine Nachreifung des im März 1999 geborenen Klägers unter den Bedingungen des Vollzugs, die als Ergebnis seine zukünftige Rechtstreue erwarten lassen würde, lässt sich nicht feststellen. Der Kläger hat nicht die Möglichkeiten des Strafvollzugs genutzt, um entwicklungs- und persönlichkeitsbedingte Defizite aufzuarbeiten bzw. die Gefahr der Wiederholung von Straftaten, jedenfalls schwerwiegender, durch die Teilnahme an einer Therapie zu senken. |
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| Die Bedeutung des Grads der Wiederholungsgefahr im Rahmen der Abwägung ist nicht deshalb zu Gunsten des Klägers zu relativieren, weil ihm - nachdem er in der letzten Phase des Strafvollzugs eine gewisse Eigenmotivation entwickelt hat - keine Therapie im Vollzug mehr angeboten werden konnte. Zwar hat sich der Kläger nach der Vollzugsplankonferenz vom 25.02.2020 beim Psychologischen Dienst für Gespräche zur Tat- und Persönlichkeitsaufbereitung angemeldet. Diese konnten allerdings aufgrund von Wartezeit erst ab Juli 2020 begonnen werden und werden - coronabedingt - auch in größeren Abständen durchgeführt (Fortschreibung des Vollzugsplans vom 24.09.2020, S. 1, 3). Für eine indizierte Sozialtherapie in der Justizvollzugsanstalt ... war die verbleibende Haftzeit schon im Zeitpunkt der Fortschreibung des Vollzugsplans vom 25.02.2020 zu kurz - zumal zuvor eine deutliche Veränderung beim Kläger bezüglich Motivation, Verantwortungsübernahme und Veränderungsbereitschaft hätte erreicht werden müssen (a.a.O., S. 2). Abgesehen davon dass dem Kläger durch die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Abteilung der Jugendstrafvollzugsanstalt die Möglichkeit eingeräumt worden war, eine Therapie durchzuführen, die er nicht ergriffen hat, ergibt sich im Übrigen weder aus dem nationalen Recht noch aus Konventions- oder Unionsrecht eine Verpflichtung, eine Ausweisung bis zum Abschluss von noch bevorstehenden oder bereits eingeleiteten therapeutischen oder sonstigen Maßnahmen zurückzustellen, die sich auf den betroffenen Ausländer beziehen und (auch) dem Zweck dienen, von ihm ausgehende Gefahren zu vermindern (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.03.2021 - 11 S 2932/20 -, juris Rn. 9 f.; BVerwG, Beschluss vom 11.09.2015 - 1 B 39.15 -, juris Rn. 21). Dass für den Kläger ausnahmsweise etwas anderes gelten könnte, ist nicht ersichtlich. |
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| b) Bleibeinteressen nach § 55 AufenthG, die zu Gunsten des Klägers in die Abwägung einzustellen wären, sind nicht gegeben. Allerdings ist der Kläger als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling im Alter von 16 Jahren Anfang Dezember 2015 nach Deutschland eingereist und lebt seitdem ununterbrochen im Bundesgebiet, ab 01.08.2016 bis zu seiner Inhaftierung am 20.12.2017 bei seinem Bruder und dessen Familie. Kontakt zu seinem Bruder hält er aus der Haft heraus. Außerdem wird er nach Haftentlassung wieder in die Wohnung der brüderlichen Familie einziehen. Der Aufenthalt des Klägers vor seiner Inhaftierung ist aufgrund der Asylantragstellung gestattet gewesen. Wie die Anhörung in der mündlichen Verhandlung gezeigt hat, verfügt der Kläger inzwischen über gute Kenntnisse der deutschen Sprache, die eine Alltagskommunikation mit ihm ermöglichen. Ausweislich der von ihm verfassten Schriftstücke in der Gefangenenpersonalakte gelingt es ihm auch, sich auf Deutsch schriftlich verständlich zu äußern. Außerdem ist der Kläger mit 22 Jahren in einem Alter, in dem er noch nachreifen kann. Zudem beabsichtigt er nach seiner Haftentlassung nunmehr Bildungsangebote im Bundesgebiet zu nutzen und eine Therapie zu absolvieren. |
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| Soweit sich der Kläger darauf beruft, zu seinen Gunsten müsse im Rahmen der Abwägung auch eingestellt werden, dass er nach den vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 17.12.2020 (A 11 S 2042/20, juris Rn. 34 ff.) getroffenen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan, insbesondere in Kabul, und auch wegen einer Verfolgung durch die Taliban nicht in sein Heimatland zurückkehren könne, besteht hierfür im Rahmen der allein inlandsbezogenen Ausweisung kein Anlass. Denn der Gesetzgeber hat sich entschieden, im nationalen Recht für die unbedingte Ausweisung während eines laufenden Asylverfahrens den identischen Maßstab vorzusehen, der unionsrechtlich für die Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen mit zuerkanntem Flüchtlingsschutz gilt. Nach § 53 Abs. 3a Variante 3 AufenthG i.V.m. Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU darf die Ausweisung nicht mit einer Abschiebungsandrohung einhergehen, d.h. sie ist nicht die Grundlage für eine Rückführung des Ausländers in seinen Herkunftsstaat, weshalb es nicht darauf ankommt, welche Bindungen er dorthin hat und welche Verhältnisse er im Heimatstaat vorfindet. |
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| Bei der inlandsbezogenen Ausweisung gibt es zudem Bleibeinteressen im engeren Wortsinn für die Abwägung nicht, sondern nur das Interesse der Vermeidung an den Folgewirkungen der Ausweisung (Dörig in: ders., Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 46; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.04.2018 - 7 A 11529/17 -, juris Rn. 64 und nachfolgend BVerwG, Urteil vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 28 m.w.N), wobei die Folgewirkungen sich für einen anerkannten Flüchtling und einen im Asylverfahren befindlichen Ausländer teilweise unterscheiden. Gemeinsame Folgewirkungen sind, dass der Ausländer nur noch geduldet wird (§ 60a AufenthG) und eine Legalisierung seines Aufenthalts fortan nicht mehr in Betracht kommt, sowie Aufenthaltsbeschränkungen und Meldeauflagen verhängt werden können (vgl. § 56 AufenthG). Während der anerkannte Flüchtling auch im Falle einer Ausweisung aufgrund des Fortbestands seines Schutzstatus die nach Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU hieran anknüpfenden Rechte im Übrigen grundsätzlich behält (vgl. näher BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 55), verbleibt es bei der Ausweisung während des Asylverfahrens bei den Rechten, die sich aus der Richtlinie 2013/33/EU vom 26.06.2013 (Aufnahmerichtlinie) ergeben, d.h. der Ausländer ist etwa auf Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beschränkt. Generell keine relevante Folge einer Ausweisung während eines laufenden Asylverfahrens ist die Anwendbarkeit der Bestimmung des § 30 Abs. 3 Nr. 6 AsylG. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer nach §§ 53, 54 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig ist. Die Vorschrift, die im Wortlaut allein an §§ 53, 54 AufenthG a.F. anknüpft, hat keinen Anwendungsfall mehr, da eine Anpassung an das ab 01.01.2016 geltende Ausweisungsrecht mit seiner gänzlich anderen Struktur unterblieben ist (Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 30 Rn. 139 ; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 30 AsylG Rn. 17). |
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| c) Im Rahmen der Gesamtabwägung überwiegen die öffentlichen Interessen an einer Ausweisung aufgrund der hohen Gefahr der Begehung von Sexual- bzw. Aggressionsstraftaten, was einem Grundinteresse der Gesellschaft widerspricht, die bestehenden, bislang wenig ausgeprägten Bindungen des Klägers an das Bundesgebiet. Dabei geht der Senat zu Gunsten des Klägers davon aus, dass er sich ungeachtet dessen, dass sein Aufenthalt im Bundesgebiet nie legalisiert war, auf das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK berufen kann (so auch OVG Bremen, Beschluss vom 02.03.2021 - 2 B 328/20 -, juris Rn. 40 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2010 - 11 S 2359/10 -, juris Rn. 31 ff.; a. A. BVerwG, Urteil vom 26.10.2010 - 1 C 18.09 -, juris Rn. 14; Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 76 ). Der Kläger hat mittlerweile die deutsche Sprache alltagstauglich erlernt. Aber trotz seines bislang ca. fünfeinhalb Jahre dauernden Aufenthalts in Deutschland liegen keine darüberhinausgehenden Integrationsleistungen in sozialer, kultureller oder wirtschaftlicher Hinsicht vor. Während des etwa zweijährigen Aufenthalts im Bundesgebiet vor seiner Inhaftierung hat er seine Zeit vorwiegend mit Bekannten und Freunden überwiegend afghanischer Herkunft verbracht oder mit der afghanischen Familie seines Bruders; auch in der Haft besteht der Umgang vorwiegend mit Personen afghanischer Herkunft fort. Einen Schulabschluss oder gar eine Berufsausbildung hat er bisher nicht erreicht. Eine Erwerbstätigkeit vor seiner Haft ist nicht erfolgt, obwohl ihm eine Beschäftigung erlaubt worden war. Die durch die inlandsbezogene Ausweisung eintretenden Folgen, wie insbesondere die fehlende Möglichkeit der Legalisierung des Aufenthalts, treffen den Kläger vor diesem Hintergrund nicht unverhältnismäßig. |
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| d) Das Ergebnis der Gesamtabwägung in Gestalt des Überwiegens des öffentlichen Interesses an der Ausweisung würde sich selbst dann nicht ändern, wenn man der Auffassung wäre, auch bei einer inlandsbezogenen Ausweisung dürfte die Frage der Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Reintegration des Ausländers in den Heimatstaat nicht ausgeblendet werden (so wohl OVG Bremen, Urteil vom 17.02.2021 - 2 LC 311/20 -, juris Rn. 79 ff., insb. Rn. 81 - zu § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG). Dem dürfte die Überlegung zugrunde liegen, dass selbst wenn die inlandsbezogene Ausweisung nicht Grundlage einer zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung ist, der Ausländer durch die fehlende Möglichkeit, seinen Aufenthalt zu legalisieren, in eine Lage geraten kann, die ihn veranlasst, Deutschland zu verlassen. Für die Einbeziehung der Situation im Heimatstaat könnte zudem sprechen, dass § 53 Abs. 2 AufenthG dazu verpflichtet, bei der Abwägung nach Absatz 1 nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere unter anderem die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat zu berücksichtigen, und dass in dieser Norm keine Differenzierung zwischen inlandsbezogener und nicht-inlandsbezogener Ausweisung angelegt ist. Auch die Rechtfertigung des mit der Ausweisung verbundenen Eingriffs in Art. 8 EMRK und die Sicherung der Verhältnismäßigkeit anhand der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten sog. „Boultif-Üner-Kriterien“ (vgl. EGMR, Urteile vom 02.08.2001 - 54273/00 -, infAuslR 2001, 476, und vom 18.10.2006 - 46410/99 <Üner> -, NVwZ 2007, 1279, sowie deren Weiterentwicklung in den Urteilen vom 22.03.2007 - 1683/03 -, InfAuslR 2007, 221, und vom 23.06.2008 - 1638/03 -, InfAuslR 2008, 333) beinhalten unter anderem die Ermittlung und Würdigung der Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen auch zum Herkunftsstaat (vgl. hierzu etwa EGMR Urteil vom 20.12.2018 - 18706/16 -, FamRZ 2019, 1896 Rn. 52). |
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| Der Kläger hat bis zu seiner Ausreise nach Deutschland mit seiner Familie in Kabul gelebt. Er hat in Afghanistan ca. neun Jahre lang die Schule besucht und spricht Paschtu und Urdu. Er ist von den kulturellen Gegebenheiten seines Heimatlandes bis in das 16. Lebensjahr hinein unmittelbar geprägt worden. Auch wenn der Vater mittlerweile verstorben ist und der Kläger in der Berufungsverhandlung angegeben hat, dass zu seiner erkrankten Mutter kein Kontakt mehr bestehe und er in Afghanistan auch keine weiteren nahen Verwandten mehr habe, ist er jedoch Teil einer Großfamilie, zu der mehrere Onkel und Cousins gehören. Der Kläger hat nicht jegliche Bindungen an Afghanistan verloren. |
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| Für die Abwägung kommt es hingegen nicht auf die allgemeinen Lebensumstände in Afghanistan an, wie sie der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 17.12.2020 (A 11 S 2042/20, juris Rn. 34 bis 101) zutreffend festgestellt hat. Dies ist eine Folge dessen, dass der Ausweisung der Maßstab zugrunde liegt, der für einen anerkannten Flüchtling gilt, und damit - hypothetisch - eine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat zugrunde gelegt wird. Die obergerichtliche Rechtsprechung, nach der Nachteile und Gefahren, die dem Ausländer im Herkunftsstaat drohen, im Rahmen der Ausweisung nur unter der Prämisse berücksichtigt werden, dass sie nicht die Schwelle zu einem vom Bundesamt zu prüfenden zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernis überschreiten, und Situationen im Heimatstaat, die ihrer Art nach objektiv geeignet sein mögen, internationalen Schutz oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu begründen, mit Blick auf die ausschließliche Zuständigkeit des Bundesamts nicht Gegenstand der Abwägung nach §§ 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG sein können (OVG Bremen, Urteil vom 17.02.2021 - 2 LC 311/20 -, juris Rn. 79 ff. - zu § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG; ähnlich auch OVG Bremen, Urteil vom 30.09.2020 - 2 LC 166/20 -, juris Rn. 59 ff. - zu § 6 FreizügG/EU; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.05.2003 - 13 S 1113/02 -, juris Rn. 23 - zu § 48 Abs. 3 Satz 1 AuslG 1990), spielt im vorliegenden Fall daher keine Rolle. |
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| Die Berufung bleibt hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots ohne Erfolg. |
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| Der Vertreter des Beklagten hat in der Berufungsverhandlung durch protokollierte Erklärung Ziffer 2 des Bescheids vom 18.06.2019 neu gefasst. Danach wird gegen den Kläger aufgrund der Ausweisung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von viereinhalb Jahren ab der Ausreise festgesetzt; weitere Regelungen zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gibt es nicht mehr. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass allein die jetzige Fassung des Einreise- und Aufenthaltsverbots Gegenstand der Entscheidung des Senats ist. |
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| 1) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot, das mit der Ausweisung angeordnet worden ist, ist nicht deshalb rechtswidrig, weil die Ausweisungsverfügung vom 18.06.2019 keine Abschiebungsandrohung enthält. |
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| Der Senat teilt nicht die Auffassung des Generalanwalts in seinen Schlussanträgen vom 10.02.2021 in der Rechtssache C-546/19 (BZ), der das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.05.2019 (1 C 14.19 -, juris) zugrunde liegt. Dem Generalanwalt zufolge fällt ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das gegen einen Drittstaatsangehörigen zeitgleich mit einer aufgrund einer früheren strafrechtlichen Verurteilung erlassenen Ausweisungsverfügung verhängt wurde, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG. Zudem steht nach seiner Rechtsauffassung diese Richtlinie der Aufrechterhaltung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots entgegen, das gegen einen Drittstaatsangehörigen zeitgleich mit einer aufgrund einer früheren strafrechtlichen Verurteilung erlassenen Ausweisungsverfügung verhängt wurde, wenn die Rückkehrentscheidung aufgehoben wurde; dies gilt auch, wenn die Ausweisungsverfügung bestandskräftig geworden ist (nach Ergehen der Entscheidung des Senats hat sich der Gerichtshof der Europäischen Union dem Votum des Generalanwalts angeschlossen, EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 42 ff.). |
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| a) Die Qualifikation des an eine Ausweisung anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots als Einreiseverbot im Sinne des Art. 3 Nr. 6, Art. 11 Richtlinie 2008/115/EG, das zwingend eine bestehende Rückkehrentscheidung nach Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG, also eine Abschiebungsandrohung nach nationalem Recht (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 09.05.2019 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 30 ff.), voraussetzt, beruht auf einer nicht vollständigen Erfassung des nationalen Ausweisungsrechts, das zudem bislang das rechtliche Instrumentarium der inlandsbezogenen Ausweisung kennt. |
|
| Das Aufenthaltsgesetz knüpft verschiedene Wirkungen einer Ausweisung allein an deren Erlass. Das betrifft etwa das Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 2, Alt. 1 AufenthG, die Befreiung vom Erfordernis des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 5 AufenthG, die Versagung einzelner spezieller Aufenthaltstitel (§ 37 Abs. Nr. 1 AufenthG; § 25 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG) und das Eingreifen von Überwachungsmaßnahmen nach § 56 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG. Der allgemeine Ausschluss eines ausgewiesenen Ausländers von einer Titelerteilung (und damit auch von einer Aufenthaltsverfestigung) unabhängig vom Aufenthaltszweck wird jedoch durch die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Abs. 2 AufenthG erreicht. Dieses entfaltet seine Wirkungen unabhängig von der tatsächlichen Ausreise auf dem Bundesgebiet. Bei der inlandsbezogenen Ausweisung ist die Ausweisung nicht Grundlage einer Aufenthaltsbeendigung in den Herkunftsstaat, weshalb die Länge dieses nationalen Einreise- und Aufenthaltsverbots und damit die Dauer vom Ausschluss eines Aufenthaltstitels auch lediglich nach typisierenden Annahmen bestimmt werden kann (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 11.11.2013 - 1 B 11.13 -, juris Rn. 3, und Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 -, juris Rn. 42). Nur wenn sich der Ausländer entschließt, aus eigener Initiative auszureisen, verhindert das Einreise- und Aufenthaltsverbot für den sich dann außerhalb der Bundesrepublik Deutschland Aufhaltenden aus Gründen der Gefahrenabwehr zugleich dessen Wiedereinreise. Eine Abschiebungsandrohung und ein hierauf für den Fall der Abschiebung bezogenes Einreise- und Aufenthaltsverbot, welche unstreitig der Richtlinie 2008/115/EG unterfallen, wobei Letzteres seine Wirkung erst ab dem Zeitpunkt entfaltet, zu dem der Betroffene den Mitgliedstaat verlassen hat (EuGH, Urteil vom 17.09.2020 - C-806/18 -, juris Rn. 33), ergehen hingegen allein in den Fällen, in denen bei einem Ausgewiesenen auch eine Aufenthaltsbeendigung in den Heimatstaat oder einen anderen Staat zulässig ist; in einem solchen Fall gibt es ein nationales und ein unionsrechtliches Einreise- und Aufenthaltsverbote mit unterschiedlichen Wirkungen. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedenfalls in der Vergangenheit dieses System nicht beanstandet (BVerwG, Urteil vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 42 i.V.m. 9 und 15; vgl. nunmehr allerdings Fleuß, Die ausländerrechtliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2020, ZAR 2021, 156, 159, wonach gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gegen einen Ausländer, der unter anderem ausgewiesen worden sei, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen sei; dieses ebenfalls in der Form eines eigenständigen, der Bestandskraft fähigen behördlichen Verwaltungsakts ergehende Einreise- und Aufenthaltsverbot sei als Einreiseverbot im Sinne des Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG zu qualifizieren.). |
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| b) Die Richtlinie 2008/115/EG beruht ausschließlich auf Art. 63 Nr. 3 lit. b EGV, der einwanderungspolitische Maßnahmen in den Bereichen illegale Einwanderung und illegaler Aufenthalt, einschließlich der Rückführung solcher Personen, die sich illegal im Mitgliedstaat aufhalten, vorsieht. Kompetenziell erfasst diese Regelung gesetzgeberische und operative Maßnahmen zur Unterbindung der illegalen Einwanderung ebenso wie inhaltliche Vorgaben zur Beendigung des illegalen Aufenthalts, wenn Drittstaatsangehörige sich unrechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten; die Regelungsbefugnis zum illegalen Aufenthalt umfasst auch die Abschiebung und Rückführung (Weiß in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 63 EGV Rn. 58 ff.; siehe auch zum wortgleichen Art. 79 Abs. 2 lit. c AEUV Thym in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 79 Rn. 32 ff. ). Ausgehend von dieser Kompetenznorm sieht die Richtlinie 2008/115/EG - ebenso wie der vorausgegangene Kommissionsentwurf - keine Regelungen zur Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09.05.2019 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 30 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012 - 11 S 2328/11 -, juris Rn. 147 ff.; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 292 ; Bauer in: Bergmann/Dienelt, AuslR., 13. Aufl. 2020, Vor §§ 53-56 Rn. 29; siehe auch Kommissionsvorschlag, Dokument KOM (2005)391 endg. vom 01.09.2005, S. 5, 7). |
|
| Die Richtlinie 2008/115/EG ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll - als Kehrseite des Einreiseverbots - durch dessen grundsätzliche Befristung den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. Richtlinie 2008/115/EG bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012 - 11 S 2328/11 -, juris Rn. 149). Gegenteiliges folgt auch nicht aus Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115/EG. Danach sollen durch diese Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen. Diese Regelung räumt den Mitgliedstaaten lediglich die Befugnis ein, in einem Verwaltungsakt etwa über die Beendigung des legalen Aufenthalts durch Ausweisung zu entscheiden und gleichzeitig eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu erlassen; sie enthält aber keine inhaltlichen Vorgaben für die Ausweisung. |
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| Die Harmonisierung der Gründe und des Verfahrens für die Beendigung eines Aufenthalts durch Ausweisung hätte auf Art. 63 Nr. 3 lit. a EGV (nunmehr Art. 79 Abs. 2 lit. a AEUV) gestützt werden müssen, der u.a. Einreise und Aufenthaltsvoraussetzungen betrifft (so ausdrücklich zu Art. 79 Abs. 2 lit. a AEUV Thym in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 79 Rn. 25 ). Diese Ermächtigungsgrundlage ist jedoch für die Richtlinie 2008/115/EG nicht herangezogen worden. |
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| c) Die Europäische Gemeinschaft (bzw. heute die Europäische Union) besitzt keine Allzuständigkeit und auch keine „Kompetenz-Kompetenz“, d.h. sie kann nicht verbindlich über die eigene Zuständigkeit entscheiden. Art. 63 Nr. 3 lit. a und lit. b EGV sind Ausdruck dessen, dass die europäischen Rechtssetzungsorgane einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung in den Verträgen bedürfen. Jede Kompetenzausübung der Union muss dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, dem Subsidiaritätsprinzip und der Verhältnismäßigkeit nach Maßgabe des Art. 5 EUV - bzw. zuvor Art. 5 EGV - genügen (vgl. Bergmann in: Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, 5. Aufl. 2015, Abschnitt „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“, S. 783; Grupp in: Bergmann, a.a,O., Abschnitt „Konkurrierende Zuständigkeit“, S. 596; Calliess in: Callies/Ruffert, EUV, AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 5 EUV Rn. 2 ff.). |
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| Hat die Union - wie hier mit Blick auf die Möglichkeit ausgehend von Art. 63 Nr. 3 lit.a EGV die Ausweisung allgemein zu regeln - von einer ihr eingeräumten Kompetenz keinen Gebrauch gemacht, verbleibt es dabei, dass die Mitgliedstaaten weiterhin zur Rechtssetzung befugt sind (Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art. 5 Rn. 20 f). Sie können bestimmen, unter welchen Voraussetzungen sie eine Ausweisung erlassen und welche Wirkungen sie ihr beimessen. Begrenzungen können sich insoweit ergeben, als für den betroffenen Ausländer nach speziellen Richtlinien besondere unionsrechtliche Anforderungen für die Ausweisung zu beachten sind (vgl. etwa Art. 12 Richtlinie 2003/109/EG ). |
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| d) Aufgrund der den Mitgliedstaaten verbleibenden Zuständigkeit bleibt es ihnen unbenommen, die Ausweisung nach ihrer nationalen Rechtsordnung so auszugestalten, dass sie eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellt (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU -, InfAuslR 2011, 320, Rn. 50, oder zu Griechenland EuGH, Urteil vom 14.09.2017 - C-184/16 -, juris Rn. 17 ff.) oder - wie dies für Deutschland gilt - ein anderes Regelungsregime vorzusehen. Die Ausweisung im deutschen Recht beendet nur die Legalität des Aufenthalts. Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt dem Betroffenen nicht die Ausreisepflicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 16.05.2012 - 11 S 2328/11 -, juris Rn. 150, und vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 -, juris Rn. 86). |
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| e) Der Auslegungsgedanke des „effet utile“ zwingt nicht dazu anzunehmen, die Richtlinie 2008/115/EG müsse - vor dem Hintergrund eines nach ihrem Zweck konzipierten weiten Anwendungsbereichs - den Umgang mit den Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von einem Ausländer ausgehen, auch unter dem Aspekt der Ausweisung vollständig regeln. Hiergegen spricht schon die nach ihrem Art. 2 Abs. 2 lit. b für die Mitgliedstaaten vorgesehene Möglichkeit des opt-outs. |
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| f) Der Generalanwalt ist der Auffassung, ausgehend von Art. 3 Nr. 2 Richtlinie 20087115/EG sei jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befinde, was bei der Ausweisung der Fall sei, schon allein deswegen dort illegal aufhältig; er unterfalle somit dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Ist kein Gebrauch vom opt-out nach Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG gemacht worden und wird dem Ausländer kein Aufenthaltstitel erteilt, muss zwingend eine Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG ergehen (vgl. Schlussanträge vom 10.02.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 58 ff., 80; dem Generalanwalt folgend EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. Rn. 44 ff.; 55 ff.). Es liefe sowohl dem Gegenstand der Richtlinie 2008/115/EG, wie er in deren Art. 1 angeführt ist, als auch dem Wortlaut von Art. 6 der Richtlinie zuwider, das Bestehen eines Zwischenstatus von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befänden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterlägen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung (mehr) bestünde (vgl. Schlussanträge vom 10.02.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 81; EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 57). |
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| Dies zugrunde gelegt, dürfte die inlandsbezogene Ausweisung nicht mehr praktiziert werden können (vgl. EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 56), was wiederum nach nationalem Recht Auswirkungen auf die Prüfungsinhalte der Abwägung im Rahmen der Entscheidung über eine Ausweisung hat - und damit einen Bereich betrifft, der nicht durch Sekundärrecht der Union geregelt ist. Es ist zudem Sache des Mitgliedstaats zu regeln, welche Voraussetzungen er für eine Ausweisung während eines laufenden Asylverfahrens vorsieht. Würde im Fall der Ausweisung während des Asylverfahrens eine Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung gefordert, stünde dies nicht in Einklang mit dem Umstand, dass sich der Betreffende unionsrechtlich während des Asylverfahrens grundsätzlich nach Art. 9 der Richtlinie 2013/32/EU - sowie nach Maßgabe des Art. 46 dieser Richtlinie während des gerichtlichen Verfahrens - berechtigt im Mitgliedstaat aufhalten darf (vgl. auch EuGH, Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16 -, juris). Der Erlass zweier Rückkehrentscheidungen - die eine mit Blick auf eine Ausweisung, die andere aufgrund eines insgesamt negativen Asylverfahrens - gleichzeitig oder sukzessiv entspricht nicht der Intention der Richtlinie 2008/115/EG (vgl. dazu auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.12.2012 - 11 S 2303/12 -, juris Rn. 5). |
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| Im Übrigen berücksichtigt die Rechtsansicht, es gebe von der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein Rückkehrverfahren einzuleiten, wenn sie kein Aufenthaltsrecht gewährten, keine Ausnahme, nicht, dass die nach Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU zulässige Ausweisung bei einem anerkannten Flüchtling den Fortbestand seines Status unberührt lässt, und daher keine Abschiebungsandrohung ergehen darf (vgl. EuGH, Urteil vom 24.06.2015 - C-373/13 -, juris Rn. 44). Die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung ist nicht nur eine Frage der Abschiebung (Art. 9 Abs. 1 lit. a Richtlinie 2008/115/EG), sondern kann nach Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG bereits dem Erlass einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen. Auch das Wohl eines Kindes im Sinne des Art. 5 dieser Richtlinie kann dazu führen, dass eine Rückkehrentscheidung gegenüber dem Sorgeberechtigten unterbleibt (vgl. auch EuGH, Urteil vom 11.03.2021 - C-112/20 -, juris Rn. 24 ff.) und Gefahrenabwehr durch eine inlandsbezogene Ausweisung erfolgt. Würde man dem Generalanwalt und dem Gerichtshof folgen, wonach der Mitgliedstaat nur die Möglichkeit habe, ein Rückkehrverfahren einzuleiten oder den Aufenthalt zu legalisieren, würde dies - wenn keine Rückkehrentscheidung erlassen werden dürfte - Gefahrenabwehr ad absurdum führen. |
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| Soweit der Generalanwalt und der Gerichtshof ausführen, zur Verhinderung einer Aufenthaltsverfestigung sei es zielführend, unter Aufrechterhaltung der Rückkehrentscheidung die Abschiebung nach Art. 9 Abs. 1 lit. a Richtlinie 2008/115/EG aufzuschieben, wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde (Schlussanträge vom 10.02.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 87, und Urteil vom 03.06.2021, a.a.O., Rn. 59), dürfte es vor dem Hintergrund des Zwecks der Richtlinie jedenfalls fraglich sein, ob es eine Rückkehrentscheidung „auf Vorrat“ geben darf. Die Fälle des Aufschubs der Abschiebung nach Art. 9 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 Richtlinie 2008/115/EG zeichnen sich dadurch aus, dass grundsätzlich vorübergehende Situationen erfasst werden. Anders liegt es aber dann, wenn schon im Zeitpunkt der Prüfung der Rückkehrentscheidung bekannt ist, dass eine Abschiebung auf unabsehbare Zeit nicht durchgeführt werden kann, weil dem Betroffene dauerhaft der Grundsatz der Nichtzurückweisung zur Seite steht. Der Gerichtshof hat ausgehend von Art. 5 lit. a, Art. 6 Abs.1, Art. 8 Abs. 1 und Art. 10 der Richtlinie 2008/115/EG besondere Anforderungen für die Rückkehrentscheidung unbegleiteter Minderjähriger formuliert (siehe näher EuGH vom 14.01.2021 - C-441/19 -, juris). Das von der Richtlinie angestrebte effiziente Rückkehrverfahren (EuGH, a.a.O., Rn. 79) kann nicht erreicht werden, wenn von vornherein eindeutig feststeht, dass einer Rückkehrentscheidung auf Dauer keine Vollstreckungsmaßnahmen folgen dürfen. |
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| Auch der Hinweis des Generalanwalts, dem deutschen Gesetzgeber stehe es jedenfalls frei, durch das opt-out nach Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG national ein Einreiseverbot ohne Rückkehrentscheidung vorzusehen (vgl. Schlussanträgen vom 10.02.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 55, 68, 86; siehe auch EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 -, juris Rn. 46, 48) würde nicht zu einer adäquaten Lösung führen, weil Deutschland aus Rechtsgründen hiervon keinen Gebrauch machen kann. |
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| Nach Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG können die Mitgliedstaaten beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. Der vom Generalanwalt unter Rn. 68 erfolgte Verweis auf das opt-out am Beispiel des französischen Rechts ist schon deshalb nicht zielführend, weil die 2. Alternative des Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115, die auf eine Rückkehrverpflichtung abstellt, die „infolge einer strafrechtlichen Sanktion“ ausgelöst wurde, nur Fälle betrifft, in denen - wie im französischen Recht - die Rückkehrpflicht unmittelbar aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion (als Nebenfolge) ausgelöst wird, und nicht Entscheidungen erfasst, die im Verwaltungswege erlassen werden. Zwar könnte der Wortlaut „infolge“ daraufhin deuten, dass auch Rückkehrentscheidungen, die im Verwaltungswege erlassen werden, letztlich aber an eine strafrechtliche Verurteilung anknüpfen, unter diese Regelung fallen können (vgl. beispielhaft auch die englische Textfassung „as a consequence of a criminal law sanction“ oder die italienische „come conseguenza di una sanzione penale“; dies auch jedenfalls für die frühere Ist-Ausweisung nach § 53 AufenthG a.F. annehmend Franßen-de la Cerda, Die Vergemeinschaftung der Rückführungspolitik - das Inkrafttreten der EU-Rückführungsrichtlinie, ZAR 2008, 377, 381; weitergehend Augustin, Die Rückführungsrichtlinie der Europäischen Union, 2016, S. 164 ff.). Für die Auffassung, dass die 2. Alternative des Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG, die auf eine Rückkehrverpflichtung abstellt, die „infolge einer strafrechtlichen Sanktion“ ausgelöst wurde, nur Fälle betrifft, in denen die Rückkehrpflicht unmittelbar aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion als Nebenfolge ausgelöst wird, spricht aber vor allem die Bedeutung der Regelung und ihre Entstehungsgeschichte (vgl. näher VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 -11 S 2029/16 -, juris Rn. 83 ff.; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 302 ). |
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| Die Kommission hat während der Beratungen im Rat stets deutlich gemacht, dass die verschiedenen Stufen „Beendigung des legalen Aufenthalts“ und (deswegen danach) „illegaler Aufenthalt“ zu unterscheiden sind und die Rückführungsrichtlinie nur den letzteren Fall erfasst. Verschiedene Mitgliedstaaten, deren Strafrecht bei Delikten von Ausländern auch den Verlust des Aufenthaltsrechts als Strafe oder Nebenstrafe vorsieht, befürchteten, dass durch die Rückführungsrichtlinie in die ihrer alleinigen Kompetenz obliegende Angelegenheit des nationalen Strafrechts eingegriffen würde. Obwohl sowohl das Europäische Parlament als auch andere Mitgliedstaaten die Auffassung der Kommission, dass die Beendigung des legalen Aufenthalts - auch mit Mitteln des Strafrechts - schon gar nicht vom Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie erfasst ist, stützten und eine solche Klausel für nicht notwendig erachteten, verlangten diese Länder ausdrücklich eine Optionsregelung. Letztlich ist dem aus Gründen des politischen Pragmatismus entsprochen worden, weil andernfalls die Gefahr des Scheiterns der Richtlinie gedroht hätte (Lutz, The Negotiations on the Return Directive, 2010, unter 2.2.2, S. 32; siehe auch Franßen-de la Cerda, a.a.O., ZAR 2008, 377, 381; Lutz in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2nd Edition. 2016, Part C VII Art. 2 Rn. 15 f.). Im Übrigen spricht auch der Umstand, dass erhebliche Bewertungsunsicherheiten auftreten würden, wenn man für die 2. Alt des Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG eine Verwaltungsentscheidung genügen lassen würde, die allein oder jedenfalls maßgeblich auf eine vorangegangene strafrechtliche Sanktion gestützt wäre (wie etwa die Versagung der Erteilung eines Aufenthaltstitels aufgrund des Bestehens eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen einer Straftat), für die Auslegung im Sinne der Entstehungsgeschichte. |
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| Weder der Generalanwalt noch der Gerichtshof gehen auf die Problematik der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2008/115/EG ein. |
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| 2) Die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist ebenfalls nicht zu beanstanden. |
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| Der Beklagte hat für die Bestimmung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das an eine Ausweisung anknüpft und für das nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ein Ermessen der Ausländerbehörde vorgesehen ist, zugrunde gelegt, dass im Falle des wegen einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesenen Klägers die Frist zehn Jahre nicht überschreiten soll (§ 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, der § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 3 AufenthG a.F. entspricht). Er ist zutreffend davon ausgegangen, dass innerhalb dieses Fristenrahmens (§ 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) das Prüfprogramm, das das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 10.07.2012 (1 C 19.11, juris) zu § 11 AufenthG in der bis 31.07.2015 geltenden Fassung entwickelt hat, weiter zu beachten ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 81 unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 27.16 -, juris Rn. 23; Maor in: Kluth/Heusch, AuslR, 2. Aufl. 2021, § 11 Rn. 15, 21 ff.; Dollinger in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 11 Rn. 38; sowie oben unter A II 2). |
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| Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK, gemessen und ggf. relativiert werden. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles einer umfassenden Abwägung aller betroffenen Belange (BVerwG, Urteile vom 22.02.2017 - 1 C 27.16 -, juris Rn. 23 ff., und vom 22.02.2017- 1 C 3.16 -, juris Rn. 66). |
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| Der Ausländerbehörde ist keine Einschätzungsprärogative bei der im ersten Schritt zu leistenden Gefahrenprognose eingeräumt, hieran ändern auch die gesetzlichen Rahmenvorgaben zur Frist (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) nichts (näher Hoppe in: Dörig, Handbuch Migrations- u. Integrationsrecht, 2. Aufl., 2020, § 7 Rn. 149 ff.). Kontrolliert wird von Verwaltungsgerichten nach § 114 Satz 1 VwGO daher, ob der Bestimmung der Länge der Frist eine zutreffende Prognose der Wiederholungsgefahr zugrunde liegt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 82 ff.; VG München, Beschluss vom 23.09.2020 - M 24 S 20.3270 -, juris Rn. 57), was wiederum voraussetzt, dass die hierfür herangezogenen Tatsachengrundlagen vollständig und fehlerfrei sind. Eine Ermessensentscheidung ist grundsätzlich nur dann rechtmäßig, wenn die Behörde den entscheidungserheblichen und für eine sachgemäße Wahrnehmung der Letztverantwortlichkeit maßgeblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und in ihre Erwägungen eingestellt hat. Hat die Behörde wesentliche Umstände übersehen oder konnte sie diese noch nicht berücksichtigen und kommt es nicht zu einer Nachbesserung im gerichtlichen Verfahren nach § 114 Satz 2 VwGO oder werden erhebliche Punkte fehlgewichtet, führt dies wegen Ermessensdefiziten zur Rechtswidrigkeit der Ermessensentscheidung (Riese in: Schoch/Schneider, VwGO, § 114 Rn. 53 f. ; Wolff in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl.2018, § 114 Rn. 170 ff., 181 f.). In der Sache unterscheidet sich daher die Kontrolldichte des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes bei der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf der ersten Stufe im Ergebnis nicht signifikant von der Rechtslage, die vor dem 01.08.2015 galt, und bei der hinsichtlich der Fristlänge kein behördliches Ermessen bestand. |
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| Der Beklagte hat angenommen, dass auf der ersten Stufe ein Zeitraum von fünf Jahren erforderlich ist, damit dem Zweck der spezialpräventiven Gefahrenabwehr Rechnung getragen werden kann. Er ist hierbei zu Gunsten des Klägers davon ausgegangen, es werde prognostisch aufgrund des Alters noch eine Nachreifung eintreten. Ausgehend von der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr (siehe oben B I 2) lässt dies keinen Ermessensfehler zu Lasten des Klägers erkennen. |
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| Die auf der zweiten Stufe vorgenommene Reduzierung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots mit Blick auf die persönlichen Interessen des Klägers lediglich um sechs Monate ist nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat eingestellt, dass der Kläger durch seinen Bruder und dessen Familie einen sozialen Anknüpfungspunkt in Deutschland hat, er andererseits auch nicht zwingend auf die Unterstützung und Hilfe durch den Bruder angewiesen ist. Soweit die Prozessbevollmächtigte des Klägers beanstandet, die Ermessenserwägungen würden der besonderen Geschwisterbeziehung zu dem Bruder als einziger Bezugsperson, der Bedeutung des fast 13 Jahre älteren Bruders als „Vaterersatz“ nicht gerecht, ist zum einen schon nicht erkennbar, dass der ältere Bruder tatsächlich in einer vom Kläger akzeptierten Weise eine Art „Vaterrolle“ übernommen hätte, zum anderen lässt es keine Fehlgewichtung erkennen, wenn der Beklagte darauf abstellt, dass der Kläger als mittlerweile 22-jähriger, der sich schon vor seiner Inhaftierung nicht mehr regelmäßig im Haushalt seines Bruders aufgehalten und sich dessen Einfluss entzogen hat, selbstständig leben könne. Auch im Übrigen gibt es keine weiteren Tatsachen, deren Berücksichtigung zu Gunsten des Klägers sich aufdrängen würde. Entgegen der Auffassung der Prozessbevollmächtigen des Klägers ist die von ihr beschriebene desaströse Situation in Afghanistan kein Ermessensgesichtspunkt, der in die Entscheidung über die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots einzustellen wäre. Mit der Begrenzung der Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird schutzwürdigen Bindungen im Bundesgebiet Rechnung getragen. Die Festlegung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots intendiert aber nicht, dem Ausländer eine Perspektive einzuräumen, um der Situation im Heimatstaat erneut zu entkommen. |
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| Die Berufung bleibt daher auch mit dem Haupt- und Hilfsantrag der Klage hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots von viereinhalb Jahren ab Ausreise ohne Erfolg. |
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| Beschluss vom 15. April 2021 |
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| Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt. |
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| Der Beschluss ist unanfechtbar. |
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