Urteil vom Oberlandesgericht Köln - 7 U 146/20
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 06. Oktober 2020 (Az. 5 O 503/18) wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufung hat der Kläger zu tragen.
Das vorliegende und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung des vorliegenden und des angefochtenen Urteils durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages erbringen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Gründe
2I.
3Der Kläger nimmt das beklagte Land auf Zahlung von Schmerzensgeld i. H. v. 30.000,00 EUR sowie auf die Feststellung der Ersatzpflicht auch für zukünftige Schäden wegen behaupteter Amtspflichtverletzungen bei einem Polizeieinsatz in der klägerischen Wohnung am 12.08.2018 in Anspruch.
4In der Wohnung des Klägers gab es bereits am 07.05.2018 einen Polizeieinsatz. Dort kam es zur Anwendung unmittelbaren Zwangs, da der Kläger Widerstand gegen die Beamten geleistet hatte (s. Urteil des Senats im Parallelverfahren vom 14.04.2022, Az. 7 U 147/20, n.v.). Am 12.08.2018 erfolgte bei dem Kläger ein weiterer Einsatz. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in der Wohnung u.a. die Zeugin A, deren Kinder und die Tochter des Klägers. Im Rahmen dieser Durchsuchung kam es erneut zur Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen den Kläger, insbesondere wurde er gefesselt. Die näheren Umstände stehen zwischen den Parteien im Streit. Sowohl infolge des ersten als auch des zweiten Polizeieinsatzes gab es gegen den Kläger staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren. Wegen des Vorfalls vom 07.05.2018 wurde der Kläger – noch nicht rechtskräftig – wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt. Infolge des Einsatzes vom 07.05.2018 gab es ebenfalls Ermittlungsverfahren gegen die handelnden Polizeibeamten, die jedoch gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurden (vgl. Ermittlungsakte Staatsanwaltschaft Köln, Az. 83 Js 272/18).
5Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien, der gestellten Anträge sowie des Verfahrensgangs 1. Instanz wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Landgerichts Köln vom 06.10.2020, Bl. 155 ff. GA, Bezug genommen.
6Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen A, B C sowie D und E F. Wegen der Ergebnisse der Beweisaufnahme 1. Instanz wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 09.06.2020 (Bl. 140 ff. GA) und vom 15.09.2020 (Bl. 154 ff. GA) verwiesen.
7Mit Urteil vom 06.10.2020 hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagten zu 2) bis 9) hafteten bereits wegen der Haftungsüberleitung gemäß Art. 34 GG nicht. Ein direkter Anspruch gegen die handelnden Polizeibeamten bestehe deshalb nicht. Der Kläger habe zudem nicht beweisen können, dass die am Einsatz beteiligten Beamten ihre Amtspflichten verletzt hätten. Nach der Beweisaufnahme habe die Kammer nicht feststellen können, dass die Beamten rechtswidrig handelten. Der Kläger habe den weiteren von ihm behaupteten Geschehensablauf und insbesondere die behaupteten Amtspflichtverletzungen nicht bewiesen. Ein Anspruch aus § 67 PolG NW i. V. m. § 39 OBG NW bestehe auch nicht, da der Kläger den von ihm behaupteten Geschehensablauf und damit eine rechtswidrige polizeiliche Maßnahme nicht bewiesen habe.
8Mit der von ihm gegen das Urteil eingelegten Berufung macht der Kläger geltend, das Landgericht habe es unterlassen, die Rechtmäßigkeit der Amtshandlungen eingehend zu prüfen. Zudem habe das Landgericht die Darlegungs- und Beweislast verkannt. Aufgrund der Tatsache, dass das beklagte Land vorliegend in Grundrechte des Klägers eingegriffen habe, liege die Beweislast bei dem beklagten Land, nämlich dass die Handlungen seiner Bediensteten vom Gesetz gedeckt gewesen seien. Diese Voraussetzungen seien jedoch vom Landgericht nicht geprüft worden.
9Der Kläger beantragt sinngemäß,
10unter Abänderung des am 06.10.2020 verkündeten Urteils des Landgerichts Köln, Az. 5 O 503/18
111. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 30.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
122. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die dem Kläger anlässlich des Vorfalles vom 12.08.2018 noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergehen
133. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.564,46 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
14Die Beklagten beantragen,
15die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
16Sie verteidigen das angefochtene Urteil aus den ihrer Auffassung nach zutreffenden Gründen.
17Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen G, H, A, F und C. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 14.10.2021 (Bl. 234 ff. GA) und 10.02.2022 (Bl. 266 ff. GA) Bezug genommen. Die Ermittlungsakten 83 Js 272/18, 981 Js 1329/18, Fallakte 1, 989 Js 1330/18, Fallakte 2 StA Köln, die der Strafakte 523 Ds 319/19 AG Köln entsprechen, sowie die Akte im Verfahren 981 Js 1699/17 StA Köln (528 Cs 207/18 AG Köln), sind beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.
18II.
19Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Die nur teilweise zulässige Klage ist unbegründet.
201.
21Der Klageantrag zu 2), gerichtet auf Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden, ist bereits unzulässig.
22Gemäß § 256 Abs. 1 ZPO kann Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses erhoben werden, wenn der Kläger ein rechtliches Interesse daran hat, dass das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt werde. Die Feststellungsklage ist indes unzulässig, wenn es dem Kläger möglich und zumutbar ist, sogleich ein Urteil zu erwirken, aus dem auch vollstreckt werden kann, und wenn so dem Feststellungsinteresse genügt ist (Musielak/Voit/Foerste, 18. Aufl. 2021, ZPO § 256 Rn. 12). In Schadensfällen kommt es entscheidend darauf an, ob der Kläger die Schadenshöhe bereits insgesamt endgültig beziffern kann (MüKoZPO/Becker-Eberhard, 6. Aufl. 2020, ZPO § 256 Rn. 54). Gemessen hieran fehlt dem Kläger das von § 256 Abs. 1 ZPO geforderte Feststellungsinteresse. Er hat nicht dargetan, welche zukünftigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen ihm aus dem Handeln der Polizeibeamten vor nahezu vier Jahren noch drohen sollten. Bereits zu den behaupteten gegenwärtigen Schäden trägt er nichts vor. Soweit der Kläger sich auf S. 5 der Klageschrift (Bl. 5 GA) auf psychische Beeinträchtigungen stützt, ist dieses Vorbringen pauschal und mit keinerlei Tatsachenvortrag untermauert. Da der Feststellungsantrag mangels einer Haftung der Beklagten dem Grunde nach (s.u.) auch in der Sache keinen Erfolgt gehabt hätte, musste der Senat den Kläger auf seine Unzulässigkeit nicht gemäß § 139 ZPO hinweisen.
23Der teilweisen Abweisung als unzulässig in der Berufungsinstanz steht schließlich auch § 528 ZPO nicht entgegen. Das Berufungsgericht kann trotz der unterschiedlichen Rechtskraftwirkung eine in erster Instanz als unbegründet abgewiesen Klage als unzulässig abweisen und umgekehrt (Musielak/Voit/Ball, 18. Aufl. 2021, ZPO § 528 Rn. 18).
242.
25Die im Übrigen zulässige Klage ist unbegründet. Im Ergebnis richtig hat das Landgericht ausgeführt, dem Kläger stehe unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch gegen die Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld zu. Es besteht weder ein Anspruch gegen das beklagte Land aus § 839 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 34 GG oder aus § 67 PolG NW i. V. m. § 39 OBG NW oder aus § 831 bzw. §§ 823 Abs. 1, 31, 89 BGB noch gegen die Beklagten zu 2) bis 9) aus §§ 839 Abs. 1, 823 Abs. 1, Abs. 2 i. V. m. § 340 StGB. Das Handeln der Polizeibeamten war von den Bestimmungen des Polizeirechts, nämlich §§ 41 Abs. 1 Nr. 4, 42, 50 Abs. 1, 55 Abs. 1, 57 Abs. 1, 58 Abs. 1, 3 und 4, i. V. m. §§ 61 Abs. 1 S. 1, 62 S. 1 Nr. 1, 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NW gedeckt und somit rechtmäßig. Insbesondere haben die Polizeibeamten bei keiner der Einzelmaßnahmen und somit auch nicht bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen das Übermaßverbot verstoßen.
26Im Einzelnen:
27a.
28Wie das Landgericht zu Recht ausführt, besteht gegen die Beklagten zu 2) bis 9) bereits deshalb kein Anspruch, weil Art. 34 GG eine Eigenhaftung der handelnden Beamten ausschließt. Es ist zwar zutreffend, dass in bestimmten Fällen die Eigenhaftung des Beamten gemäß § 839 Abs. 1 BGB fortbestehen kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Beamte nicht „in Ausübung eines öffentlichen Amtes“ handelt. Damit ist jede Tätigkeit des Amtswalters von der befreienden Haftungsübernahme des Art. 34 GG ausgenommen, die sich als Wahrnehmung privatrechtlicher Belange des öffentlichen Dienstherrn darstellt (MüKoBGB/Papier/Shirvani, 8. Aufl. 2020, BGB § 839 Rn. 174). Vorliegend stellen sich das Betreten der Wohnung, die Fesselung und die Ingewahrsamnahme durch die Beklagten zu 2) bis 9) jedoch materiell als polizeiliche Standard- und Zwangsmaßnahmen und somit als hoheitsrechtliche Tätigkeit dar. Die Beklagten zu 2) – 9) übernahmen damit im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Aufgabe. Ob die Voraussetzungen eines polizeilichen Einschreitens vorgelegen haben und die bei solchen Maßnahmen zu beachtenden rechtlichen Grenzen gewahrt worden sind, ist für die Einordnung der getroffenen Maßnahme als Akt der öffentlichen Gewalt unerheblich. Eine Haftung aus §§ 823 ff. BGB kommt daneben nicht in Betracht, da § 839 BGB als lex specialis die Anwendung des allgemeinen Deliktsrechts ausschließt (MüKoBGB/Papier/Shirvani, 8. Aufl. 2020, BGB § 839 Rn. 175). Schließlich waren die Beklagten zu 4) bis 6) nach mittlerweile unstreitigem Vortrag der Parteien nicht einmal am Einsatz beteiligt, so dass ein Anspruch gegen sie auch aus diesem Grunde ausscheidet. Schließlich ergeben sich, wie das Landgericht richtig ausführt, auch aus der beigezogenen Akte der Staatsanwaltschaft Köln Az. 981 Js 1330/18, keine Anhaltspunkte für eine Beteiligung der Beklagten zu 7) bis 9) an diesem Einsatz.
29b.
30Auch eine Haftung des beklagten Landes aus den vorgenannten Vorschriften scheidet aus. Das Handeln der am Einsatz beteiligten Polizeibeamten war rechtmäßig.
31aa.
32Rechtsfehlerhaft ist allerdings im Ausgangspunkt die Auffassung des Landgerichts, die Darlegungs- und Beweislast für die Rechtswidrigkeit des Handelns der Polizeibeamten obliege dem Kläger. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Tatbestandsvoraussetzungen der herangezogenen polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlagen. Grundsätzlich findet für den Amtshaftungsprozess die allgemeine Beweislastregel Anwendung, wonach den Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast für die rechtsbegründenden und den Anspruchsgegner diejenige für die rechtsvernichtenden, rechtshindernden oder rechtshemmenden Tatbestandsmerkmale trifft (NK-BGB/Hans Steege/Christof Muthers, 4. Aufl. 2021, BGB § 839 Rn. 392). Anderes gilt allerdings bei einem Eingriff in die Schutzgüter des Art. 2 und des Art. 14 GG durch die handelnden Beamten. Da die nach dem allgemeinen Deliktsrecht (§§ 823 ff.) bestehenden Eingriffsverbote auch bei Ausübung öffentlicher Gewalt gelten, begründet jeder Eingriff in die vorgenannten Schutzgüter eine Amtspflichtverletzung, es sei denn, spezifisch verwaltungsrechtliche Rechtfertigungsnormen, wie etwa die Vorschriften über die Verwaltungsvollstreckung und über den unmittelbaren Zwang, stehen den Beamten zur Seite. In diesen Fällen trägt die beklagte Körperschaft die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen des Ausschlusses der Widerrechtlichkeit durch Notstandstatbestand oder Sonderrecht (Johlen/Oerder, MAH Verwaltungsrecht, Teil C. Das Besondere Verwaltungsrecht in der anwaltlichen Praxis § 18 Das Mandat im Staatshaftungsrecht Rn. 141, beck-online; MüKoBGB/Papier/Shirvani, 8. Aufl. 2020, BGB § 839 Rn. 255).
33Vorliegend haben die Polizeibeamten jedenfalls in die Schutzgüter des Klägers gemäß Art. 2 GG eingegriffen. Die Parteien haben übereinstimmend vorgetragen, dass die Polizeibeamten die Wohnung des Klägers ohne dessen Willen durchsucht haben und die Beamten den Kläger aufforderten, ihnen Zutritt zu den weiteren Räumen nach dem Flur zu gewähren. Auch kam es unstreitig zur Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen den Kläger, in dem dieser u.a. unter punktuellen Stößen mittels eines Schlagstocks gegen seinen Willen zu Boden gebracht und gefesselt wurde. Demnach oblag es dem in die geschützten Grundrechtsgüter des Klägers engreifenden beklagten Land, das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlagen zu beweisen.
34(1)
35Das Betreten und anschließende Durchsuchen der Wohnung ohne den Willen des Klägers war gemäß § 41 Abs. 1 S. 1, jedenfalls Nr. 4 PolG NW i. V. m. § 42 Abs. 1 S. 1 PolG NW rechtmäßig .
36Gemäß § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 PolG NW kann die Polizei eine Wohnung ohne Einwilligung des Inhabers betreten und durchsuchen, wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Sachen von bedeutendem Wert erforderlich ist. Gefahr meint einen Zustand, bei dem geschützten Rechtsgütern der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung belastende Folgen drohen (BeckOK PolR NRW/Worms/Gusy, 20. Ed. 1.12.2021, PolG NRW § 8 Rn. 98). Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn eine Beeinträchtigung der geschützten Schutzgüter unmittelbar bevorsteht oder bereits begonnen hat. Die Gefahrenlage ist aus ex-ante Sicht zu beurteilen, sodass eine sog. Anscheinsgefahr ausreichend ist. Eine Anscheinsgefahr liegt vor, wenn der handelnde Beamte aus der ex-ante-Sicht mit Blick auf die ihm zur Verfügung stehenden Informationen aufgrund hinreichender Anhaltspunkte vom Vorliegen einer Gefahr ausgehen konnte und diese Prognose dem Urteil eines fähigen, besonnenen und sachkundigen Amtswalters entspricht (BeckOK PolR NRW/Worms/Gusy, 20. Ed. 1.12.2021, PolG NRW § 8 Rn. 102).
37Unstreitig gab es in der Wohnung des Klägers lautstarken Lärm, wobei der genaue Umfang zwischen den Parteien im Streit steht. Nach dem Ergebnis der informatorischen Anhörung der Parteien im Termin vom 14.10.2021 sowie der Auswertung der beigezogenen Akten und der Zeugenaussagen in der durch den Senat wiederholten Beweisaufnahme ist der Senat im Sinne von § 286 ZPO davon überzeugt, dass aus der Wohnung des Klägers besonders laute Schreie zu hören waren, die den Eindruck einer gegenwärtigen Gefahrenlage für Leib oder Leben von Personen erweckten. § 286 ZPO verlangt zur Überzeugungsbildung ein Maß an persönlicher Gewissheit, welches Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022, § 286 ZPO, Rn. 17 ff.).
38Diese Überzeugung stützt sich zunächst auf den Sachvortrag des Beklagten zu 3) und den eigenen Vortrag des Klägers. Der Beklagte zu 3), informatorisch angehört, gab an, er und seine Kollegen seien aufgrund einer Meldung über „Streit in einem Haus“ tätig geworden. Dort angekommen, sei er von Nachbarn sehr dringlich auf die Wohnung hingewiesen worden, woraus er sehr lautes Geschrei gehört habe. Es habe so geklungen, als sei häusliche Gewalt im Gange gewesen. Dieses Vorbringen steht im Einklang mit dem eigenen Vortrag des Klägers, wonach sich am fraglichen Tag gegen 11:30 h neben den Kindern der Zeugin A auch die Tochter des Klägers und Freunde seines Sohnes in der Wohnung befunden hätten. Die Kinder seien wegen geplanter Freizeitaktivitäten aufgeregt gewesen und hätten sich - so wörtlich (S. 1 d. Schriftsatzes vom 17.09.2019, Bl. 100 GA) – „sehr lautstark“ verhalten und auch untereinander gestritten (Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 14.10.2021, Bl. 238 GA).
39Diese Angaben stimmen des Weiteren mit dem Inhalt der beigezogenen Ermittlungsakte Az. 981 Js 1330/18 überein, wonach Nachbarn lautstarke Streitigkeiten gemeldet hatten, die die Beamten ebenfalls vor der Wohnung vernehmen konnten.
40Übereinstimmend dazu haben auch die Zeuginnen G und H bekundet, besonders lautes Geschrei aus der Wohnung vernommen zu haben. Dabei habe die Zeugin G auch Kindergeschrei gehört. Der Senat hat keinen Anlass, insbesondere vor dem Hintergrund des eigenen Vortrags des Klägers an der Glaubhaftigkeit dieser Aussagen zu zweifeln. Insbesondere waren die Darstellungen der Zeuginnen sachlich, in sich schlüssig und widerspruchsfrei.
41Auf der Grundlage dieser tatsächlichen Feststellungen über das aus der Wohnung des Klägers dringende (Kinder-)Geschrei durften die handelnden Polizeibeamten rechtsfehlerfrei von einer drohenden unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben von Personen in der Wohnung des Klägers ausgehen.
42Die Durchsuchung der Wohnung des Klägers ist auch nicht bereits wegen eines Verstoßes gegen den Richtervorbehalt rechtswidrig. Die Beamten haben die Vorschriften über das Verfahren bei der Durchsuchung der klägerischen Wohnung beachtet, vgl. § 42 PolG NW.
43Gem. § 42 Absatz 1 PolG NW i. V. m. Artikel 13 Absatz 2 GG dürfen gegen den Willen des Berechtigten Durchsuchungen von Wohnungen außer bei Gefahr im Verzuge nur durch den Richter angeordnet werden.
44Vorliegend hat das beklagte Land nicht dargelegt, versucht zu haben, einen Durchsuchungsbeschluss des zuständigen Amtsgerichts einzuholen. Vor dem Hintergrund der nicht zu beanstandenden Annahme von Gefahr im Verzuge führt dies jedoch nicht zur Rechtswidrigkeit der Durchsuchung. Gefahr im Verzug liegt vor, wenn in zeitlich dringenden Ausnahmefällen Maßnahmen sofort durchzuführen sind, weil andernfalls ein nicht mehr wiedergutzumachender Schaden eintreten würde oder zumindest wahrscheinlich wird. Die Annahme muss sich aus Tatsachen ergeben, die auf den Einzelfall bezogen sind. Reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Erfahrung gestützte, fallunabhängige Vermutungen reichen nicht aus. Demnach muss eine gegenwärtige Gefahr vorliegen (BVerfG, Urteil vom 20. 2. 2001 - 2 BvR 1444/00, NJW 2001, 1121, beck-online).
45Die aus der ex-ante Sicht der handelnden Beamten zu beurteilende Sachlage rechtfertigte die Annahme einer unmittelbar bevorstehenden und damit gegenwärtigen Gefahr bzw. einer schon eingetretenen Störung für ein bedeutsames Rechtsgut, die ein weiteres Zuwarten nicht zuließ. Wie vorstehend dargelegt vermittelte das laute Geschrei den Eindruck einer Eskalation und ließ den Schluss auf häusliche Gewalt zu. Insbesondere war auch Kindergeschrei zu hören, weshalb ein Zuwarten dem Zweck der effektiven Gefahrenabwehr gerade zugunsten wehrloser Personen zuwidergelaufen hätte. Dass, wie sich im Nachhinein herausstellte, tatsächlich keine Gefahr für Leib bzw. Leben bestand, ist unerheblich. Maßgeblich war lediglich die ex-ante Sicht der Beamten im Zeitpunkt der Entscheidung, die Durchsuchung vorzunehmen.
46Schließlich steht zur Überzeugung des Senats im Sinne des § 286 ZPO fest, dass die Beamten entgegen der Behauptung des Klägers § 42 Abs. 3 PolG NW beachtet haben. Nach dieser Vorschrift ist dem Wohnungsinhaber oder seinem Vertreter der Grund der Durchsuchung unverzüglich bekannt zu geben, soweit dadurch der Zweck der Maßnahmen nicht gefährdet wird. Der Beklagte zu 3) erklärte im Rahmen seiner informatorischen Anhörung, er könne zwar nicht mehr genau sagen, was die Beamten dem Kläger an der Tür gesagt hätten. Jedoch habe es Nachfragen zum Thema Lärm gegeben, wozu der Kläger sich nicht eingelassen habe. Die Zeugin G hat zudem bekundet, es sei an der Tür mit dem Kläger darüber gesprochen worden, es habe Krach und Schreie gegeben und die Beamten hätten klären müssen, ob alles in Ordnung sei. Die Aussage der Zeugin G ist glaubhaft, insbesondere nachvollziehbar und ohne logische Brüche. Die Aussage der Zeugin G wird zudem durch die Zeugin A bestätigt, die ebenfalls bekundete, die Beamten hätten an der Tür mit dem Kläger gesprochen und ihm Fragen gestellt.
47(2)
48Die sich anschließende Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen den Kläger und dessen in diesem Rahmen erfolgte Fesselung war ebenfalls rechtmäßig, da diese Handlungen von §§ 50 Abs. 1, 55 Abs. 1, 57 Abs. 1, 58 Abs. 1, 3 und 4 i. V. m. §§ 61 Abs. 1 S. 1, 62 S. 1 Nr. 1 PolG NW gedeckt waren.
49Gemäß § 50 Abs. 1 PolG NW kann der Verwaltungsakt, der auf die Vornahme einer Handlung oder Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden, wenn er unanfechtbar ist oder wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Nach § 55 Abs. 1 S. 1 PolG NW kann die Polizei unmittelbaren Zwang anwenden, wenn andere Zwangsmittel nicht in Betracht kommen oder keinen Erfolg versprechen oder unzweckmäßig sind.
50Der Senat ist anhand der informatorischen Anhörung des Beklagten zu 3), der Bewertung des Inhalts der beigezogenen Ermittlungs- und Strafakten sowie der Vernehmung der Zeugin A davon überzeugt, dass der Kläger gegen die Durchsuchung und die Anordnungen der Beamten erheblichen Widerstand geleistet hat, sodass die Anwendung unmittelbaren Zwangs erforderlich war.
51Der Beklagte zu 3) hat angegeben, der Kläger sei immer wieder mit verschränkten Armen auf ihn zugegangen und habe praktisch Stirn an Stirn den körperlichen Kontakt gesucht. Trotz Aufforderung, dies zu unterlassen, habe er die Provokation fortgesetzt. Er habe auch gesagt, ihm hätten die Beamten nichts zu sagen, er sei nur gottesfürchtig. Der Beklagte zu 3) habe anhand der Körperhaltung des Klägers nicht ausschließen können, dass es zu einem Kopfstoß kommen würde. Diese Angaben sind kongruent zu dem Inhalt des im Anschluss an den Vorfall verfassten Einsatzbericht in der Beiakte Az. 981 Js 1330/18. Dort heißt es ebenfalls bereits, der Kläger habe die angemessene körperliche Distanz zu den Beamten deutlich unterschritten. Der Beklagte zu 3) habe ihn mehrfach aufgefordert, Abstand zu halten und mit der flachen Hand gegen die Brust zurückgedrückt, jedoch vergeblich.
52Der Senat sieht keinen Anlass, an der inhaltlichen Richtigkeit dieses Sachvortrags zu zweifeln. Insbesondere hat auch die vom Kläger benannte Zeugin A dazu übereinstimmend bekundet, der Kläger habe die Beamten angeschrien und beleidigt. Zu einer Polizistin habe er gesagt, sie sei hässlich. Er sei aggressiv gewesen und habe gesagt, die Beamten dürften nicht in seine Wohnung. Die Aussagen der Zeugin A waren glaubhaft, insbesondere erkannte der Senat keine logischen Brüche oder einseitige Belastungstendenzen, auch wenn die Zeugin A teilweise das provokative Verhalten des Klägers kritisiert hat. Schließlich hat auch der Zeuge F bekundet, der Kläger habe die Beamten nicht reinlassen wollen und zu ihnen gesagt, sie hätten kein Recht, seine Wohnung zu betreten. Die Schilderung der aggressiven Grundhaltung des Klägers gegenüber den Beamten steht schließlich im Einklang mit dem sich auch aus dem weiteren Verfahren vor dem Senat (vgl. Urteil vom 14.04.2022, Az.: 7 U 147/20) ergebenden Persönlichkeitsbild des Klägers, der die Polizei als Sachwalter des säkularen Staates ablehnt und sich allein Gott verpflichtet sieht.
53An der Überzeugung des Senats von dem Geschehensablauf konnten auch die – im Wesentlichen hierzu unergiebigen – Angaben der Zeuginnen G und H nichts ändern. Diese waren während der Fixierung im Wohnzimmer mit den übrigen Bewohnern beschäftigt und hatten deshalb die Geschehnisse um den Kläger selbst nicht unmittelbar wahrgenommen.
54Somit steht fest, dass der Kläger den gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr.2 VwGO sofort vollziehbaren Anordnungen der Beamten, Abstand zu halten und ihnen die Durchsuchung zu ermöglichen i. S. d. § 50 Abs. 1 PolG NW nicht Folge leistete. Aufgrund des aggressiven Verhaltens des Klägers durften die Beamten nicht davon ausgehen, der Kläger würde ihre Anordnungen schließlich doch befolgen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass der Kläger auch nach Vortrag des beklagten Landes die Arme vor der Brust verschränkt hatte und dementsprechend nicht mit zum Schlag erhobenen Armen oder zum Tritt ansetzend auf den Beklagten zu 3) zukam. Nach übereinstimmender Schilderung des Beklagten zu 3) und der Zeugin A war das Verhalten des Klägers gegenüber den Polizeibeamten aggressiv, so dass der Beklagte zu 3) bereits das ganz offensichtlich in provokativer Absicht erfolgte stete Unterschreiten der Schlag- bzw. Kopfstoßdistanz durch den Kläger im Interesse der Eigensicherung nicht dulden musste.
55Außerdem handelte es sich bei der Aufforderung, Abstand zu halten und die – damit ebenfalls konkludent ausgesprochene Anordnung, die Durchsuchung zu ermöglichen – um unvertretbare Handlungen, sodass andere Zwangsmittel i. S. d. § 55 Abs. 1 S. 1 Var. 1 PolG NW nicht in Betracht kamen. Rechtliche Bedenken gegen die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwangs bestehen ebenfalls nicht. Insbesondere hält der Senat für bewiesen, dass die Beamten die Fixierung angedroht haben. Des Weiteren begegnet der Einsatz des Schlagstocks keinen Bedenken.
56Der Beklagte zu 3) erklärte in seiner informatorischen Anhörung, ebenfalls in Übereinstimmung mit dem Einsatzbericht, die Fixierung in Gemäßheit des § 61 Abs. 1 S. 1 PolG NW angedroht zu haben, wenn der Kläger nicht mehr Distanz wahre. An der Richtigkeit dieser Angabe zweifelt der Senat nicht. Es ist lebensnah, dass der Beklagte zu 3), der glaubhaft und nachvollziehbar schilderte, sich vom Kläger erheblich körperlich bedrängt gefühlt zu haben, diesen mindestens sinngemäß aufforderte, Distanz zu wahren und ihm im Falle der Nichtbefolgung Konsequenzen androhte. So wird auch in dem zeitnah zum Vorfall verfassten polizeilichen Einsatzbericht vom 12.08.2018 ausgeführt, dass der PK I den Kläger mit den Worten warnte: „Halten Sie Abstand, gehen Sie zurück, kommen Sie noch einmal zu nahe, fixiere ich Sie“. Insoweit, als der Kläger die vorherige Androhung bestritten hat (vgl. S. 6 der Berufungsbegründung), konnte er den ihm obliegenden Gegenbeweis nicht führen und die Überzeugung des Senats nicht erschüttern.
57Schließlich waren der unstreitige Schlagstockeinsatz von § 58 Abs. 1 und 4 PolG NW und die Fesselung von § 58 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 62 S. 1 Nr. 1 Var. 2 PolG NW gedeckt. Der Schlagstock ist eine gemäß § 58 Abs. 4 PolG NW zugelassene Waffe. Der Fesselung, die nach der Fixierung des Klägers auf dem Boden erfolgte und mithin während dieser nach § 62 PolG NW „festgehalten“ wurde, lag die berechtigte Annahme der Beamten zugrunde, der auch nach den Bekundungen der Zeugin A aggressiv auftretende Kläger würde weiterhin Widerstand gegen die Beamten leisten.
58Die Fixierung unter dem Schlagstockeinsatz und die Fesselung stellen sich unter Zugrundelegung der vom Senat für erwiesen erachteten Umstände zudem als erforderlich und angemessen im engeren Sinne dar. Den Beamten war vor dem Hintergrund einer effektiven Gefahrenabwehr nicht zumutbar, das weitere aggressive Vorgehen des Klägers zuzulassen und ggf. eine körperliche Auseinandersetzung hinzunehmen. Entgegen dem Vortrag des Klägers nahmen die Beamten ihn nicht „blitzartig“ und grundlos in den Schwitzkasten. Vielmehr hatte der Kläger durch verbale Provokationen und bedrohliche Körperhaltung zum Ausdruck gebracht, er scheue sich nicht vor einer Eskalation. Umstände, die eine unangemessene Beeinträchtigung des Klägers bei dem Einsatz begründen würden, sind ansonsten vom Kläger nicht dargelegt worden. Insbesondere war in Anbetracht des gemeldeten erheblichen Geschreis aus der Wohnung und des hierdurch suggerierten Gefahrenpotentials die Hinzuziehung mehrerer Beamter sowohl bei der Durchsuchung als auch bei der Fixierung nicht unverhältnismäßig. Denn nur ein dezidierter, arbeitsteiliger Einsatz konnte den aufgrund des Lärms zu erwartenden Tumult schnell und effektiv beenden und etwaige drohende Gefahren sicher abwenden.
59Die Beamten haben im Zuge der Fixierung und Fesselung auch nicht gegen das Übermaßverbot verstoßen. Insoweit war der Kläger darlegungs- und beweisbelastet. Ist die Polizei dem Grunde nach zur Ausübung unmittelbaren Zwangs in einer konkreten Einsatzsituation berechtigt und wird dadurch der Betroffene verletzt, so muss dieser beweisen, dass die Polizei bei der Anwendung des unmittelbaren Zwangs amtspflichtwidrig das von ihr unabhängig von §§ 57 ff. PolG NW zu beachtende Übermaßverbot verletzt hat (OLG Schleswig Urt. v. 11.11.2021 – 11 U 29/20, BeckRS 2021, 34373, Rn. 24, beck-online; OLG Hamm, Urteil vom 29. September 1995 – 11 U 118/94 –, Rn. 38 ff., juris). Diesen ihm obliegenden Beweis konnte der Kläger nicht erbringen, insbesondere konnte er die von den Beklagten bestrittenen Behauptungen, die Beamten hätten ihn grundlos und mit voller Wucht mit Schlagstock und Tritten geschlagen und ihn für mehrere Minuten an die Wand gedrückt, nicht beweisen.
60Die Zeugin A, die aggressives Verhalten des Klägers bestätigt hat, konnte keine Umstände schildern, die einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begründen könnten. Insbesondere hat sie keine Verletzungen gesehen, die zumindest indiziell den Vortrag des Klägers stützen würden. Auch der Zeuge F konnte den Vortrag des Klägers nicht stützen. Im Wesentlichen war seine Aussage unergiebig, auch er hatte keine Verletzungen wahrgenommen. Schließlich war die Aussage der Zeugin C ebenfalls unergiebig. Sie konnte gar nichts zu den Einsatzumständen sagen, da sie sich überwiegend in einen anderem Zimmer aufhielt.
61(3)
62Die Voraussetzungen für die Ingewahrsamnahme des Klägers gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NW waren ebenfalls erfüllt, die Ingewahrsamnahme also rechtmäßig. Nach § 35 Abs.1 Nr. 2 PolG NW kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern. Diese durch den Gewahrsam zu verhindernden Delikten stellen die Gefahr im Sinne des polizei- und ordnungsrechtlichen Gefahrenbegriffs dar, also eine Sachlage, die bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit Wahrscheinlichkeit ein polizeilich geschütztes Rechtsgut schädigen wird. Ausgehend von der objektiv und ex-ante vorzunehmenden Prognose des weiteren Geschehensablaufs kann auch in Fällen der sog. Anscheinsgefahr – also bei einer unter Beachtung üblicher Prognoseregeln zu Recht erfolgten Annahme einer Gefahr, hinsichtlich derer sich bei einer ex-post-Betrachtung allerdings herausstellt, dass tatsächlich eine Gefahr nie vorgelegen hat– eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit i. S. v. § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NW bevorstehen (BeckOK PolR NRW/Basteck, 21. Ed. 1.3.2022, PolG NRW § 35 Rn. 38). Unerlässlich ist eine Ingewahrsamnahme als äußerstes Mittel der Gefahrenabwehr nicht bereits, wenn sie mangels milderer Mittel mit gleicher Eignung erforderlich ist, sondern nur dann, wenn die Gefahrenabwehr nur auf diese Weise möglich und nicht durch eine andere Maßnahme ersetzbar ist, die Freiheitsentziehung sich also als das äußerste bzw. letzte Mittel zur Verhinderung von Schäden darstellt (BeckOK PolR NRW/Basteck, 21. Ed. 1.3.2022, PolG NRW § 35 Rn. 47).
63Aufgrund des erheblichen Widerstands des Klägers und seiner Aggressivität war zum Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme die Annahme gerechtfertigt, der Kläger würde, wenn er in der Wohnung zurückgelassen würde, ggf. Straftaten begehen. Wie vorstehend dargelegt, bestand zum Zeitpunkt des Einschreitens eine gegenwärtige (Anscheins)Gefahr in Verzug. Das klägerische Verhalten nach Eintreffen der Beamten ließ befürchten, dieser könnte nach deren Abgang ggf. zu Lasten der anderen Mitbewohner Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter begehen. Daran ändert nichts, dass bis dahin keine Straftaten zulasten der anderen Anwesenden festgestellt worden waren. Nach dem Eintreffen der Beamten war die Lage erneut eskaliert und begründete aufgrund der ersichtlichen Aggression des Klägers eine neue (Anscheins)Gefahr. Ob die Beamten den Kläger als milderes Mittel zur Ingewahrsamnahme aufgefordert hatten, die Wohnung zu verlassen, konnte auch nach informatorischer Anhörung des Beklagten zu 3) nicht geklärt werden. Jedoch war die Ingewahrsamnahme nicht deshalb „nicht unerlässlich“. Denn aufgrund seines aggressiven und durchgehend unkooperativen Verhaltens war nicht zu erwarten, dass der Kläger die Wohnung verlassen würde. Nach den auch insoweit glaubhaften Bekundungen des Beklagten zu 3) wiederholte der Kläger allein, dass er nur gottesfürchtig sei, ohne den Aufforderungen der Polizeibeamten Folge zu leisten.
64Insofern, als der Kläger auf den Beschluss des Amtsgerichts Köln, Az. 507 a XIV (L) 238/18 (Bl. 38 GA) gemäß § 36 PolG NW verweist, rechtfertigt die dortige Entscheidung keine andere rechtliche Beurteilung. Denn dieser Beschluss bezieht sich allein auf das Vorliegen der Voraussetzungen für eine „weitere Freiheitsentziehung“. Nur diese wird als unzulässig tenoriert. Es ist im Übrigen nicht rechtlich zu beanstanden, dass die Beamten die weitere Freiheitsentziehung ursprünglich beabsichtigten, auch wenn diese sich als unzulässig erwies. Denn die Beantragung einer Entscheidung und die anschließende Freilassung entsprachen § 36 PolG NW.
65Den Vortrag des Klägers, die Beamten hätten zu ihm gesagt, der Einsatz sei eine Vergeltungsmaßnahme und dass diese ihn im Polizeiwagen geschlagen hätten, hat das beklagte Land bestritten. Ein Beweisantritt seitens des hierfür darlegungs- und beweisbelasteten Klägers fehlt (vgl. Bl. 4 GA).
66c.
67Eine Haftung des beklagten Landes nach den § 67 PolG i. V. m. § 39 Abs. 1 b) OBG NW, §§ 831 bzw. 823, 31, 89 BGB scheidet ebenfalls aus, da es an der Rechtswidrigkeit des Einsatzes fehlt. Im Übrigen kommt eine Haftung des Staates aus § 831 bzw. § 823 BGB neben dem – grundsätzlich abschließenden § 839 BGB i.V.m Art 3 GG – nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht. Ein derartiger Ausnahmefall ist hier unter keinem Gesichtspunkt ersichtlich (vgl. NJW 1996, 3208, beck-online; Geigel Haftpflichtprozess, Kap. 20 Haftung für Amtspflichtverletzungen Rn. 243, beck-online; Johlen/Oerder, MAH Verwaltungsrecht, Teil C. Das Besondere Verwaltungsrecht in der anwaltlichen Praxis § 18 Das Mandat im Staatshaftungsrecht Rn. 148, beck-online).
683.
69Mangels Hauptforderung besteht auch kein Anspruch auf Erstattung der Rechtsanwaltskosten.
70III.
71Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
72Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Der Senat hat die Sache allein unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles entschieden.
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- § 58 Abs. 1 und 4 PolG 1x (nicht zugeordnet)
- § 62 S. 1 Nr. 1 Var. 2 PolG 1x (nicht zugeordnet)
- § 58 Abs. 4 PolG 1x (nicht zugeordnet)
- § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG 1x (nicht zugeordnet)
- § 35 Abs.1 Nr. 2 PolG 1x (nicht zugeordnet)
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